Rezension über:

Reinhold Kaiser: Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter. Unter Mitarbeit von Marie-Thérèse Kaiser-Guyot, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, 389 S., ISBN 978-3-412-02502-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Gunther Hirschfelder
Volkskundliches Seminar, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Gunther Hirschfelder: Rezension von: Reinhold Kaiser: Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter. Unter Mitarbeit von Marie-Thérèse Kaiser-Guyot, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2002, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 4 [15.04.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/04/1892.html


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Reinhold Kaiser: Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter

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Im Wintersemester 1995/1996 hat der Verfasser der vorliegenden Monografie ein Seminar abgehalten, in welchem es um Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter ging, mithin um einen Stoff, der historische Prozesse in hervorragender Weise transparent zu machen vermag und der zudem eine hinreichende Affinität zur Lebensrealität heutiger Studierender aufweist. Dieses Seminar, so ist dem Vorwort der zu besprechenden Studie zu entnehmen, gab den Anstoß zu intensiverer Beschäftigung mit dem Thema.

Dass die Ernährung einen grundlegenden Indikator für die Analyse historischer Prozesse darstellen kann, ist seit den 1960er-Jahren bekannt. Dennoch ist der Quellenwert des Alkoholkonsums erst in jüngster Zeit in den Fokus der Geschichts- und der Kulturwissenschaften gerückt, obwohl sich eine Betrachtung der alkoholischen Getränke für vergleichende Studien in besonderem Maße anbietet, da sie häufig im öffentlichen Raum konsumiert wurden und sowohl aus ordnungspolitischen als auch aus fiskalischen Gründen einen vergleichsweise reichen Niederschlag in den Quellen gefunden haben. Das trifft sogar für das frühe und hohe Mittelalter zu, für diejenige Zeit, die der vorliegende Band behandelt. Ein Fortsetzungsband über das Spätmittelalter und den Übergang zur Frühneuzeit aus der Feder derselben Autoren ist in Planung. Insofern ist der Titel des Buches etwas irreführend, denn tatsächlich handelt es sich um eine Darstellung antiker, früh- und hochmittelalterlicher Verhältnisse. Der räumliche Rahmen umfasst weite Teile Europas und ist somit sehr weit gesteckt, was in Quellenlage und Thema begründet ist - für eine Regionalstudie hätte das Material kaum ausgereicht.

Eine ausführliche Einleitung (9-22) erschließt Thema und Problematik; wobei deutlich wird, dass der Verfasser sich seinen Untersuchungsgegenstand akribisch erschlossen hat. Es wäre allerdings eine Überlegung wert, für den zweiten Band noch stärker die Ergebnisse der Neuzeitforschung zu rezipieren. Das betrifft einmal den Aspekt der Gewalt, den Kaiser im vorliegenden Band aus der Sicht der Mediävistik gründlich erschlossen hat. Aber eine Berücksichtigung etwa der Ansätze Gerd Schwerhoffs oder der theoretischen Überlegungen von Martin Dinges (Gewalt und Zivilisationsprozeß, in: Traverse 1995/1) hätte zusätzliche Interpretationshorizonte eröffnet. Eine stärkere Berücksichtigung von Ansätzen der Frühneuzeitforschung hätte auch das Thema des Konsums der alkoholischen Getränke erweitern können; hier haben unter anderem Michael Frank, Beat Kümin und B. Ann Tlusty in jüngster Zeit Impulse gegeben, die den Rahmen der bisherigen Forschung deutlich erweitern konnten, welche häufig stark von einer überkommenen Kultur- und Sittengeschichte geprägt war.

Kaisers Monografie ist in drei übersichtliche und spannend zu lesende Hauptkapitel gegliedert. Zunächst geht es um die "Konfrontation zweiter Welten", um "mediterrane Weinzivilisation" auf der einen und um "weinloses Barbaricum" auf der anderen Seite. Dabei wird der Begrenzung der Gewalt durch die Weisheitslehren des Alten Testamentes gebührende Rechnung getragen, denn in den Diskussionen um die Zusammenhänge zwischen Alkoholrausch und Gewalt spielten die biblischen Argumentationskonzepte während des gesamten Mittelalters eine tragende Rolle. Kaiser zeigt, dass "in der Geschichte des Volkes Israel der Wein als Gewalttäter, als Verursacher und als Begleiter von Gewalt sowie als Aufforderer zur Gewalttätigkeit erfahren worden ist" (25). Diesen kritischen Umgang vergleicht Kaiser anschließend mit den Konzepten der griechischen und der römischen Antike sowie mit der neuen Moralisierung und Spiritualisierung des Alkoholgenusses, wie sie im Neuen Testament und bei den Kirchenvätern begegnen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass einer prinzipiellen sozialen Akzeptanz des Rausches bei Griechen und Römern eine Ablehnung bei Juden und Christen gegenüber stand.

