Rezension über:

Hans Joachim Torke (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 56), Wiesbaden: Harrassowitz 2000, 301 S., 7 Abb., ISBN 978-3-447-04362-5, EUR 39,00
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Rezension von:
Christine Roll
Universität Konstanz
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christine Roll: Rezension von: Hans Joachim Torke (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg. Das russische Reich im 17. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 4 [15.04.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/04/2156.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Von Moskau nach St. Petersburg" in Ausgabe 2 (2002), Nr. 4
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Hans Joachim Torke (Hg.): Von Moskau nach St. Petersburg

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Soll man das 17. Jahrhundert in der russischen Geschichte als das vorpetrinische begreifen? Oder ist es das letzte Jahrhundert Moskauer Tradition? Auch als Russlands griechisches Jahrhundert hat man es bezeichnet. Oder ist es ein Jahrhundert des Übergangs, symbolisiert in der Verlegung der Hauptstadt aus dem altrussischen Moskau nach dem europäisch geprägten St. Petersburg? Von der Frage, mit welchen Termini Russland im 17. Jahrhundert begriffen werden soll, ist der hier anzuzeigende Aufsatzband geprägt. Jeder der 15 Beiträge geht sie auf seine Weise an, mit seinem Thema, seinem Material und seiner Methode. Nach der Lektüre ist man in vielerlei Hinsicht sehr viel klüger - aber eine eindeutige Antwort auf die Frage wird man umso weniger geben wollen: Das 17. Jahrhundert entzieht sich einer eindeutigen Charakteristik und schon gar einer schnellen Etikettierung. Überdeutlich wird vielmehr, dass die Entwicklung keineswegs bloß - und ohne Alternative - auf Peter den Großen zugesteuert ist; gerade in dieser Hinsicht räumt das Buch mit vielen nach wie vor weit verbreiteten Vorstellungen auf, und es sei allen Kennern der Geschichte Europas im 17. Jahrhundert, die bereit sind, sich auf die sehr anderen, dann aber doch wieder erstaunlich ähnlichen Verhältnisse im Osten Europas einzulassen, sehr ans Herz gelegt.

Die Publikation verdankt ihre Entstehung einer noch von Hans-Joachim Torke initiierten internationalen Tagung, die 1998 in Berlin stattfand. Bei den Autoren handelt es sich einesteils um ausgewiesene Kenner des Fachs, die sich bereits seit Jahren oder gar Jahrzehnten mit der russischen Geschichte des 17. Jahrhunderts beschäftigen und hier neue Überlegungen oder Quellenbefunde vorstellen, andernteils um jüngere Forscherinnen und Forscher, die aus dem Reichtum ihrer eben erst erschlossenen Quellenbestände berichten und mit großem Detailreichtum aufwarten können, ohne sich dabei je in Einzelheiten zu verlieren. Indessen vermag nicht so recht einzuleuchten, warum die Aufsätze nicht nach thematischen Gesichtspunkten, sondern in alphabetischer Reihenfolge angeordnet sind; eine an bestimmten Themen- oder Fragenkreisen orientierte Gruppierung der Beiträge würde denjenigen, die mit den Sach- und Forschungsproblemen der russischen Geschichte des 17. Jahrhunderts nicht selbst vertraut sind, die Rezeption des interessanten Bandes gewiss erleichtern, zumal leider nicht nur von einer Dokumentation der Diskussion, sondern auch von einer Zusammenschau der Erträge wie der offen gebliebenen Fragen und zukünftigen Forschungsstratgegien abgesehen wurde. Die tödliche Krankheit dürfte dem Herausgeber die Kraft dafür geraubt haben.

Für die Besprechung erschien es sinnvoll, die Beiträge drei großen Themenkreisen zuzuordnen, nämlich zum einen dem Themenkreis Kirche, Kultur und geistiges Leben und zum anderen dem Bereich der zarischen Herrschaft, ihrer Gewährleistung wie ihrer Grenzen; eine dritte Gruppe von Aufsätzen vereint schließlich das Bemühen um eine Gesamtinterpretation des 17. Jahrhunderts.

Zunächst zum Themenkreis Kirche, Kultur und geistiges Leben. Hierher ist als erster der Aufsatz von Alfons Brüning zu rechnen: "Peter Mohyla's Orthodox and Byzantine Heritage. Religion and Politics in the Kievan Church Reconsidered" (63-90). Peter Mohyla (1596-1646), Neffe des Hospodaren der Moldau, geriet in den politischen Wirren seiner Heimat in engen Kontakt mit polnischen Adligen, die es ihm ermöglichten, sowohl mit den Grundlagen der Orthodoxie als auch mit jenen des Humanismus vertraut zu werden. 1627 wurde er zum Archimandriten des Kiever Höhlenklosters gewählt, 1632 zum Metropoliten von Kiev. Dass seit diesem Jahr überhaupt wieder eine legale orthodoxe Hierarchie im Königreich Polen-Litauen bestand, ging nicht zuletzt auf die Bemühungen Mohylas selbst zurück; er setzte sich nämlich auf dem Wahlsejm nach dem Tod König Sigismunds III. stark dafür ein, dass sich der orthodoxe ruthenische Adel nicht mit einigen wenigen Statusverbesserungen abspeisen ließ, sondern gegenüber dem neuen König Wladyslaw auf der Garantie früherer Rechte beharrte. Doch im Grunde befriedigten die "pacta conventa" niemanden. Im Spannungsfeld von mühsam geduldeter Orthodoxie und staatstragendem Katholizismus widmete sich Mohyla in den folgenden Jahren der Reform der orthodoxen Kirche und ihrer institutionellen Absicherung im Verband der polnischen Krone. Diese Tätigkeit Mohylas und die sie prägenden Einflüsse sind Gegenstand der Untersuchung Brünings: War Mohyla bereits ein "reiner Westler", wie in der Forschung zumeist behauptet, oder sind auch andere Einflüsse, namentlich byzantinische, erkennbar?

