Rezension über:

Natali Stegmann: Die Töchter der geschlagenen Helden. "Frauenfrage", Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919 (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien; Bd. 11), Wiesbaden: Harrassowitz 2000, X + 283 S., ISBN 978-3-447-04244-4, EUR 46,00
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Rezension von:
Dietlind Hüchtker
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Dietlind Hüchtker: Rezension von: Natali Stegmann: Die Töchter der geschlagenen Helden. "Frauenfrage", Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919, Wiesbaden: Harrassowitz 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/3212.html


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Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Natali Stegmann: Die Töchter der geschlagenen Helden

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Natali Stegmann beschäftigt sich in dem auf ihrer Dissertation beruhenden Buch mit der Entwicklung der polnischen Frauenbewegung vom Aufstand von 1863 bis zur Wiedererrichtung des polnischen Staats. Sie definiert Feminismus als "weibliche Befreiungsideologie mit einem allgemein egalitären Anspruch", das heißt, sie konzentriert ihre Untersuchung auf diejenigen Akteurinnen, diejenige Publizistik und diejenigen Organisationen, für die die Ungleichheit der Geschlechterverhältnisse Anlass zur Forderung nach spezifischen Frauenrechten war, das heißt Gleichberechtigungs-, Bildungs- und Berufsforderungen, wie sie für das 19. Jahrhundert auch in anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern kennzeichnend waren.

Die Verfasserin will den "sozialen Ort" der Frauenbewegung "unter Berücksichtigung der Lebenszusammenhänge ihrer Akteurinnen" herausarbeiten, um so den spezifischen Bedingungen einer Politik in einer "Nation ohne Staat" gerecht zu werden. Daher versteht sie ihren Gegenstand als soziale Bewegung und misst die Frauenbewegung nicht nur am Organisationsgrad, sondern auch an inhaltlichen Positionen und ihrer Kultur. Dieser aus den Forschungen zu westlichen Frauenbewegungen übernommene Ansatz erweist sich für die polnische Frauenbewegung trotz anderer Bedingungen als ebenso fruchtbar. Stegmann untersucht alle drei Teilungsgebiete: die preußische Provinz Posen, das österreichische Galizien und das russische Teilungsgebiet, also das Königreich Polen sowie die westlichen Gouvernements des Russischen Reichs, wobei sich die Aktivitäten der polnischen Feministinnen auf das Königreich, vor allem auf Warschau, sowie auf Lemberg und Krakau in Galizien konzentrierten. In der Provinz Posen kam es nach der obigen Definition nicht zu einer feministischen Bewegung, weshalb die dortigen Frauenaktivitäten in einem Exkurs abgehandelt werden und nur gelegentlich Erwähnung finden können.

Die Arbeit behandelt zunächst die sozialen, kulturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen der drei Teilungsgebiete und anschließend die Entstehungsphase der Frauenbewegung (1890-1905), die sich als Bildungsbewegung charakterisieren lässt, sowie die Werdegänge einzelner besonders bedeutender Feministinnen, die Einblick in die Bedingungen einer feministischen Politisierung bieten. Die Phase 1905-1912 untersucht Stegmann als Phase der Formierung der Frauenbewegung, in der Vereine mit Forderungen nach politischer Gleichberechtigung sowie Berufsverbände in die Öffentlichkeit treten. Unter dem Stichwort "Umgang mit dem Geschlechterdualismus" wird die Sittlichkeitsdebatte der Frauenbewegung analysiert. Im letzten Kapitel liegt das Augenmerk auf den Zusammenhängen von Krieg, Staatsgründung und politischer Gleichberechtigung.

Stegmann korrigiert die allgemein verbreitete Ansicht, die Ideen des Warschauer "Positivismus", eines fortschrittsorientierten, liberalen Intellektuellenzirkels, seien eine Grundvoraussetzung für die polnische Frauenbewegung gewesen. Vielmehr sieht sie die Entstehungsbedingungen allgemeiner in dem nachaufständischen Versorgungs-, Macht- und Orientierungsvakuum eines geteilten Staates verankert. Sie stellt die These auf, dass sich die polnischen Feministinnen in den entstehenden Machtstrukturen ihren Platz suchten, wozu auch eine in später verfassten Erinnerungen nicht mehr erwähnte antisemitische Boykottcampagne von 1912 beitrug. Das 1919 im neuen Polen eingeführte Frauenwahlrecht sieht Stegmann als ein Symbol für eine gemeinsame Inbesitznahme des Staates durch polnische Frauen und Männer.

Mit ihrem Buch behandelt Stegmann ein wichtiges Kapitel der Frauen- und der polnischen Geschichte. Besonders hervorzuheben sind ihre Überlegungen zur Verbindung von Nationalismus und Feminismus, deren Wechselwirkungen sie in den verschiedenen Phasen der Frauenbewegung zu erklären sucht. Die doppelte Einordnung der Bewegung sowohl in einen europäischen Kontext von Frauenbewegungen als auch in den Kontext der polnischen Geschichte trägt zu einem erweiterten Verständnis der europäischen Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts bei. Insgesamt liegt eine interessante und gedanklich innovative Arbeit vor, der eine breite Rezeption nicht nur vonseiten der Frauenforschung zu wünschen ist.

Dietlind Hüchtker