Rezension über:

David M. Palliser (ed.): The Cambridge Urban History of Britain. Volume 1: 600 - 1540, Cambridge: Cambridge University Press 2000, XXVI + 841 S., 26 half-tones, 29 tables, 47 figures, ISBN 978-0-521-44461-3, EUR 90,00
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Rezension von:
Harald Müller
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann
Empfohlene Zitierweise:
Harald Müller: Rezension von: David M. Palliser (ed.): The Cambridge Urban History of Britain. Volume 1: 600 - 1540, Cambridge: Cambridge University Press 2000, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 9 [15.09.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/09/2915.html


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David M. Palliser (ed.): The Cambridge Urban History of Britain

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Das Programm, das sich dieser erste der auf drei Bände angelegten "Cambridge Urban History of Britain" vorgenommen hat, ist im Hinblick auf Zeit, Raum und Untersuchungsobjekt immens. Zeitlich von den nachrömischen Anfängen des 7. Jahrhunderts bis in die Renaissance ausgreifend, handelt es sich von vornherein um eine Bestandsaufnahme der longue durée.

Eine zweite, entscheidendere Hürde markiert die geografische Ausdehnung. Hinter "Britain" verbergen sich mit England, Schottland und Wales - Irland bleibt abweichend vom weiten Britannia-Begriff der mittelalterlichen Geografen unberücksichtigt (!) - nicht nur drei Gebilde mit erheblichen Phasenverschiebungen in der kulturellen, ökonomischen und politischen Entwicklung, sie sind zum Teil selbst jeweils nur als geografische, nicht aber als homogene politische Einheiten zu begreifen.

Drittens, so scheint es schließlich, verlangt erst recht angesichts dieser Dimensionen und Qualitäten das Phänomen Stadt als Objekt der Untersuchung nach größtmöglicher Präzision. Zur Überraschung des (vielleicht zu) definitionsfixierten Lesers kommt dieser erste Band der Urban History jedoch ohne ein Theoriekapitel aus. Zur Bestimmung dessen, was künftig unter "town" verstanden wird, reicht die erste Fußnote in der Einführung des Herausgebers. Unabhängig von Größe, Herrschaftsform oder anderen wandlungsfähigen Kennzeichen wird Stadt im Sinne der Implikationen des modernen Stadtbegriffs verwendet (3).

Als Arbeitsansatz dient dabei eine an soziologische Betrachtungsweisen angelehnte Doppelstrategie: Im funktionalen Sinne bezeichnet "Stadt" eine dauerhafte Siedlung, in der ein beträchtlicher Bevölkerungsteil nicht-agrarischen Tätigkeiten nachgeht, im sozialen Sinne zielt der Terminus auf eine Einwohnerschaft, die im eigenen Selbstverständnis wie in der Wahrnehmung der meist ländlichen Umlandbewohner als eine differente Gruppe, eben als Stadtmenschen, betrachtet wird.

Diese Wahl ist der vorrangig neuzeitlichen Bedeutung britischer Städte geschuldet, auf die sich der Blick in den Folgebänden richtet. Sie setzt sich zugleich explizit ab von der kumulativen, dem "Kriterienbündel" (5) verhafteten Definitorik der klassischen Stadtgeschichtsforschung. Der recht offene, auf Urbanität zielende Stadtbegriff signalisiert eine programmatische Wendung von der verfassungsgeschichtlich orientierten, auf Schriftquellen fixierten Darstellung Maitland'scher Prägung hin zu einer Erforschung, die Institutionen und Personen gleicher gewichtet und ihren Zugang im komplexen Zusammenspiel vielfältiger Deutungen von Dokumenten, topografischen und archäologischen Befunden sucht.

Der rund 900 Jahre umfassende Untersuchungszeitraum wird nach einem Blick auf die Ursprünge in zwei Einheiten untergliedert. Die erste reicht vom 7. bis zum 14. Jahrhundert und erfasst die Wachstumsphase des britischen Städtenetzes. Damit wird eine breite Kontinuität zur Römerzeit verneint, nicht aber die Prägekraft des römisch-britischen Städtewesens für Einzelfälle wie London und York in Abrede gestellt. Den zahlenmäßig und geografisch begrenzten Gründungen der angelsächsischen Zeit folgte vom Ende des 11. Jahrhunderts die Ausdehnung und Verdichtung des Städtenetzes über ganz Britannien; in Wales setzen die Stadtgründen allerdings überhaupt erst mit der normannischen Eroberung ein, in Schottland erst Ende des 11. Jahrhunderts.

Um 1300 ist die Stadt, in der nun rund 15 Prozent der Gesamtbevölkerung heimisch sind, als fester Bestandteil der Gesellschaft in den Inselreichen etabliert. Man kann hier, so die Konzeption des Bandes, einen Wendepunkt ausmachen. Die Expansion der Städte kommt zum Erliegen, scheint sich gar in einen demographischen Schrumpfungsprozess umzukehren. Dies und die Tatsache, dass sich im Laufe der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Quellenlage substanziell ändert - nun werden in größerem Umfang Dokumente verfügbar, welche die Stadt aus der Binnenperspektive ihrer Einwohner zeigen - rechtfertigt, hier die zentrale chronologische Zäsur anzusetzen.