Im Mittelpunkt der Reformtätigkeit Mohylas sieht Brüning die Verbesserung der Bildung des orthodoxen Klerus. Aus der Einsicht heraus, dass die Orthodoxie die theologische Herausforderung des Katholizismus in der Zukunft kaum würde bestehen können, habe er dafür sorgen wollen, dass der Klerus und die Gläubigen besser über ihren Glauben Bescheid wüssten. 1632 gründete er zu diesem Zweck in Kiev ein geistliches Kollegium, für dessen Organisation er auf einige polnische Vorbilder, sogar auf Jesuitenschulen, zurückgriff; am Kiever Kollegium wurden nun die Klassiker des Altertums sowie Latein und Polnisch gelehrt. Für die weitere Entwicklung der Orthodoxie, nicht bloß in Polen-Litauen, sondern auch im Zarenreich war das Kollegium von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dass Mohyla mit dem traditionellen orthodoxen Klerus in Konflikt geriet, als er neben dem Buchdruck auch noch die Rhetorik förderte und die Ansicht vertrat, für die Gläubigen sei genaueres Wissen über die Sakramente erforderlich, ist wenig erstaunlich; in den theologischen Debatten mit seinen Gegnern habe sich Mohyla, so zeigt Brüning, sogar von der Anschauung entfernt, allein der Gottesdienst sei Ausdruck gottgefälligen Lebens. Ihren Niederschlag fanden diese Ansichten Mohylas in seiner "Confessio Orthodoxa" von 1640 - die, so Brüning, die theologischen Debatten in Westeuropa durchaus beeinflusst habe -, in einem Katechismus und einer Liturgiereform.

Die Bemühungen um eine Absicherung der orthodoxen Kirche als Institution waren demgegenüber, so lässt sich aus Brüning schließen, weniger erfolgreich. Das Hauptproblem bestand darin, dass die orthodoxe Kirche keinerlei administratives Zentrum hatte; insbesondere gab es ja kein ruthenisches Patriarchat. Eine Union mit der römischen Kirche konnte in den Augen Mohylas höchstens eine Zwischenlösung sein, und auch von seinen Überlegungen, die orthodoxen Ruthenen neben Polen und Litauern im Rahmen der polnischen Krone institutionell abzusichern, sah Mohyla bald wieder ab, denn weder die Wiederbelebung Kievs als "Mutter der Städte der Rus'" noch der Bezug auf Jerusalem eignete sich zur Stiftung einer ruthenischen Identität.

So hinterließ Mohyla zwar einen viel besser gebildeten Klerus, und das Kiever Studium gewann seit den 1640er-Jahren auch im Moskauer Adel hohe Attraktivität; doch für das organisatorische Problem der ruthenischen Orthodoxie scheint es im Verband der polnischen Krone keine Lösung gegeben zu haben. Die gewiss interessante Spekulation darüber, welche Haltung Mohyla zu den Ereignissen und Entscheidungen der folgenden Jahre bezogen hätte, versagt sich Brüning, jedoch nicht ohne seinerseits einen kurzen Ausblick auf die Unterordnung der Kiever Metropolie unter den Patriarchen von Moskau und den Übergang der linksufrigen Ukraine in das Herrschaftsgebiet des Moskauer Zaren zu geben.

Der Beitrag von Wolfram von Scheliha, "The Orthodox Universal Church and the Emergence of Intellectual Life in Muscovite Russia" (273-289), schließt thematisch an die Studie Brünings an, behandelt aber die Entwicklung im Moskauer Zartum selbst: die Auswirkungen der erneuten Hinwendung Moskaus nach Konstantinopel auf das geistige Leben im Moskauer Zarenreich des 17. Jahrhunderts. In der Erhebung des Moskauer Metropoliten zum (autokephalen) Patriarchen im Jahre 1589 sieht Scheliha nämlich nicht so sehr, wie sonst üblich, die Eigenständigkeit der russischen Kirche gegenüber Konstantinopel verwirklicht; er betont vielmehr die Überwindung der kulturellen Isolierung Moskaus durch diesen Akt, nachdem die Moskauer Hierarchie - seit dem Florentiner Unionskonzil und dem Fall Konstantinopels von der Furcht beseelt, über Konstantinopel mit den "befleckten lateinischen Häresien" in Berühung zu kommen - die Beziehungen nach Konstantinopel einseitig reduziert hatte. Jetzt, 1589, kehrte der Moskauer Metropolit als Patriarch in die universale orthodoxe Kirche zurück. Doch nicht nur das: Der Zar - nun seinerseits mit dem Autokratortitel der byzantinischen Kaiser versehen - wurde seither als ihr Schutzherr und weltliches Oberhaupt angesehen und galt somit als höher rangig denn der Moskauer Patriarch. Einige Folgen dieser Redintegration Moskaus in die universale orthodoxe Kirche sind Gegenstand der Untersuchung Schelihas.

An der Bildungsfeindlichkeit des Moskauer Klerus, gründend in seiner Furcht vor lateinischen Häresien, änderte sich durch den Akt von 1589 freilich nichts. Vor allem aus diesem Grunde gab es im Zarenreich bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts außer dem Kiever Kollegium keinerlei über Elementarschulen hinausgehende institutionalisierte Bildungseinrichtungen. Kennzeichnend für das geistige Klima im Zarenreich war nun aber - und das ist es, was Scheliha vor allem interessiert -, dass sich immer wieder Koalitionen zwischen Zar Aleksej Michajlovic (1645-1676) einerseits und den Patriarchen von Konstantinopel und Jerusalem andererseits bildeten, um den Moskauer Patriarchen zur Schulgründung zu veranlassen, denn beide Seiten waren - aus verschiedenen Gründen freilich - an der Hebung der Bildung der russischen Bevölkerung interessiert. Zwar blieben diese Bemühungen lange vergeblich, und gerade Patriarch Nikon (1652-1667), dessen Liturgiereformen zum ersten Schisma in der russischen Kirche führten, lehnte Schulen vehement ab, während er den Besuch des Kiever Kollegiums wohl geduldet hat, ja hin und wieder sogar empfohlen zu haben scheint. Erst allmählich, zudem nur unter der Bedingung, dass die Schulen kirchlicher Aufsicht unterstanden und der Unterricht von Griechen erteilt wurde, gab die russische Kirchenführung in den späten 1680er-Jahren schließlich ihren Widerstand gegen Bildungseinrichtungen auf, sogar gegen den Lateinunterricht.

Auf dem Weg über Konstantinopel, durch griechische Lehrer und Geistliche, kamen also seit den 1680er-Jahren genau jene Güter nach Russland, die die russische Kirchenleitung fern halten wollte: der institutionalisierte Lateinunterricht und die artes liberales - und zwar mit Zustimmung dieser Kirchenleitung. Schehila spricht hier von einer Paradoxie; und er sieht ganz ähnliche Paradoxien im Zusammenhang mit den Reformen des Patriarchen Nikon und der Einführung scholastischer Dispute in die russische Kirche. Ob man hier von Paradoxien und nicht vielmehr von unbeabsichtigten Wirkungen sprechen sollte, sei dahingestellt und bedürfte genauerer Untersuchung; mit der Darstellung gerade dieser Folgen des Akts von 1589 hat Scheliha jedenfalls den Blick auf einen ungemein wichtigen, bislang kaum zur Kenntnis genommenen Aspekt des geistigen Lebens in Russland gelenkt.

