Rezension über:

Steffi Roettgen (Hg.): Mengs. Die Erfindung des Klassizismus, München: Hirmer 2001, 372 S., 38 Farb-, 152 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-9080-9, EUR 41,00
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Rezension von:
Gabriele Oberreuter
Brühl
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Oberreuter: Rezension von: Steffi Roettgen (Hg.): Mengs. Die Erfindung des Klassizismus, München: Hirmer 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/3459.html


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Steffi Roettgen (Hg.): Mengs

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Mengs gilt als Anverwandler der Malerei des römischen Spätbarock zum Klassizismus, als gebildeter, antiquarisch interessierter Künstler, dessen Verehrung Raffaels sich programmatisch bereits in seinem Namen ausdrückt - und der in seiner amalgamierenden Emphase auch Correggios Liebreiz aufzunehmen bemüht ist. In seiner Mischung aus kunsthistorischem und archäologischem Respekt, dem Ehrgeiz, theoretische Weichen für die Entwicklung der Künste zu entwerfen, entspricht er so recht dem Bedürfnis seiner Zeit, neue Perspektiven für die Künste zu propagieren. Mit dem Deckenbild in der Villa Albani von 1761 wird man später seine Kunst als Initialzündung eines neuen Stils, des Klassizismus, definieren.

In der europaweiten Suche nach neuer künstlerischer Orientierung billigt man ihm widerspruchslos die Rolle des Impulse-Integrierenden zu: seine Antikenkenntnis, die Nähe zu Winckelmann, zu den Akademien und wissenschaftlichen Zirkeln in seiner Umgebung, die kenntnisreiche und verehrungsvolle Haltung der Hochrenaissance gegenüber - das alles fließt in seine Kunst ein. Doch an diesem Punkt - seiner eigenen Malerei - weicht man dann Mengs gern wieder aus, würdigt eher seine theoretische denn seine praktische Vorreiterrolle in der Malerei - und dies aus einem entscheidenden Grund: seine Malerei entbehrt überwiegend der Spannung, einer Herausforderung, einer "Botschaft", die seelisch erlebbar wäre.

Die Wissensfülle, der hohe Bildungsanspruch wirken sich durchaus lähmend aus. Mengs fehlt diejenige Qualität, die seinen Nachfolger im Anspruch, den neuen Stil "erfunden" zu haben, auszeichnet: all die noble Verehrungshaltung auf der Basis einer künstlerisch radikal neuen Haltung vorzutragen. Das leistet Jacques-Louis David zwanzig Jahre später. Er schuf gleichsam ein neues Skelett für die äußere Erscheinugsform der künstlerischen Vorgaben von Mengs und weiteren Zeitgenossen. Sein "Skelett", sein struktureller Kern ist das politische Element, der leidenschaftliche Appell, das agitatorische Potenzial. Dazu gehört notwendig ein neuer analytischer Blick auf den Menschen, Vorformen eines psychologischen Verständnisses drücken sich aus, unversöhnliche Ambivalenzen in der menschlichen Natur werden erlebbar; geradezu modern mutet die Vereinsamung des Einzelnen an, der sich nur noch in der Unterwerfung unter einen Willen als Sozialwesen erlebt. David - und damit die Entwicklung der Malerei zum 20. Jahrhundert hin - hat der Voraussetzung durch Vien und deutlicher noch durch Mengs bedurft.

Steffi Röttgen, auf Grund facettenreicher Untersuchungen zu Mengs und seiner Zeit mit dem Namen dieses Malers zurecht eng verbunden, weicht einer eigenen künstlerisch-würdigenden Einordnung aus und lässt es überwiegend bei der Darstellung seiner zeitgenössischen schmeichelnden Reputation bewenden. Mit dem Etikett, Erfinder des Klassizismus zu sein, belastet sie Mengs unnötig, und der Klassizismus gerät dabei in eine allzu begrenzte Definition.

Konstruktiv und erhellend ist allemal der nüchterne, informierende Blick auf das von Mengs Geleistete, das der Katalogband insgesamt reichhaltig bietet. Er gliedert sich nach den Begegnungen von Mengs mit Dresden, Rom, Spanien und Russland. Die entsprechenden Beiträge glänzen mit angenehm und konzise vermittelter Informationsfülle zur jeweilig lokalen Situation der Künste und ihrer Auftraggeber. Die großzügige Integration von zeitgenössischen Kommentaren in teilweise langen Zitatpassagen ist als willkommene Bereicherung für den Leser hervorzuheben.

