Rezension über:

Volker Frobarth: Das Königsberger Gebiet in der Politik der Sowjetunion 1945-1990. Mit einer analytischen Betrachtung des Kaliningrader Gebiets in der Politik Rußlands 1991-2000, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2001, 297 S., ISBN 978-3-8305-0226-5, EUR 34,00
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Rezension von:
Eckhard Matthes
Lüneburg
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Eckhard Matthes: Rezension von: Volker Frobarth: Das Königsberger Gebiet in der Politik der Sowjetunion 1945-1990. Mit einer analytischen Betrachtung des Kaliningrader Gebiets in der Politik Rußlands 1991-2000, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 7/8 [15.07.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/07/3349.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Volker Frobarth: Das Königsberger Gebiet in der Politik der Sowjetunion 1945-1990

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Hatte die sowjetische Führung eine Konzeption zur Behandlung des eroberten Gebiets und wenn ja, wurde diese im Verlaufe der Jahre modifiziert? Welcher Einfluss ging von Kaliningrad selbst auf die Moskauer Politik aus? Wie wurden die Moskauer Entscheidungen in den Kaliningrader Alltag übersetzt? Wie ging die Moskauer Zentrale mit der Diskrepanz zwischen historischem Erbe und sowjetischer Zukunftsgestaltung der Region um? Welchen Vorgaben, Anforderungen und Zielen folgten der Verwaltungsaufbau und die Verwaltungspraxis unter militärischer Zuständigkeit zwischen April 1945 und Mai 1946? Wie verlief die Übergabe der Verwaltungskompetenz aus militärischer in zivile Zuständigkeit zwischen Mai und Dezember 1946? Was waren die Gründe für die große Zahl von Neusiedlern, die Kaliningrad in den ersten Jahren wieder verließen? Was waren die Rahmenbedingungen und Auswirkungen des Status als "Grenz-Sperrgebiet" für die Bevölkerung?

In das Überschneidungsfeld dieser und weiterer Fragestellungen begab sich der Autor mit seiner 1999 in Kiel vorgelegten Dissertation. Er fand offene Archive in Russland und eine vielversprechende Forschungssituation vor, in der sich die ideologischen Leitlinien des Kalten Krieges aufzulösen begannen. Das waren Startvorteile für die Beantwortung neuer Fragen, die auf Desiderata der Forschung in Deutschland und Russland zuführen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Volker Frobarth verstand es nicht, diese Chancen zu nutzen.

Die neun Kapitel der Arbeit lassen keine systematischen Fragen im Sinne bestehender Forschungsdesiderata erkennen. Das der Einleitung folgende Kapitel 2 "Phasen ostpreußischer Geschichte" (23-32) hat zum Thema des Buches keinen Bezug und könnte ersatzlos entfallen. Freilich hätte hier eine Brücke zum Thema geschlagen werden können, denn noch war die Frage nicht behandelt worden, wie nach 1945 in der sowjetischen Propaganda mit der regionalen Geschichte Ostpreußens umgegangen wurde. [1] Hier hätten Züge der Moskauer Politik aufgezeigt werden können: etwa anlässlich des Kampfes gegen "Kosmopoliten" Ende der 1940er-Jahre, der in Kaliningrad spezifische und auf die regionale Geschichte bezogene Akzente trug oder während der Liberalisierung nach Stalins Tod oder nach dem XX. Parteitag oder im Umfeld der Diskussion um den Erhalt der Königsberger Schlossruine zwischen 1959 und 1969.

Kapitel 3 und 4 sind den Konferenzen in Teheran und Potsdam (33-49) und "Motiven der Einforderung des Königsberger Gebiets" (50-63) gewidmet. Beide bringen keine neuen Erkenntnisse zur Fragestellung. Hier hätte gezeigt werden können, wie die beiläufige Bemerkung Stalins über Ostpreußen als "urslawischem Boden" am 1. Dezember 1943 in Teheran zum Ausgangspunkt für Propagandatätigkeit und wissenschaftliche Lehrmeinungen wurde. Bis zu seinem Tod blieb diese Äußerung Stalins unangefochtener Bestandteil der offiziellen Moskauer Linie. Es wäre zu zeigen gewesen, wie diese Linie später geändert wurde und welche Folgen damit für das Kaliningrader Gebiet verbunden waren.

Die weiteren beiden Kapitel 5 und 6 stellen den thematisch zentralen Teil der Arbeit dar: "Die Eingliederung in die Sowjetunion" (64-163) und "Signifikante Bereiche der Entwicklung des Kaliningrader Gebiets nach 1948 (164-190). Hier werden so wichtige Fragen aufgeworfen wie die Aussiedlung der Deutschen, die Neubesiedlung des Gebiets, Einzelaspekte der Verwaltungspraxis oder der Wirtschaftsaufbau. Doch die meist verallgemeinernden Schlussfolgerungen des Autors, in denen der jeweilige Einzelaspekt niemals bis zum Thema der Arbeit durchdringt, werden weder aus den Archivquellen abgeleitet noch in den Kontext neuerer Forschungen eingefügt.

Im folgenden Kapitel 7 "Anschluß an die Litauische SSR?" (191-197) wird die Fragestellung nur angerissen, ohne dass neuere litauische Forschungen (Nikžentaitis) berücksichtigt werden. Mit einer "Schlußbeurteilung" (198-200) endet der als Dissertation eingereichte Text.