Meint man nun, bis in die 1680er-Jahre hinein habe man - außer in der Ukraine - im Zarenreich eigentlich nirgends Latein lernen können, so wird man von Paul Bushkovitch eines anderen belehrt. Aus seinem Beitrag "Cultural Change among the Russian Boyars 1650-1680. New Sources and Old Problems" (91-111) geht nämlich deutlich hervor, dass schon seit den 1650er-Jahren einzelne russische Adlige über Lateinkenntnisse verfügten, dass sich ihre Zahl bald erhöhte und dass sie Möglichkeiten fanden, sich diese Sprachkenntnisse innerhalb ihres Landes anzueignen. Seine Untersuchung beruht auf methodischen Überlegungen, die er prägnant formuliert:

Um den Bildungsstand der russischen Bojaren zu erfassen, müsse man anders fragen als bislang: nicht nur nach den Autoren, sondern auch nach ihrern Lesern ("Who read Simeon Polockij?" (92)); und man dürfe unter den Bojaren nicht nach Äquivalenten zu Descartes und Pufendorf suchen, sondern sollte sie mit dem gewöhnlichen Adligen in Holstein, Schweden und Frankreich vergleichen, der sich in der Lateinlektüre zumeist auch nicht sonderlich hervorgetan habe ("it is not very helpfull to assume that all of Europe was Paris and Florence"[ebenda]); und schließlich müsse man Gesandtenberichte nicht nur auf diplomatische Mitteilungen hin befragen. Auf Grund der Auswertung vor allem dänischer Gesandtenberichte aus dem Zeitraum zwischen 1650 und 1680 kann Bushkovitch nämlich überzeugend darlegen, dass junge Bojaren nicht nur auf den Schulen der Kiever Mönche Kenntnisse in lateinischer Sprache und westlicher Kultur erwarben, sondern dass die führenden Bojarenfamilien, die Odoevskijs, Romodanovskijs, Golycins und Cerkasskijs, ihre Söhne durch Privatlehrer unterrichten ließen. [1] Gewiss war, so würde Bushkovitch vielleicht sagen, Moskau nicht Rom oder Wien; doch Kenntnisse der lateinischen Sprache und damit auch der westlichen Kultur hatten unter den Bojaren schon in den 1660er und 1670er-Jahren größere Verbreitung gefunden als bislang angenommen. A.S. Matveev, der bekannteste der hochgebildeten Bojaren und unter Zar Aleksej von 1671-1676 Leiter des Außenamts, "was not as much of a rare bird as he seems" (111).

Einen anderen Eindruck aus einem anderen Bereich des kulturellen Lebens der Elite vermittelt wiederum Lindsay Hughes in ihrer Studie zu den Porträts russischer Herrscher im 17. Jahrhundert ("Images of the Elite: A Reconsideration of the Portrait in Seventeenth-Century Russia" (167-185)). Bis in die 1680er-Jahre hinein war nämlich, so Hughes, der Besitz von Porträts, gar von Porträtgalerien, unter den Adligen eine Ausnahme, und kaum jemand, nicht einmal der Zar, ließ sich porträtieren. Zwar gab es auch schon vorher Herrscherbilder; diese aber wiesen kaum Ähnlichkeit mit den Originalen auf, wurden vielfach posthum angefertigt und sind überhaupt nur anhand der Inschriften und Insignien zu identifizieren; freilich hatten sie, aus der Tradition der Ikonenmalerei entstanden, ursprünglich auch andere Funktionen zu erfüllen als die seit der Renaissance im übrigen Europa sich ausbreitende Porträtkunst. Erst seit den 1680er-Jahren gewann das Porträt auch unter den russischen Adligen wie am Zarenhof selbst an Attraktivität, wiederum durch polnische Vorbilder und zusammen mit heraldischen Wappen und genealogischen Stammbäumen.

Die besondere Bedeutung dieses Beitrags liegt aber vielleicht gar nicht so sehr in diesen Befunden, sondern vielmehr in einigen daraus abgeleiteten methodischen Überlegungen. Indem nämlich Hughes die verschiedenen Faktoren erörtert, die diese spezifische Entwicklung der frühen russischen Porträtmalerei bewirkten - darunter vor allem die verschiedenen Ebenen und Formen ausländischen Einflusses -, begegnet ihr der interessante Befund, dass zwar das "goldene Zeitalter" der niederländischen Landschaftsmalerei genau in die Zeit der intensivsten Kontakte zwischen den Niederlanden und Russland fällt, die realistische Malerei der Niederländer in der russischen Malerei aber keinerlei Spuren hinterlassen hat: Aus Kontakt muss also nicht immer Einfluss folgen. Zum Weiterdenken regen auch die Schlussbetrachtungen der Autorin an, in denen sie über gewisse Ähnlichkeiten der russischen mit der englischen Entwicklung in der Porträtkunst reflektiert; was auf den ersten Blick verwundern mag, ist auf den zweiten sehr inspirierend. Und es passt zum Zugang der Lindsay Hughes zur frühneuzeitlichen Geschichte Russlands, dass sie an die russischen Kunsthistoriker appelliert, bei Studien über eine Zeit, in der die Kunst keine nationalen Grenzen kannte, die nationalen Vorbehalte ihrer sowjetischen Vorgänger gegenüber ausländischen Einflüssen endgültig abzulegen.

Ob auch der Aufsatz von Aleksandr S. Lavrov "Um seine Seele zu retten. Die Verhöre der Gottesnarren als religiöse Autobiografien, 1699-1740" (187-201) dem Themenkreis Kirche und kulturelles Leben zugehört, ist schwierig zu entscheiden. Lavrov liegen Verhörprotokolle vor, die es ihm erlauben, die "Narren in Christo", jene eine Geisteskrankheit vortäuschenden Asketen, erstmals in Selbstzeugnissen sprechen zu lassen. Dabei geht es ihm insbesondere darum, das Konzept der "Lachwelt" zu überwinden und deutlich zu machen, dass der Gottesnarr nur "von außen lustig" gewesen sei (188) - was aber seinerzeit von Pan(enko durchaus betont worden ist. [2] So faszinierend Thema und Quellen sind - leider hält der Aufsatz in der hier publizierten Weise wissenschaftlichen Ansprüchen kaum stand. Nach gründlicher, auch redaktioneller Überarbeitung und stärkerer Profilierung des eigenen methodischen Zugangs wird er jedoch gewiss einen würdigen Platz einnehmen.

