Rezension über:

Witold Kulesza / Andrzej Rzeplinski (Hgg.): Przestępstwa sędziów i prokuratorów w Polsce lat 1944-1956. [Verbrechen von Richtern und Staatsanwälten in Polen in den Jahren 1944-1956.], 2., verv. Aufl., Warschau: Instytut Pamięci Narodowej, 554 S., ISBN 978-83-908819-2-8, 47,20
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Robert Zurek
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Robert Zurek: Rezension von: Witold Kulesza / Andrzej Rzeplinski (Hgg.): Przestępstwa sędziów i prokuratorów w Polsce lat 1944-1956. [Verbrechen von Richtern und Staatsanwälten in Polen in den Jahren 1944-1956.], 2., verv. Aufl., Warschau: Instytut Pamięci Narodowej, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 5 [15.05.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/05/3003.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Witold Kulesza / Andrzej Rzeplinski (Hgg.): Przestępstwa sędziów i prokuratorów w Polsce lat 1944-1956

Textgröße: A A A

In den demokratischen Staatsformen wird die Unterscheidung der drei Staatsfunktionen Legislative, Judikative und Exekutive und deren Zuweisung an voneinander unabhängige Staatsorgane als ein Mittel zur Verhinderung von Machtmissbrauch und zur rechtsstaatlichen Sicherung der bürgerlichen Freiheiten verstanden und verwirklicht. Zum Wesen des Totalitarismus gehört dagegen das Bestreben, das Prinzip der Gewaltenteilung zu beseitigen und eine Alleinherrschaft über alle Staatsfunktionen durch das regierende Regime durchzusetzen.

In den kommunistischen "Volksdemokratien" wurde dies mit dem Axiom des "demokratischen Zentralismus" begründet, gemäß dem sowohl der Staatsapparat als auch alle gesellschaftlichen Organisationen durch die kommunistischen Parteien geleitet werden sollten. In diesem Sinne wurde in allen von Kommunisten regierten Staaten nicht nur die Legislative und die Exekutive, sondern auch die Judikative unterwandert, kontrolliert und für die politischen Ziele der Machthaber eingespannt. Die Zielsetzung der Gerichte lag folglich nicht primär in der authentischen Rechtsprechung, sondern darin, eines der Werkzeuge der kommunistischen Regime zu sein, das zur Untermauerung der eigenen Macht sowie zur Vernichtung der politischen Opposition und jeglicher gesellschaftlicher Mündigkeit beitragen sollte.

Der Erforschung dieser Funktion der Judikative im kommunistischen Polen 1944-1956 widmet sich der von Witold Kulesza und Andrzej Rzepliński herausgegebene Sammelband. Dieser enthält 26 Beiträge, die anlässlich von insgesamt vier im Jahre 1999 abgehaltenen Tagungen zum Thema "Verbrechen der Richter und Staatsanwälte in Polen in den Jahren 1944-1956" entstanden. Diese Tagungen wurden vom "Institut des Nationalen Gedenkens", vom "Institut für soziale Prävention und Resozialisierung" der Warschauer Universität sowie von der polnischen "Helsinki-Föderation für Menschenrechte" durchgeführt. Die Beiträge wurden sowohl von Rechtswissenschaftlern, Juristen und Zeithistorikern als auch von Opfern der Justizverbrechen verfasst.

Das Buch ist in vier Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil wird in vier Beiträgen die "Entstehungsgeschichte und Rechtsgrundlage von Gerichtsverfahren und Quasi-Gerichtsverfahren im Repressionssystem" der Volksrepublik Polen 1944-1956 vorgestellt. Besondere Beachtung verdient dabei der Beitrag von Rzepliński, in dem Mechanismen und der Verlauf der "Anpassung des Gerichtswesens an die Anforderungen des Totalitärstaates" im frühen Nachkriegspolen geschildert werden (9-38).

