Rezension über:

Antje Stannek: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 33), Frankfurt/M.: Campus 2001, 303 S., ISBN 978-3-593-36726-2, EUR 34,90
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Rezension von:
Cornel Zwierlein
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Gudrun Gersmann
Empfohlene Zitierweise:
Cornel Zwierlein: Rezension von: Antje Stannek: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Campus 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 1 [15.01.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/01/3523.html


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Antje Stannek: Telemachs Brüder

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Die wohl berühmteste, auch von Foucault gern zitierte Sturm-und-Drang-Komödie, der 'Hofmeister' (1774) von Jakob Maria Reinhold Lenz (selbst ein Hofmeister), in dem der Antititelheld dem Sohn des adligen Dienstherrn nichts beibringt, die Tochter schwängert und anschließend sich selbst kastriert, endet damit, dass der zukünftige Ziehvater des Hofmeisterbastards diesen gütig aufnimmt mit den Worten "Wenigstens, mein süßer Junge! werd ich dich nie durch Hofmeister erziehen lassen."

Antje Stannek behandelt in ihrer am europäischen Hochschulinstitut in Florenz entstandenen Dissertation nicht diese Phase von adliger Erziehung, wie sie am Ende des 18. Jahrhunderts im Schussfeuer der tragikomisch vorgetragenen Kritik aus dem Blickwinkel verbürgerlichender Aufklärung stand, sondern untersucht die kulturelle Erziehungspraxis des adligen Grand Tour in seiner Aufstiegs- und Blütezeit im 17. Jahrhundert für deutsche Adlige. Angeregt durch van Genneps 'rites de passages' und Victor Turners Weiterentwicklung, begreift sie den Grand Tour als eine abgegrenzte "liminale Passage", also als eine abgegrenzte Phase der Adoleszenz mit Schwellencharakter: "Die Reisenden unterliefen bei einer erfolgreich abgeschlossenen Reise eine Verwandlung und eigneten sich Verständnis für die Prinzipien der höfischen Lebenswelt an." (20) Stannek will so die Geschichte adoleszenter Lebensphasen von einer Fixierung auf die letztlich modernistische Frage nach Identitätsbildung als Individualitätsbildung lösen und zu einer Betrachtung des gesamteuropäischen Phänomens des Grand Tour in seinem gesellschaftsfunktionalen Bezug auf die Herausbildung und Formung eines gemeinsamen europäischen Habitus des Hochadels führen. Das reiche Belegmaterial für das Unternehmen, insbesondere für das zweite und dritte der drei Kapitel, stammt aus acht Archiv- und Bibliotheksorten, von Rom bis Kopenhagen, darunter als Adelsarchiv auch das der Hohenloher in Neuenstein.

Im ersten Kapitel gibt Stannek zunächst einen kurzen Abriss des idealtypischen Ausbildungsweges und Adoleszenzverlaufs eines deutschen Hochadligen. Dann analysiert sie die theoretische Behandlung des Grand Tour in Apodemiken und verwandter Literatur: Als Hauptargument der Literatur für den Grand Tour stellt sie eine erstaunlich rasche Befürwortung des Erkenntnisweges der Erfahrung fest, der Adlige müsse die Welt mit eigenen Augen kennen gelernt haben. Der impliziten Doppelbödigkeit des Erfahrungsbegriffs, die sich auf Grund der interessanten Beobachtung ergibt, dass dieselbe apodemische Literatur "zu einer Standardisierung des Sehenswerten" (42), mithin zu einer Normierung des Erfahrbaren führte, wird jedoch nicht weiter nachgegangen. Das folgende Unterkapitel ist knapp der Cortegiano-Literatur (Alberti, Castiglione, Guazzo, Fénelon) als "Vorläufer heutiger Lifestyle-Magazine" (55) gewidmet. Schließlich stellt Stannek in einem Durchgang durch die Forschungen eine Skizze typischer Reisewege und Reisestationen an europäischen Höfen und Ausbildungsinstitutionen (Universitäten, Akademien) zusammen, wobei für deutsche Adlige Italien, Frankreich, Niederlande und England in dieser Reihenfolge attraktiv waren. Italiens Stellung vor Frankreich ist hervorzuheben. Insbesondere die Kriege gegen oder unter Beteiligung von Frankreich im 17. Jahrhundert behinderten oft die Reise an den Versailler Hof. Argumentativ zunächst etwas unverbunden, aber gender-historisch interessant sind die zum Schluss des ersten Kapitels von Stannek zusammengestellten Frauensterotypen, die in der Reiseliteratur für die jeweiligen Länder kolportiert wurden.