Nun also zu den Beiträgen, die sich mit der zarischen Herrschaft, ihrer Gewährleistung und ihren Grenzen beschäftigen, und zwar zunächst zu A.P. Pavlovs Studie über den Zarenhof im 17. Jahrhundert (Gosudarev dvor' v istorii Rossii XVII veka (227-242)). Pavlov unternimmt es, vor allem auf Grund der "bojarskie spiski", der "Bojarenverzeichnisse", die für mehrere längere Abschnitte des 17. Jahrhunderts vorliegen, den Wandel der personellen Struktur an der Spitze des Zarenhofs zu untersuchen. Dabei möchte er auch die alte These Kljucevskis vom Machtverfall des Bojarentums und dem Sieg des Dienstadels im 17. Jahrhundert überprüfen und zugleich nach der Rolle des Hofs "im Prozess der Entwicklung des Russischen Staats an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit" fragen (228). Seine Befunde lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Die alten Bojaren- und Fürstengeschlechter haben sowohl hinsichtlich des Zugangs zu den höchsten Ämtern wie auch hinsichtlich ihres Besitzes ihre Stellung, die sie bis zu Ivan IV. Groznyj innehatten, bewahren können. Zwar kam es während des 17. Jahrhunderts - vor allem in seiner zweiten Hälfte - zu einer enormen personellen Erweiterung des Zarenhofs, wobei die Anzahl von Hofämtern, die für den niederen Dienstadel noch erreichbar waren, besonders stark zunahm; der Anteil der alten Geschlechter in der Hofgesellschaft ging also zurück. Doch während es den Bojaren gelang, ihre Verbindungen in die Provinzen durch ihren überreichen Landbesitz wenigstens teilweise zu erhalten, verloren die Provinzdienstadligen diesen Konnex, auf dem noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts, wie der Verlauf der Smuta deutlich zeigt, ihre Macht beruht hatte; die neuen Verbindungen am Hof boten dafür keinen gleichwertigen Ersatz. Doch denjenigen Dienstadligen, die es schafften, im Hofdienst zu stol'niki oder strjapcie ernannt zu werden - in Aufgabe und Stellung den Kämmerern vergleichbar -, stand wenigstens eine Karriere in der Verwaltung, vielleicht sogar ein Aufstieg in die Duma-Ränge und damit an die Spitze des Hofs in Aussicht.

Pavlov betont, dass insgesamt weder von einem Machtverfall der Bojaren noch vom Aufgehen der Bojarenaristokrtaie in der Masse des Dienstadels die Rede sein könne. Stattdessen habe man von einer Ergänzung der herrschenden Eliten um die Spitzen des Provinzdienstadels zu sprechen, von einer Ergänzung freilich auch um die Familien der Günstlinge und Favoriten der Romanovs. In dieser obersten Schicht habe kein Interesse daran bestanden, Russland eine ständische Ordnung zu geben, und der niedere Dienstadel sei nicht in der Lage gewesen, ein Gegengewicht gegen Aristokratie und Bürokratie bilden.

Nun ist natürlich auch Pavlov bewusst, dass solche quantifizierenden Studien - deren Ergebnisse im übrigen nicht vollkommen neu sind - keine weit reichenden Aussagen über die Struktur des Zarenhofs gestatten; zu Recht hält er es daher für erforderlich, zum Beispiel "die Mechanismen des Aufstiegs über die Hofränge" genauer in den Blick zu nehmen (236f.). Indessen hat es den Anschein, als ob der Autor darüber bereits jetzt Auskunft geben könnte, wenn er nämlich seinen extremen Nominalstil, der ihm vielfach nur das Konstatieren von Entwicklungen erlaubt - zu Gunsten einer klaren Benennung der Handelnden und deren Interessen aufgeben würde. Darüber hinaus dürften freilich auch mit manchen Konzepten, die die westliche Hofforschung entwickelt hat - mit der Analyse von Klientelverhältnissen vor allem, soweit die Quellen die erforderlichen prosopographischen Daten zur Verfügung stellen -, weitere Fortschritte erzielt werden können, wie denn überhaupt ein Vergleich mit anderen europäischen Herrscherhöfen in jeder Hinsicht erfolgversprechend erscheint. Die Person und Funktion des Herrschers selbst, der die Veranstaltung Hof im Sinne der Gewährleistung seiner Herrschaft ja einerseits bis zu einem gewissen Grade steuerte, dabei aber andererseits selbst bestimmten Zwängen unterlag, käme dann vermutlich deutlicher in den Blick. Der hier von Pavlov gewählte Zugang, die Stellung der Adligen bei Hofe mit ihren Besitzverhältnissen und ihrer Stellung in der Provinz zu verbinden, erscheint jedenfalls äußerst fruchtbar und macht neugierig auf weitere Studien des Autors.

Einen Einblick in andere Mechanismen herrscherlicher Kontrolle bietet die Studie von Angela Rustemeyer über "Verrat und ungehörige Worte. Beobachtungen aus politischen Prozessen des 17. Jahrhunderts" (257-272). Bei solchen politischen Prozessen handelt es sich um Gerichtsverfahren, die auf Denunziationen beruhen und bei denen der Angeklagte der Schmähung des Zaren - "slovo i delo gosudarevy" - beschuldigt wird. Rustemeyer unternimmt es nun, die Behauptung zu widerlegen, dass die Anzahl politischer Prozesse schon während der Regierungszeit Aleksej Michajlovics stark zurückgegangen sei und Peter der Große sie überhaupt habe abschaffen wollen.

Durch die Analyse von etwa 60 Dokumenten aus politischen Prozessen - aus dem Razrjadnyj Prikaz, dem Amt, das für die Organisation der Kriegführung und die Dienstverhältnisse der Dienstleute zuständig war - zeigt sie die auch nach der Mitte des 17. Jahrhunderts ungebrochene Bedeutung politischer Prozesse; sogar bis weit ins 18. Jahrhundert hinein seien sie nachweisbar. Den Grund für das Festhalten der Autokratie an solchen Gerichtsverfahren sieht Rustemeyer darin, dass sie als eine Informationsquelle dienten, "die den Herrschenden auch das in einer noch weitgehend mündlichen Kultur so wichtige gesprochene Wort ihrer Untertanen zutrug"; sie waren, so Rustemeyer, "Stichproben der Loyalität". Denunziationen unzulässiger politischer Äußerungen und die darauf folgenden Prozesse - die es in anderen Ländern, wie die Autorin betont, während des 17. und 18. Jahrhunderts ebenso gab - waren also Teil der "Kommunikation zwischen Herrscher und Untertanen" (259). Die instruktive Untersuchung endet mit einigen Befunden und Überlegungen zu den politischen Prozessen als Quellen für die politische Mentalität wie als Instrument der Politik, nämlich einer intensivierten herrscherlichen Kontrolle vor dem Hintergrund der schwindenden persönlichen Herrschaft des Zaren zu Gunsten der Bürokratie.