Das zweite Hauptkapitel behandelt die "Akkulturation des weinlosen Barbaricum". Einem Prolegomenon über die Ausbreitung des Weinbaus infolge der römischen Expansion nach Norden folgt eine Diskussion der Frage, ob die Barbaren im Zuge des Akkulturationsprozesses einen Alkoholschock erfuhren. Anschließend geht Kaiser den Zusammenhängen zwischen "Rausch und Gewalt in der zivilisatorischen Umbruchphase des frühen Mittelalters" (67-103) sowie der "Wahrnehmung der Gefahren für Leib und Seele" (104-132) nach. In diesen Kapiteln kann die Monografie ihre entscheidende Stärke ausspielen, nämlich die enormen Quellenkenntnisse des Autors. Kaiser kommt zu dem Ergebnis, dass es im Verlauf dieser Akkulturation zur Ausbildung nationaler Stereotypen kam und dass sich auch Grundtypen von Gewalttaten herausbildeten, bei denen gesteuerte Trunkenheit und Mordpläne eine gefährliche Sprengkraft entwickeln konnten. Dass die Zusammenhänge zwischen Rausch und Gewalt derart kontrovers diskutiert wurden, wertet Kaiser nicht zuletzt als das Ergebnis einer jüdisch-frühchristlichen Bewertung des Rausches, in deren Konsequenz es später auch zu einer deutlich ablehnenden Bewertung des Alkoholkonsums der Kleriker kam.

Im dritten Hauptkapitel geht es um das kollektive Trinken, um "Ritual sozialer Gruppen und Gewaltpotential im frühen und hohen Mittelalter" (133-212), also nicht um den Sonderfall Mord, sondern eher um die Alltagserfahrungen eines größeren Teils der Bevölkerung. Die individuelle und kollektive Berauschung, so Kaiser in seinem Fazit, "kannte sehr verschiedene Formen: im Rahmen monastischer Gemeinschaften, im Rahmen der Gildeversammlungen und/oder convivia, im Rahmen sozialer Gruppen und Schichten, im Kontext wiederkehrender oder einmaliger Gelegenheiten der kirchlichen und weltlichen Feste und unter den stärker individualisierenden Bedingungen einer neuen, kommerziellen Gastlichkeit der Tavernen" (216-217). Auch rechtshistorische Überlegungen bindet Kaiser in sein Argumentationskonzept ein, wenn er etwa die im 12. Jahrhundert einsetzende Reflexion über den strafverschärfenden oder -mildernden Einfluss der Trunkenheit im kanonischen Recht diskutiert. Aus der Sicht seiner Disziplin, der Volkskunde/Europäischen Ethnologie, nimmt der Rezensent an dieser Stelle dankbar zur Kenntnis, dass der sozialen Realität in diesem Kapitel viel Platz eingeräumt wurde und dass mit der kulturwissenschaftlichen Kategorie "Akkulturation" ein fruchtbarer Interpretationsansatz gewählt wurde; hingegen hätte sich der Rezensent eine sorgsamere Differenzierung im Umgang mit den Begriffen "Brauch", "Sitte", "Ritual" und "Fest" gewünscht.

Was bleibt als Ergebnis? Reinhold Kaiser und Marie-Thérèse Kaiser-Guyot gebührt das Verdienst, die Konzepte der historischen Alkoholforschung auf jene Epoche übertragen zu haben, in denen die Zusammenhänge zwischen Alkoholrausch und Gewalt wohl am augenfälligsten waren, auf die Spätantike und die früheren Phasen des Mittelalters. Die Auswahl der Quellen ist vorbildlich und die Interpretation erfolgt stets auf eine Weise, welche die Quellen nicht überstrapaziert. Möglicherweise hätte man durch eine Gliederung, die sich primär an leitenden Fragestellungen und weniger an der Struktur der Quellen orientiert hätte, zu noch weiter reichenden Erkenntnissen gelangen können. Das ändert aber nichts an einem durchweg positiven Fazit. Insgesamt ist die Monografie schließlich nicht als Endpunkt einer Diskussion zu verstehen; vielmehr sind wesentliche Problemfelder benannt und erschlossen worden, sodass weiteren Studien ein operabler Weg gewiesen werden konnte.


Gunther Hirschfelder