Es folgen dann im zweiten Kapitel die Kurzdarstellungen von 11 Grands Tours von sechs Familien (vier reichsgräflichen: Fugger, Hohenlohe, Lamberg und Dernath, zwei herzöglichen: Braunschweig-Lüneburg, Mecklenburg-Schwerin). Sie können hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden, obwohl diese aus dem archivalischen Material geschöpften Fallstudien sicher den anschaulichen Kern der Arbeit bilden. Hervorzuheben sind mit der Autorin (159) folgende Charakteristika: Während Reichsgrafen wie Hohenlohe oder Lamberg den Hof von Versailles nur wie Touristen als Zuschauer erleben konnten, wird der Herzogssohn Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg von Ludwig XIV. und der Königin am Hof ('als Akteur') empfangen. In den reichsgräflichen Familien gingen mehrere Söhne gemeinsam auf Grand Tour, vor allem aus Gründen der Geldersparnis.

Konfessionelle Unterschiede fielen vor allem in der Ausbildung vor dem Grand Tour ins Gewicht; während der Reise selbst ging es dagegen höchstens um die Suche eines gut lutherischen Wirtes oder um die Möglichkeit der eigenen Konfessionsausübung auch auf fremdkonfessionellem Boden. Die Fremdsprachenkenntnisse konzentrierten sich auf das Französische; der Lateinunterricht nahm zwar breiten Raum ein, hinterließ aber nach Stannek wenig Spuren. Wichtig ist wohl vor allem die Nachzeichnung der markanten Ausdifferenzierung auch des gemeinsam-europäischen Hochadels in Akteure und Betrachter, in Kleine und Große.

Im dritten Kapitel liefert Stannek eine Art idealtypischer Synthese der Grand-Tour-Praxis in Verschränkung von apodemischer Literatur und anderen Quellen sowie im Hinblick auf die fünf Themenbereiche Kleidung, Kosten, Tutor/Hofmeister, Trinken & Ehrenstreite, Mann/Frau-Beziehungen. Der höfische Code verpflichtete zur modischen "fremdländischen" Kleidung, und der Grand Tour brachte meist als erstes die Notwendigkeit einer standesgemäßen Ausstattung mit sich. Die beträchtlichen Geldmittel für den Grand Tour - sie wurden im üblichen kaufmännischen Wechselbriefverkehr transferiert - waren eine starke Belastung für die Adelshäuser, und es war umstritten, wer für sie aufzukommen hatte. Bei herzöglichen Erbprinzen konnte man sich an die Landstände wenden, in den übrigen Fällen war unklar, aus welchem Teil des Familienvermögens zu zahlen sei. Die Rolle und das Schicksal des Tutors waren sicher keineswegs so burlesk-tragisch wie in der Lenz'schen Komödie, aber seine ´Sandwich-Position´ zwischen Zögling und Vater/Vormund, die keineswegs berauschende Bezahlung und die unklaren Karriereaussichten nach der Rückkehr vom Grand Tour lassen ihn auch bei Stannek eher als armen Tropf erscheinen; bislang in der Forschung konstatierte Unterschiede zwischen bürgerlichen und adligen Tutoren kann sie nicht feststellen.