Zwei konkrete Beispiele von Widerstand gegen die zarische Herrschaft kommen in den folgenden beiden Aufsätzen zu Sprache. Die Studie von Georg Michels, "The Rise and Fall of Archbishop Stefan: Church Power, Local Society and the Kremlin during the Seventeenth Century" (203-226), beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit der Geistlichkeit. Als Beispiel, das sogar eine gewisse Repräsentativität beanspruchen könne, schildert Michels den Fall des Erzbischofs Stefan von Suzdal', der in der ersten Phase seiner Amtszeit, von 1658 bis 1660, sowohl durch Missachtung zarischer Vorrechte und Anordnungen als auch durch besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber der Bevölkerung auffiel. Zum Beispiel verbat er in seiner Diözese alle Gebete für die Zarenfamilie, ließ sich als "Majestät" und velikij gosudar', "Großer Herr", anreden und zerstörte Altäre und Ikonen. Mit reichem Landbesitz, einem eigenen Hof und Dienstleuten ausgestattet, schaltete und waltete er in seiner Diözese, wie er wollte. Zar Aleksej ließ ihn zwar wegen Missachtung der zarischen Majestät vor einer eigens einberufenen Kirchenversammlung anklagen, diese jedoch folgte dem zarischen Antrag auf Amtsenthebung nicht! Stattdessen verhängte sie eine viel mildere Strafe und beließ Stefan seinen Bischofsrang. 1667 konnte dieser sogar mit allen Ehren in sein Erzbistum zurückkehren, nun aber auf ausdrückliche Veranlassung Aleksejs.

Überzeugend stellt Michels diesen Fall geistlicher Devianz in den Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Zar Aleksej und Patriarch Nikon um den Vorrang im Zarenreich. Stefan, ein Protegé Nikons, dürfte nämlich bei seinem anfänglichen Ungehorsam auf den Rückhalt des Patriarchen gesetzt haben, wenngleich manches in seinem Verhalten trotzdem unverständlich bleibt. Seine Wiedereinsetzung fand dann auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen Zar und Patriarch statt, als sich nunmehr Aleksej des reichen und mächtigen Erzbischofs zu bedienen trachtete. Unter dem Nachfolger Nikons, dem zarenfreundlichen Joakim, lösten sich allerdings die Spielräume Stefans im Spannungsfeld zwischen Zar und Patriarch auf: Der Kreml schickte Stefan einen Voevoden nach Suzdal', der die Einhaltung der zarischen Ukaze überwachte; und die Person des Voevoden ist ein Indiz dafür, wie sehr sich die Zeiten geändert hatten: Er war ein Bruder Joakims! Zar und Patriarch war es also gelungen, aus dem renitenten Stefan einen gehorsamen Gefolgsmann zu machen; sein Nachfolger wurde vollends "ein farbloser Funktionär des Moskauer Außenamts" (226).

Mit einem anderen Aspekt der Grenzen zarischer Herrschaft, mit dem Zusammenhang von Aufständen und falschen Thronprätendenten - samozvancy -, beschäftigt sich Maureen Perrie in ihrem Aufsatz "Pretenders in the Name of the Tsar: Cossack 'Tsareviches' in the Seventeenth-Century Russia" (243-256). Sie stellt fest, dass sich die falschen Thronprätendenten des 17. Jahrhunderts keineswegs immer gegen den Zaren gerichtet haben. Für die zahlreichen samozvancy während der Smuta - mit der dynastischen Krise nach dem Aussterben der Rjurikiden kam es ja überhaupt erst zu diesem Phänomen - galt das zwar: Sie gaben sich als tot gegelaubte Nachkommen Dmitrij Ivanovics von Uglic aus und bestritten den zwischen 1604 und 1612 häufig wechselnden und verschiedenen Familien entstammenden Zaren die dynastische Legitimität. Anders, so Perrie, verhielt es sich dagegen mit den Prätendenten, die im Zusammenhang mit den Kosakenrebellionen in der zweiten Jahrhunderthälfte auftauchten: Ihre Rhetorik sei eindeutig gegen die Bojaren und nicht gegen den Zaren gerichtet gewesen. Indem sich die Kosaken einen zumeist jung verstorbenen Zarensohn zur Galionsfigur nahmen, hätten sie ihrer Rebellion eine spezifische Legitimität verliehen, dem eigenen Heer gegenüber ebenso wie gegenüber dem Zaren.

Wie überhaupt das Wesen der zarischen Herrschaft im 17. Jahrhundert begriffen werden kann, diskutiert Robert O. Crummey in seinem komparatistisch angelegten Aufsatz "Seventeenth-Century Russia: Theories and Models" (113-131). Er will prüfen, wie weit die für andere Gesellschaften entwickelten Konzepte des Absolutismus, der orientalischen Despotie und des Patrimonialsystems auf die russischen Verhältnisse im 17. Jahrhundert sinnvoll angewendet werden können. Dabei besteht sein Ziel freilich nicht darin, eines dieser Modelle vollständig auf Russland zu applizieren; vielmehr will er auf diese Weise bestimmte Aspekte der russischen Autokratie deutlicher in den Blick bekommen; weil er dabei die Konzepte selbst, und zwar vor allem im Hinblick auf ihre starke Suggestionskraft, kritisch diskutiert, wird der Aufsatz methodisch besonders interessant.

Die gleichermaßen material- wie aspektenreiche Untersuchung Crummeys - geradezu ein Plädoyer für vergleichende Studien - spitzt sich auf die so häufig gestellte Frage zu, was denn die Autokratie grundsätzlich vom Absolutismus unterscheide. Für Crummey ist das nach wie vor die im europäischen Vergleich einmalige Position des Selbstherrschers, der eben theoretisch nur durch göttliches Recht beschränkt und in der Herrschaftspraxis zu Konsultationen nicht verpflichtet gewesen sei. Damit bestreitet er nicht, dass der Zar grundsätzlich auf den Konsens jedenfalls der großen Adelsfamilien angewiesen war, deshalb ihre Bedürfnisse berücksichtigen musste und sich zu diesem Zweck vielfältiger Kommunikationskanäle bediente; eine Tradition regulärer Konsultationen sei aber nicht entstanden. Die in diesem Band versammelten Studien können als Bestätigung dieser Einschätzung Crummeys gelten.