Die Folge von Aufsätzen des Katalogbandes führt Steffi Röttgen an; sie stellt den Künstler in seiner Entwicklung, in seinen Beziehungen zu prägenden Persönlichkeiten und seiner fortuna critica vor. Ein mit vielen Verweisen angereicherter, dichter Beitrag, der auf die bisher nur halb erschienene doppelbändige Monografie vorausweist.

Harald Marx entfaltet die Situation der Dresdner Malerei zur Zeit August III., eines augusteischen Zeitalters der Förderung der Künste. Er stellt die hier agierenden Künstler detailliert vor - ein Spiegel des künstlerischen Nährbodens für den jugendlichen Mengs.

Stefano Susinno führt anregend in die Situation der römischen Kunstwelt zur Zeit von Mengs' Aufenthalten ein. Die entscheidenden Persönlichkeiten aus dem Spektrum von Sammlern und Mäzenen werden vorgestellt, ebenso Intellektuelle, die Motor für die Reform der Künste bilden und ihr Zusammenspiel mit Kunstakademie wie Intellektuellenzirkeln - der "Arcadia" etwa, deren Mitglied Mengs wurde. Der Autor entfaltet ein sprechendes Bild der Verwobenheit und gegenseitigen Inspiration - wie auch der Rangkämpfe - von lokalen und auswärtigen Künstlern in der Kunstmetropole Europas schlechthin im 18. Jahrhundert.

Mengs und Spanien gilt der Beitrag von José Luis Sancho und Javier Jordán der Urriés y de la Colina, die in dichter Informationsfülle diese über 15-jährige Etappe des Künstlers anschaulich werden lassen. Mengs war nicht ohne Risikobereitschaft 1761 zu fremden Ufern aufgebrochen, als er 33-jährig Rom und seine dort erworbene ruhmreiche Position verließ, um in ein völlig fremdes künstlerisches und höfisches Milieu in Madrid einzutauchen. Das Tätigkeitsspektrum des Malers hier ist enorm: von der Ausgestaltung des königlichen Palacio Real in Madrid für Karl III., der unmittelbaren Fortsetzung aller Arbeiten Giaquintos, der nach Neapel zurückgereist war, bis zu Tafelbildern, Gobelinentwürfen, zahlreichen Portraits und seinem großen Engagement für Reformen in der Ausbildung der Künstler, der Beschaffung von Gipsabgüssen, Etablierung eines Museums.

Christoph Frank schließlich informiert über die Zarin Katharina II. als Förderin der Künste und ihre Beziehungen zu Johann Friedrich Reiffenstein in Rom. Durch dessen Engagement gelangte sie auf verschlungenen Pfaden zu zahlreichen Mengs'schen Werken - unter anderem sein prachtvolles "Perseus und Andromeda"-Bild.

Die Publikation präsentiert im Anschluss an die Aufsatzbeiträge einen Katalogteil, der die Wiedergabe der Objekte, die Zusammenführung notwendiger Daten, ihre Analyse in wohltuendem Lay-out vorstellt. Es bleibt also nichts zu wünschen übrig - bis auf den Titel, wie erwähnt, der mir unangemessen und in seiner Formulierung von heutiger Werbesprache beeinflusst scheint und Mengs gleichsam in die Rolle eines Produktdesigners drängt. "Mengs und die Geburt des Klassizismus" etwa hätte mir besser gefallen. Dass innerhalb der Beiträge nicht zuletzt auch ein Bild des Menschen Mengs entworfen wird - eines von väterlichem Ehrgeiz zu enormer Leistungsorientiertheit angehaltenen und in der Folge zu sich abspaltenden heftigen Selbstzweifeln tendierenden Mannes - gehört zu den willkommenen Bereicherungen für ein sich rundendes existenzielles Zeitbild.