Der zweite chronologische Teil des Bandes reicht bis 1540, womit die so genannte englische Reformation angesprochen ist, deren primär religiöse Umwälzungen auch für die städtische Gesellschaft eine Phase tief greifenden Wandels mit sich brachte.

Innerhalb dieser Zweiteilung versucht das Autorenkollektiv, das disparate Forschungsfeld mithilfe einer gleich bleibenden inhaltlichen Segmentierung zu vermessen. Dabei orientiert man sich an bewährten Wegmarken: Einem Überblickskapitel folgen jeweils Analysen der Herrschaftsverhältnisse ("Power and Authority"), der gesellschaftlichen Zusammensetzung, der wirtschaftlichen Situation, Beiträge zu Kirche und Kultur und zur Topografie. Abgerundet wird dies im ersten Teil durch eine diachrone Betrachtungsperspektive, die zunächst London, die größeren und schließlich die kleineren Städte typologisch beleuchtet.

Dasselbe Schema kommt für das Spätmittelalter zur Anwendung, wobei die im Kern gleichen, aber feinsinniger gestalteten Kapitelüberschriften die auf Grund der Quellenlage differenzierteren Aussagemöglichkeiten andeuten ("Churches, education and literacy in towns 600-1300" und "Urban culture and the church 1300-1540"). Hinzugenommen ist bei der typologischen Betrachtung hier noch die Kategorie der Hafenstädte, die für die Erschließung und Durchdringung der Inselreiche vom Rande her von ebenso eminenter Bedeutung waren wie für den internen und europaweiten maritimen Kontakt.

Das auf Vergleichbarkeit hin angelegte Konzept, das verfestigte Strukturen und dynamische Entwicklung durch die Zeit gleichermaßen zu fassen sucht, wird weiterhin ergänzt durch Überblicke über die regionale Entwicklung in den Teilen Englands, in Wales und - erkennbar abgesetzt - in Schottland. Hier zeigt sich am konsequentesten die von den Herausgebern angestrebte Einbettung der Stadt in die Geschichte des nahen und weiteren Umlandes. Die mehrperspektivische Herangehensweise wird schließlich abgerundet durch Ranglisten der mittelalterlichen Städte. Sie basieren auf Angaben zu Fläche, Bevölkerungszahlen und Steuer- beziehungsweise Subsidienzahlungen aus sozio-ökonomischen Quellen unterschiedlicher Zeitstellungen.

Diese Klassierung ist zweifellos ein mutiges Unterfangen, das - wie ihr Schöpfer Alan Dyer selbst einräumt - "should only be used with care and more than a touch of cynicism" (747). Man wird die übersichtliche Bereitstellung einiger Vergleichsgrößen aber trotz aller Vorbehalte als nützliches Orientierungsschema schätzen lernen, wenn man die generellen Aussagen des Bandes auf konkrete Objekte zu beziehen sucht.

Dass man verfassungsgeschichtliche Daten, etwa Stadtrechtsverleihungen, Handfesten, Weistümer oder Ähnliches, in diesem Anhang ebenso vergeblich sucht wie den Rekurs auf sonst unverzichtbare "Säulenheilige" europäischer Stadtgeschichtsforschung von Max Weber bis Edith Ennen in Text und Literaturangaben ist einmal mehr programmatisch zu verstehen. Der Band vollzieht die Abkehr von traditionellen definitorischen Ansätzen - durchaus nicht immer ohne leise Polemik: "Isidore of Seville had defined a city (urbs) as 'made by its walls', and German and French medievalists still tend to assume a similar definition" (175) - und versucht stattdessen den Gedanken der Urbanität auch für das Mittelalter fruchtbar zu machen. Ob sich dies beispielgebend für die europäische Stadtgeschichte durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Gliederung und Durchführung des Bandes verraten, dass keineswegs die altbekannten Zugriffe sämtlich über Bord geworfen werden können.

Der Band, der mit einer Auswahlbibliographie versehen, mit zahlreichen Karten, Plänen und Abbildungen instruktiv illustriert und durch einen detaillierten Index erschlossen ist, besticht durch seine wohltuende Mischung aus souveräner Synthese, Illustration am konkreten Beispiel und Hinführung zu kontroversen Forschungsmeinungen: Ein magistrales Resümee britischer Stadtgeschichtsforschung der letzten 30 Jahre und zugleich für den Stadthistoriker ein immens anregendes Arbeitsmittel, das den dringenden Wunsch nach ähnlich niveauvollen Handbüchern zum Städtewesen anderer Länder oder gar Europas weckt.


Harald Müller