Damit zu der letzten Gruppe von Aufsätzen, jenen, die - wie im Grunde auch schon der Beitrag Crummeys - das gesamte Jahrhundert in den Blick nehmen. Chester Dunning interpretiert in seinem Aufsatz "The Legacy of Russia's First Civil War and the Time of Troubles" (133-155) die Smuta, die "Zeit der Wirren", anders als die bisherige, namentlich die sowjetische Forschung nicht als soziale Revolution, Bauernkrieg oder gar als Klassenkampf, sondern als Bürgerkrieg. Mit dieser Auffassung, so Dunning, könne er die beiden stets im Zusammenhang mit der Smuta erörterten Fragen viel plausibler beantworten, die eine Frage nämlich nach den Siegern und Verlierern der Smuta, die andere Frage nach den Gründen für die erstaunlich schnelle Regeneration der autokratischen Herrschaft bereits in den ersten Jahrzehten der Romanovs. Die neue Dynastie sieht er denn auch - und hier stimmt er der Forschung zu - als die Sieger der "Zeit der Wirren", während die unteren Schichten, namentlich die in die Schollenbindung absinkenden Bauern, auch für ihn die Verlierer sind. Differenziert zu beurteilen sei aber - der oben besprochene Aufsatz von Pavlov zeigte es bereits - die Entwicklung in den verschiedenen Adelsgruppen.

Noch komplexer erscheinen die Bedingungen für die bemerkenswerte Restauration der Zarenherrschaft nach 1613: Das harte Durchgreifen des Zaren gegenüber den Kosaken sei auf große Zustimmung in der Bevölkerung gestoßen, von politischen Innovationen sei abgesehen und vor allem auf die Herstellung und Bewahrung der Ruhe im Lande geachtet worden. In diesem Zusammenhang zieht Dunning eine - heuristische - Parallele zu den Verhältnissen in Frankreich nach der Französischen Revolution: Auch dort sei nach Revolution und Kriegen die Bereitschaft breiter Schichten zur Kooperation mit den staatlichen Autoritäten groß gewesen. Dass dies im Russland der ersten Romanovs ebenfalls so war, ist freilich kein ganz neuer Befund, wenngleich eine so sorgfältige Studie wie die Dunnings dazu bisher nicht vorlag.

Auf jeden Fall aber sind die Thesen Dunnings einer ausführlicheren Diskussion wert, als sie hier geführt werden kann. Das gilt zum einen für seine Interpretation der Smuta als Bürgerkrieg; für die Rezensentin hat die Dreiphaseninterpretation Sergej Platonovs - auf die dynastische Krise sei eine soziale und dann eine nationale Krise gefolgt [3] - ihre Plausibilität damit zunächst noch nicht verloren, zumal sie - anders als die Interpretation Dunnings - die außenpolitischen Aspekte des Geschehens zu integrieren vermag, nämlich die Voraussetzungen für die polnische und die schwedische Intervention im Zarenreich 1610-1619 und deren Bedeutung für die russische Geschichte in der ersten Jahrhunderthälfte. Einer Diskussion bedürfte zum anderen der Ansatz Dunnings, die Grundzüge der russischen Geschichte im 17. Jahrhundert von der Smuta her erklären zu wollen. Dieser Ansatz ist gewiss inspirierend, zumal er zu der üblichen Sicht vom 18. Jahrhundert her eine überlegenswerte Alternative darstellt; auch er lässt freilich Fragen offen.

Ähnlich wie Chester Dunning beschäftigen auch David M. Goldfrank unter dem Titel "Paradoxes (?) of Seventeenth-Century Muscovy" (157-166) die Gründe für die schnelle Regeneration der Zarenherrschaft und der Verfestigung des "fiscal-military state" nach der großen Krise zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Über die bereits besprochenen Aufsätze hinaus bringt er jedoch kaum neue Aspekte in die Diskussion; vor allem aber wird nicht deutlich, warum es sich bei den von ihm zu Recht in den Blick genommenen Entwicklungen - sie lassen sich fokussieren auf das immer wieder diskutierte Phänomen, dass im Grunde alle Schichten der Bevölkerung ihre fortgesetzte Entrechtung ohne koordinierten Widerstand, offenbar sogar mit einer gewissen Zustimmung geschehen ließen - um Paradoxien der russischen Geschichte im 17. Jahrhundert handeln soll.

Um eine Einordnung der Reformen des Zaren Fedor Alekseevi( (1676-1682) in den historischen Verlauf des 17. Jahrhunderts ("Rossija na poroge novogo vremeni: Reformy carja Fedora Alekseevi(a" (291-301)) geht es P.B. Sedov. Unter dem Titel "Russland an der Schwelle zur Neuzeit" bezieht er Position in einer neu aufgelebten Diskussion unter russischen Historikern über die Bedeutung der Regierungszeit dieses Zaren, mit dem schon Solov'ev die Neuzeit in Russland beginnen sah. Neuerdings ist A.P. Bogdanov in einigen Darstellungen noch weiter gegangen und hat behauptet, Fedor sei europäisch gebildet und in seiner Politik westlich orientiert, überhaupt in vielen Zügen wie sein jüngerer Bruder und Nachfolger Peter gewesen, während N. F. Demidova die Ansicht vertritt, Fedor habe sich in der ersten Regierungsphase ganz in der Hand der Familie Miloslavskij befunden, der Familie seiner Mutter, in der zweiten Phase sei er von den Golicyns dominiert worden, die aber bereits Reformen im Sinne des späteren "großen Reformzaren" eingeleitet hätten. Demidova relativiert also die Bedeutung der Person des Zaren, weniger wegen dessen körperlicher Schwäche, wie es sonst in der Regel geschieht, als vielmehr deshalb, weil er auf Grund seiner Jugend - er trat mit nicht einmal 15 Jahren die Regierung an - jedenfalls in den ersten Jahren selbst zur Regierung gar nicht in der Lage gewesen sei.