"Wenn man im einzelnen über unsere Kunst spricht, so stellt sie sich in meinem Kopf als Labyrinth dar: weder wissen wir, wo die Malerei sich erschöpft, noch bis wohin es dem Menschen gestattet ist, zu gelangen; unsere Seele erfühlt auch das Unendliche, aber wo ist die Hand, die bis zu diesem Punkt dem Intellekt gehorcht, die in dem Augenblick, in dem sich unser Gedanke zur Materie formt, nicht in unseren Händen bereits stirbt, während er gerade erst geboren wird? (...) Für die Vortrefflichkeit der Malerei aber reicht die Wahrheit nicht aus, man muss ihr die Schönheit hinzufügen, nicht nur die relative, sondern auch die innere. Diese letztere verhält sich in irgendeiner Weise entgegengesetzt zur Wahrheit und manchmal zum Charakter, der so sehr gefällt (...)." (Mengs 21. 8. 1768 an Raimondo Ghelli, Kat., 30, 1 folgende)

"Ich bin seelisch sehr niedergeschlagen, da ich mich von so vielen Unannehmlichkeiten überfallen sehe, vor allem aber plagt mich meine schlechte Gesundheit. Ich habe auch keine anderen Tröstungen, weder durch den Ruhm, noch durch die Kinder, noch durch Ehrungen, sodass sich alles verschlechtert. Ich hatte gehofft, eine Zeit zu sehen, die ich hätte genießen können, und jetzt muss ich erkennen, dass die mir bestimmte Zeit bereits abgelaufen ist." (Mengs an Anton Maron am 24. 7. 1775, Kat., 28)

Hier kann man auf einen sich deutlich verwandelnden Blick auf das 18. Jahrhundert hinweisen, der sich in neueren Arbeiten - wie beispielsweise der jüngst abgeschlosssenen Frankfurter Dissertation von Mareike Hennig zu Asmus Jacob Carstens - hoffnungsvoll niederschlägt. Das Bedürfnis nach geistiger Führung in dieser eklektischen Epoche, nach kraftvollen, inspirierten Vorgängern in Antike und Renaissance lässt sich auch als Suche des immer unbehausteren, angsterfüllten Individuums - aus religiös-verbindlicher wie bald politischer "Geborgenheit" entlassen - nach väterlichem Schutz sehen. In die Welt historischer und mythischer Heroen oder literarischer Konflikte einzutauchen lenkte eindrucksvoll ab von der Hinwendung zu aufbrechenden existenziellen Fragen des eigenen Selbst.

Die gelassene Ruhe antiker Skulptur, die Souveränität marmorner Eindeutigkeit zusammen mit dem Denken der Griechen boten die ersehnte Sicherheit. Künstler wie Mengs, Kauffmann, Vien und in besonderer Färbung David luden ihre "Fantasiebatterien" mit diesem Vokabular auf. Klarheit, Eindeutigkeit im Umriss, Ruhe, ponderierte skulpturale Gewichtigkeit beeindruckten, beruhigten das Publikum unverzüglich.

Dass die Vorführung der starken Welt über Abgründen errichtet war, zeigt die Ambivalenz vieler Werke (zum Beispiel in Davids konsequentem, aber gnadenlosem Brutus, dessen mühsam unterdrückte Trauer Mengs' oben zitierter Erfahrung und Schilderung depressiver Stimmungen enstpricht).

Eine Tonlage, die etwas von der Aktualität dieser Epoche vermittelt, findet sich gerade im Nicht-Erreichen der angestrebten Monumentalität, im müden Raffaelesken, in der unbewussten Erkenntnis, dass die Antike in ihrer äußeren Erscheinungsform nicht die eigentliche Lösung bot. Die inhärente Trauer - bei David eher eine latente Wut - veranlasste andere Zeitgenossen wie Füßli und Goya zur Formulierung abgründiger Traumgesichte, zur Wirklichkeit des Traums - sie gaben so ihren Traumata direkte Gestalt.

Dass wir Goya als modern, ehrlich, mutig, authentisch empfinden ist keine große Erkenntnisleistung und nicht schwer nachzuvollziehen. Daneben sollten aber Künstler wie Mengs nicht falsch verortet werden, die in ihrer Angefochtenheit, ihrer Sehnsucht nach Stärke, Zuflucht in Scheinsicherheiten suchten, in den bewährten, starken Armen Apolls, Hercules' - in der intellektuell befriedeten, geschlossenen Welt eines Parnass. Den Blickwinkel für ein auch hier herausforderndes 18. Jahrhundert erweitert dieser Katalog in anerkennenswerter Weise.

Gabriele Oberreuter