In den beiden letzten Unterkapiteln zeigt sich die Sensibilität der Autorin für Genderfragen. Die adligen Ehrenstreite und Saufgelage, die auf dem Grand Tour - insgesamt ja eine Ausbildungsveranstaltung, die rein männliches Privileg blieb - auf der Tagesordnung standen, werden auch als männliche Initiationsrituale interpretiert. Die Beziehung zu Frauen (einerseits zu den fernen Müttern, andererseits zu den verschiedenen Frauen, denen man auf der Reise begegnete, von Hofdamen bis zu den Kurtisanen) werden beschrieben.

Die angenehme Lektüre der straffen, argumentativ auch auf thesenförmige Fassbarkeit und Einbau in allgemeinere Rahmen zugeschnittenen Arbeit ist sicher ein Gewinn im Umfeld der aktuellen Literatur zum Thema (vgl. nur die einen anderen Ansatz verfolgenden Werke von Edward Chaney, Chloe Chard oder Clare Hornsby). Erfrischend ist der gesamteuropäisch-internationale Horizont, der sich nicht nur im Quellenmaterial, sondern auch in der benutzten Sekundärliteratur und dem methodisch-theoretischen Überblick niederschlägt. Leider trüben etliche Tippfehler, gehäuft im altsprachlichen Umfeld, ein klein wenig den Lesegenuss (Seite 37 (Anmerkung 68), Seiten 40,42,43, 44 (Anmerkung 77), Seite70, 141). Beim Fallbeispiel der Fugger hätte man vielleicht ein wenig mehr heuristische Offenheit für die Übergangssituation der Familie von der Kaufmanns- zur Adelsdynastie erhofft, die Argumentation steuert zu rasch auf die Gleichheit mit den anderen Fällen zu und verbaut sich eine sensiblere Analyse eines Akkulturationsprozesses (von Stannek selbst zusammengetragene, aber nicht ausgewertete Indizien: nur die Fugger erlernen rasch Italienisch (159 - typische Handelssprache!), nur sie sind in Spanien, wo sie bei Ciudad Real die eigene Quecksilbermine besichtigen können, 102). Einige einführende Bemerkungen zur Entstehung der Praxis der Grand Tour wären vielleicht wichtig gewesen (was machten Adlige vorher, ist die Grand Tour selbst Symptom und Mittel der Ausdifferenzierung verschiedener Adelsgruppen im Zuge der Verfestigung des sogenannten 'europäischen Staatensystems'?).

Wenn man das Buch an seinem Ziel misst, darf man sogar vorsichtig noch ein wenig tiefergehende Fragen stellen: Kann man einfach die europäische Gemeinsamkeit der adligen Hochkultur als Ausgangs- und Zielpunkt behaupten, wenn man nur die deutsche Anverwandlung derselben untersucht? Hätte man nicht, gerade wenn die distinkte Adoleszenzphase "Grand Tour" als entscheidender Weg zum Erwerb des höfischen Habitus bestimmter Prägung dient und eingangs von einem möglichen Gelingen oder Misslingen dieses Unternehmens geschrieben wird (20), und gerade wenn man die Adoleszenzgeschichte eher im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Funktion als auf lebensgeschichtliche Identitätsbildung untersucht - hätte man dann nicht in markanten Beispielen etwas intensiver auf die Rolle und Funktionalisierung der "Verwandlung" (siehe oben) in der nächsten Lebensphase eingehen müssen? Wäre nicht, wie in allen Grenzziehungsfällen, der Blick über die Phasengrenze hinweg erst die nötige Kontrolle für die Grenze? - Aber vielleicht kann man das auch als Anregung für weitere Arbeiten betrachten, denn die Beantwortung der Fragen hätte die angemessene Anlage der Arbeit völlig gesprengt. Insgesamt jedenfalls gibt das Buch einen erfreulich umsichtigen, kritischen und kompakten sowie ´echt europäischen´ Zugang zu einem bislang im deutschen Sprachraum wenig erforschten Gebiet. "Da mach ich Euch meinen herzlichen Glückwunsch drüber" (Lenz, Hofmeister, V,3).

Cornel Zwierlein