Zu Recht wendet sich nun Sedov dagegen, die Regierung Fedors an den Reformmaßnahmen Peters des Großen zu messen, ohne dabei die Politik des älteren Bruders selbst genau zu untersuchen. Leider aber gelangt auch Sedov zu keiner wirklich anderen, differenzierteren Beurteilung. Das 17. Jahrhundert ist für ihn ein Jahrhundert des Übergangs, das in vielerlei Hinsicht für einen dynamischen Wandel gestanden habe, schließlich aber doch in altmoskauischen Traditionen gebunden geblieben sei. Als einprägsames Beispiel aus den Ausführungen Sedovs mögen hier die Militärreformen dienen, die in den 1670er-Jahren dazu geführt hätten, dass die russische Armee nur noch zur Hälfte aus Truppen des alten Adelsaufgebots, zur anderen Hälfte aber bereits aus "Truppen neuer Ordnung" bestanden habe; Fedor habe mit der Aufhebung der Rangplatzordnung, des mestni(estvo, dann zwar eine größere Dynamik im Militärwesen ermöglicht, aber erst die Einführung der petrinischen Rangtabelle - an die Fedor wohl auch schon gedacht habe - habe Russland eine effektive Armee gebracht. Insgesamt seien die Reformen Fedors von einen "konservativen, bewahrenden Charakter" geprägt gewesen (300); der Zar habe die Altmoskauer Prinzipien nicht zerstören wollen. So seien denn die Reformen Fedors nicht wegen der Jugend oder der körperlichen Schwäche dieses Zaren nur in so geringem Maße realisiert worden, sondern vor allem deshalb, weil alle Versuche, das Land "auf altmoskauischer Grundlage", "na staromoskovskoj osnove" (300), aus der Krise zu führen, ohne die Prinzipien des Moskauer Lebens zu ändern, zum Scheitern verurteilt gewesen seien. Angesichts des eingangs formulierten Anspruchs, der differenzierten Fragestellungen und einer ganzen Reihe interessanter Befunde Sedovs erscheint diese Interpretation erstaunlich verkürzt, zumal er nicht erläutert, was er denn unter "Altmoskauer Prinzipien" versteht. Möglicherweise erfährt man in den anderen Darstellungen Sedovs Genaueres; hier aber wird zu Bekanntem nur wenig Neues hinzugefügt, das zudem umsichtiger hätte belegt werden können - insbesondere wenn behauptet wird, Simeon Polockij sei wohl Erzieher und Lehrer des eigentlich für die Throfolge vorgesehenen, aber 1670 gestorbenen Aleksej Alekssevi( gewesen, habe aber Fedor gar nicht unterrichtet. So bleibt der Eindruck zwiespältig, das Forschungsdesiderat aber unübersehbar.

Der letzte hier zu besprechende Aufsatz beschäftigt sich mit der Stellung der Frau im 17. Jahrhundert. Nada Boškovska, schon mit anderen Studien zur Geschichte der Frau im Moskauer Reich hervorgetreten, [4] geht in ihrem Beitrag ("Muscovite Women during the Seventeenth Century: Peak of Deprivation of their Rights or on the Road towards new Freedom?", (47-62)) der Frage nach, ob sich die Stellung der Frau im Russischen Kaiserreich des 18. Jahrhunderts im Vergleich zum 17. Jahrhundert verbessert oder verschlechtert habe. Sie erörtert dazu zwei Aspekte weiblicher Existenz im 17. Jahrhundert, nämlich - auf Grund zahlreicher und sehr unterschiedlicher Quellen - die rechtliche Stellung von Frauen, zum anderen - auf schmalerer Quellenbasis - die Aufgaben und Möglichkeiten der Zarinnen im 17. Jahrhundert. Mit ihrer These von der rechtlichen und ökonomischen Eigenständigkeit der Moskowiterinnen im 17. Jahrhundert setzt sich Boškovska von der vorherrschenden Forschungsmeinung ab. Sie zeigt an zahlreichen Beispielen, dass Frauen selbstständig vor Gericht klagen und als Zeuginnen auftreten konnten, dass sie durchaus Landbesitz erben und selbstständig einen eigenen Haushalt führen konnten, und zwar keineswegs nur als Witwen; und dass vor allem die Vorstellung von der "Abgeschlossenheit" der Moskowiterin nicht zu halten ist. Insbesondere sei aus der geringen Präsenz von Frauen in der "Öffentlichkeit" nicht auf ihre generelle Recht- und Machtlosigkeit zu schließen. Hinsichtlich der Stellung der Zarin betont sie vor allem die Aufgaben und Möglichkeiten der Herrschergattin, bei Abwesenheit des Zaren an dessen Stelle zu agieren und im Falle der Minderjährigkeit des regierenden Zaren die Regentschaft zu führen; hier decken sich die Befunde Boškovskas mit denen einer neuen Studie von Isolde Thyrêt. [5]

In ihrem abschließenden, knappen Ausblick ins 18. Jahrhundert betont Boškovska die Ambivalenz der weiteren Entwicklung: Gewiss habe der nun mögliche Zugang zu Bildung, Kultur und gesellschaftlicher Repräsentation die Lebensqualität der Frauen erhöht - jener Frauen allerdings bloß, die Zugang dazu hatten. In der nochmaligen Verschärfung der sozialen Gegensätze wie auch in der zunehmenden Trennung der öffentlichen von der privaten Sphäre sieht sie die Problematik der Entwicklung für die Frauen, denn es sei ja gerade das Fehlen einer solchen Trennung gewesen, das ihnen im 17. Jahrhundert die bislang zu wenig beachteten Möglichkeiten geboten habe.

Die Darstellung Boškosvkas beeindruckt durch eine Fülle interessanter Details, und die Interpretationen leuchten sehr ein. Nicht immer jedoch erfährt man, auf welche soziale Schicht oder Gruppe sich Befunde und Aussagen beziehen. Auch hätte es der Überzeugungskraft ihrer Studie gewiss genützt, wenn sie - wenigstens hin und wieder - stärker deutlich gemacht hätte, welche Quellen von der bisherigen Forschung im Einzelnen anders gedeutet worden sind als von ihr, zumal sie sich mit ihrer These, die Moskowiterin habe nicht so abgeschlossen gelebt, wie vor allem die ausländischen Reiseberichte kolportieren, von niemand geringerem absetzt als von Nancy Shields Kollmann. [6] Ferner wäre es gewiss hilfreich gewesen, wenn sie in ihren Fußnoten nicht bloß die Archivsignatur respektive Seite der Quellensammlung genannt, sondern auch angegeben hätte, um welche Art von Quelle es sich jeweils handelt. Man erfährt daher oft genug nicht, ob der Aussage ein normativer Text, eine Klage, ein Bescheid oder eine Mitteilung zu Grunde liegt, mithin: welche Perspektive die Quelle zu dem Geschehen einnimmt. Erführe das der Leser, könnte er ihrer Argumentation selbst folgen. Freilich gilt diese Kritik auch manch anderem Beitrag.

Der in vielerlei Hinsicht äußerst anregende Band vermittelt einen guten Eindruck von den derzeit bevorzugt diskutierten Sach- und Forschungsfragen in der russischen Geschichte des 17. Jahrhunderts; einige Befunde seien abschließend noch einmal betont.