Im zweiten und zugleich umfangreichsten Hauptteil (14 Beiträge) wird anhand zahlreicher Fallbeispiele die "gerichtliche Praxis der politischen Repressionen" veranschaulicht. Dabei werden nicht nur Justizverbrechen gegen sensu stricto politische Gegner des Kommunismus vorgestellt, sondern auch die im Zuge der Kollektivierung der Landwirtschaft und Sowjetisierung des gesellschaftlichen Lebens angewandten gerichtlichen Maßnahmen gegen Bauern, Privathandel und Handwerk. Diese Berichte und Analysen werden durch Erinnerungen von Betroffenen begleitet, die einen Einblick in die unmenschlichen Verhörmethoden und in sonstige ständige Missachtungen selbst der stalinistischen, zur Durchsetzung der eigenen politischen Ziele geschaffenen rechtlichen Grundlagen seitens der kommunistischen Judikative gewähren.

Im dritten Abschnitt (7 Beiträge) werden die "Staatsanwaltschaft und Quasi-Gerichtsorgane" des frühen Nachkriegspolen sowie ihre gegenseitigen Beziehungen anhand von Fallbeispielen näher vorgestellt. Den thematischen Rahmen dieses Hauptteils sprengend, aber dafür von besonderem Interesse für den deutschen Leser ist der Beitrag von Jerzy Kochanowski "Deutsche Kriegsgefangene in Polen 1945-1950 im Lichte der Genfer Konvention" (485-504), worin der Autor die Bestimmungen der Genfer Konvention mit der Realität der Gefangenenlager im stalinistischen Polen konfrontiert.

Der vierte Teil ("Rechtsgrundlagen der Verantwortung für Verbrechen") besteht nur aus dem Beitrag von Kulesza, "Strafverantwortung der Richter und der Staatsanwaltschaft für die begangenen Gerichtsverbrechen" (507-515). Darin definiert der Verfasser die Schuld der stalinistischen Richter und Staatsanwälte in juristischen Kategorien, untersucht den Umgang mit den NS- und kommunistischen Gerichtsverbrechen in der Bundesrepublik nach 1945 beziehungsweise 1990 und erwägt die Möglichkeit rechtlicher Schritte gegen Justizverbrecher in Polen.

Mit dem Erscheinen dieses Sammelbandes ist die Erforschung des darin untersuchten Themenkomplexes keineswegs abgeschlossen, sie wurde vielmehr erst begonnen. Insbesondere zu den im zweiten und dritten Abschnitt behandelten Themen liefert das Buch keinerlei systematische Untersuchung, sondern nur zahlreiche Fallstudien. Zudem werden manche wichtige Themen ausgelassen, wie etwa die Maßnahmen gegen die römisch-katholische Kirche. [1] Dabei waren die Schauprozesse gegen die Angehörige der Kirche (beispielsweise gegen Bischof Kaczmarek von Kielce 1953) ein wesentlicher Bestandteil des stalinistischen Kampfes um die totale Beherrschung der Gesellschaft.

Nichtsdestotrotz stellt die vorliegende Veröffentlichung einen sehr wichtigen Beitrag zur Erforschung eines der tragischsten und wissenschaftlich bisher kaum erfassten Kapitel der neuesten Geschichte Polens dar. Dank ihrer auch rechtswissenschaftlichen Ausrichtung kann sie zudem rechtliche Schritte gegen noch lebende stalinistische Richter und Staatsanwälte begründen. Eine gerichtliche Auseinandersetzung der polnischen Judikative mit den Justizverbrechen Volkspolens würde auf geradezu symbolische Weise zur Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit Polens beitragen.

Anmerkung:

[1] Im Buch wird nur ein Fallbeispiel aus dem griechisch-katholischen Bereich präsentiert: Zbigniew K. Wójcik: Politische Gerichtsverfahren gegen Geistliche der griechisch-katholischen Diözese von Przemyśl vor dem Militärbezirksgericht in Rzeszów 1946-1954, S. 169-194.

Robert Zurek