Das Kapitel 9 "Ausblick: Das Kaliningrader Gebiet in der Politik Rußlands 1991-2000" (201-220) bringt aktuelle Einzelbeobachtungen und ist der Veröffentlichung der Dissertation wohl eher aus kosmetischen Gründen angefügt worden. Denn die Untersuchung deckt den im Titel genannten Zeitraum keineswegs ab, hat ihren Schwerpunkt vielmehr in den frühen Jahren bis 1950 und wird nur sporadisch bis in die Mitte der 1950er-Jahre fortgesetzt. Warum der Verfasser die sowjetische Politik 1990 enden lassen will, bleibt unbegründet.

Ein umfangreicher Anhang (223-288) bringt "gesammelte Informationen" "über das Arbeitsthema hinaus" (16), meist ohne dass inhaltliche Bezüge zur Darstellung hergestellt würden.

Zur Wichtigkeit des Themas stehen die vorgelegten Ergebnisse in auffallender Diskrepanz. Der Autor legt seiner Deutung sowjetischer Außenpolitik die vor Jahrzehnten entwickelten Gedanken von Boris Meißner und Günther Stökl zu Grunde, findet aber den Anschluss an die aktuelle Forschungslandschaft nicht. Neuere Arbeiten werden selten erwähnt und wichtige Bereiche bleiben unberücksichtigt: so etwa die letzten Forschungsergebnisse von Peter Wörster, noch vor der Öffnung der russischen Archive, die vielen Veröffentlichungen von Jurij Kostjašov zur Neubesiedlung, die vorbildliche Arbeit von Gerhild Luschnat zur Lage der Deutschen, die auch in Deutschland publizierten ersten Aussagen russischer Zeitzeugen der Neubesiedlung oder die Veröffentlichungen zu rechtlichen Fragen von Stanislav Kargopolov. Sein Name kommt in der Arbeit nicht vor, obgleich die "rechtliche Beurteilung" ein eigenes Kapitel darstellt (45-47).

Auch der Umgang mit Archivquellen lässt übliche Standards vermissen. Auswahl und Bewertung der russischen Archivalien sind zum Teil von "Arbeitsaufträgen" (17, 18, 89) abhängig gewesen, deren Rahmen und Bedingungen nicht offen gelegt werden. Das mag die häufig fehlerhafte und inkonsequente Zitation der Quellen erklären, vielleicht auch das Fehlen jeglichen quellenkritischen Ansatzes. Selbst eine vergleichende und kritische Würdigung der Archivüberlieferung in Moskau und Kaliningrad unterbleibt. Der Leser vermisst insbesondere eine Charakterisierung der "Osobaja Papka Stalina", deren Benennung offenbar starke Faszination auf den Autor ausübte, denn sie wird wiederholt namentlich genannt (81, 82), während bei anderen Quellen fast durchgehend jede Benennung fehlt. Warum wurden die "Sonderakten" Molotow und Berija nicht einbezogen?

Die Benennung vergleichbarer Auffälligkeiten lässt sich beliebig fortsetzen. Hierzu gehören neben konzeptionellen Schwächen, methodischen Fehlern und handwerklichen Mängeln auch sprachliche Blüten der Übersetzung. Termini wie "Kriegs-Sowjet", "Kriegskommandant" oder "Rayon-Kriegskommandantur" (79-80) signalisieren darüber hinaus den gedanklichen Stil der Arbeit und zeigen, wie wenig der Autor mit der in der Forschung eingeführten Terminologie vertraut ist.

Ein für Dissertationen sonst unüblicher Zug sei jedoch positiv hervorgehoben: Frobarth hat mehrere umfangreiche Dokumente aus russischen Archiven und Editionen übersetzt und ohne weitere Auswertung vollständig in seinen Text eingefügt (119-132, 152-158). Damit stellt er Quellen bereit, die nun für weitergehende Beschäftigung auch in deutscher Sprache verfügbar sind. Hierin stellt die Arbeit einen Zugewinn für die Forschung in Deutschland dar.

Insgesamt wird der Leser dem Autor wohl zustimmen, dass "die allgemeine Unsicherheit in der Beurteilung des Gebiets [...] zu einem großen Teil auf der Unkenntnis der bisherigen Entwicklung beruht [...]" (15). Die offensichtlichen Defizite dieser Arbeit weisen jedoch über den Autor hinaus: Was konnte den Hochschullehrer einer deutschen Universität veranlassen, seinem Schüler die Druckgenehmigung für eine Dissertation in diesem Zustand zu erteilen? Oder haben solche akademische Traditionen an der Universität Kiel ihre Gültigkeit verloren?

Anmerkung:

[1] Inzwischen liegt hierzu eine Doppel-Publikation aus dem Verlag der Universität Kaliningrad vor: Jurij Kostjašov: Izgnanie Prusskogo ducha. Kak formirovalos' istoričeskoe soznanie naselenija Kaliningradskoj oblasti v poslevoennye gody [Austreibung des preußischen Geistes. Die Entwicklung des historischen Bewußtseins der Bevölkerung im Kaliningrader Gebiet]. Eckhard Mattes: Zapreščënnoe vospominanie. Vozvraščenie istorii Vostočnoj Prussii i regional'noe soznanie žitelej Kaliningradskoj oblasti (1945-2001) [Verbotene Erinnerung. Die Wiederentdeckung der ostpreußischen Geschichte und regionales Bewußtsein im Kaliningrader Gebiet (1945-2001)], Kaliningrad 2003 (Terra Baltica, 3).

Eckhard Matthes