Besondere Erwähnung verdient zunächst, dass viele Beiträge auf umfassenden Archivstudien beruhen; dabei zeigt sich, dass auch russische Gerichtsakten nicht nur für rechtsgeschichtliche Studien, sondern ebenso für sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragen mit Gewinn zu nutzen sind. Überhaupt erscheinen gerade jene Beiträge am ertragreichsten und anregendsten, deren Ergebnisse auf sorgfältigem Quellenstudium beruhen.

Ferner vermittelt dieser Band zahlreiche Erkenntnisse von weiter reichender Bedeutung. So wird zum einen deutlich, dass die Autokratie weniger autokratisch war als zumeist angenommen - weniger autokratisch nun aber nicht auf Grund eventueller rechtlicher Beschränkungen herrscherlicher Gewalt, sondern deshalb, weil der Zar nicht über die finanziellen, administrativen und personellen Mittel verfügte, um seinem Herrschaftsanspruch - der grundsätzlich unbestritten war - immer und überall vollständig Geltung zu verschaffen. Dadurch entstanden Spielräume, die die Betroffenen nutzen konnten - die allerdings nur dann sichtbar werden, wenn nicht bloß Moskau und die Spitze des Staats, sondern auch, wie hier, die Verhältnisse in den Regionen untersucht werden. Neue und genauere Erkenntnisse über die politischen Strukturen des vorpetrinischen Russland dürften überhaupt dann zu erwarten sein, wenn die Frage nach den Gründen für das Fehlen einer institutionalisierten Beschränkung der Zarenherrschaft ergänzt wird durch ein genaueres Aufspüren der Handlungsspielräume der Beteiligten, des Zaren wie des Adels. In diesem Zusammenhang wäre auch die Rolle der Kirche in den Blick zu nehmen, dabei auch ihre soziale Struktur, war sie doch, nach allem, was man bislang weiß, im Unterschied zu den Kirchen im Westen, keine Adelskirche.

Deutlich wird zum anderen, dass sich unter bestimmten Bedingungen erstaunliche Koalititonen ergeben konnten: wenn etwa der Zar, der ökumenische Patriarch und bildungsinteressierte Bojaren versuchten, den Moskauer Patriarchen zur Errichtung von Schulen zu bewegen. Einer genaueren Untersuchung, so der Eindruck der Rezensentin, bedarf möglicherweise die Frage des "griechischen Einflusses", der hier unter verschiedenen Aspekten zur Sprache kam. Wie "griechisch" ist denn der Einfluss, wenn sich in den Positionen, die vom ökumenischen Patriarchat gegenüber Moskau geäußert werden, die konfessionellen Kontroversen zwischen der evangelischen und der römischen Kirche spiegeln? Ob man in den großen Kirchen Moskau vielleicht keine zutreffende Vorstellung davon hatte, wie sehr sich Konstantinopel selbst im 16. und 17. Jahrhundert wandelte?

Ferner wird deutlich, dass schon in den 1670er-Jahren viele Entwicklungen ihren Anfang nahmen, die in der Regel erst in der Zeit Peters des Großen vermutet werden; nicht umsonst hat Hans-Joachim Torke ja schon vor Jahren an prominenter Stelle vom "Durchbruch der Neuzeit" in der Regierungszeit des Zaren Fedor und seiner Schwester Sof'ja gesprochen. [7] Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage, ob Simeon Polockij nun auch den Zaren Fedor mit der lateinischen und polnischen Kultur vertraut gemacht hat oder nicht, zweitrangig; vielmehr wird der Blick erneut auf Zar Aleksej zu richten sein, der ja diesen Gelehrten an den Zarenhof holte und überhaupt damit begann, das Zarenreich für westliche Einflüsse zu öffnen. Freilich sollte die immer noch verbreitete Konzentration auf einzelne Herrscherpersönlichkeiten zunehmend um methodisch reflektierte, stärker strukturgeschichtlich orientierte Fragen erweitert werden. Dieser Band vermittelt bereits zahlreiche Anregungen, wie das geschehen könnte. Stärker als bislang wäre nach Ansicht der Rezensentin allerdings der Wandel der auswärtigen Politik des Zarenhofs einzubeziehen, einer Politik, die Russland seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in die außenpolitischen Konstellationen Europas einbezog und ihrerseits den Wandel im Innern in vielfältiger Weise beeinflusste und beschleunigte.

Deutlich wird schließlich, dass der vielschichtige Wandel der gesellschaftlichen Konstellationen im Russland des 17. Jahrhunderts nicht in Kategorien von Siegern und Verlierern begriffen werden kann - wie es denn insgesamt nicht weiterführend erscheint, das russische 17. Jahrhundert mit einem einzigen Begriff, sei es als "vorpetrinisches", "griechisches" oder "altmoskauisches" Jahrhundert, erfassen zu wollen. Was denn des Genaueren "vorpetrinisch", was "griechisch" und was "altmoskauisch" war, ist nämlich - und eben das zeigt der Band überdeutlich - gar nicht mit Sicherheit zu sagen: Das Zarenreich war längst kein isoliertes Land mehr, sondern mit einer ganzen Reihe der anderen europäischen Länder vielfach verflochten. Dieser Band zeigt denn auch, welchen Facettenreichtum Russland im 17. Jahrhundert zu bieten hat, wenn man nicht bloß durch die Brille des 18. Jahrhunderts schaut; und er zeigt bei alledem, wie viel sich Osteuropahistoriker und "gewöhnliche Frühneuzeitler" zu sagen haben können.

Anmerkungen:

[1] Bushkovitch liefert damit weitere Belege für entsprechende Annahmen Torkes; vgl. Hans-Joachim Torke: Moskau und sein Westen. Zur "Ruthenisierung" der russischen Kultur, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996/1, 101-120, hier: 113.

[2] Vgl. etwa Aleksandr M. Panèenko: Lachen als Schauspiel, in: Dmitirj S. Licha(ev / Aleksandr M. Pan(enko, Die Lachwelt des alten Rußland, hg. v. Renate Lachman, München 1991, 85-183.

[3] Platonov unter diejenigen einzureihen, die die "Zeit der Wirren" bloß als "a social struggle linked to serfdom" begriffen hätten (133, Anm. 1), erscheint unzutreffend.

[4] Vor allem durch ihre Dissertation: Die russische Frau im 17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien 1998.

[5] Isolde Thyrêt: Between God and Tsar. Religious Symbolism and the Royal Women of Muscovite Russia, DeKalb, Ill. 2001.

[6] Vgl. vor allem deren Aufsatz The Seclusion of Elite Muscovite Women, in: Russian History 10 (1983), 170-187.

[7] In: Klaus Zernack (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2/1, Stuttgart 1986, 152-182.


Christine Roll