Rezension über:

Heinrich Best / Stefan Hornbostel (Hgg.): Funktionseliten der DDR. Theoretische Kontroversen und empirische Befunde (= Historical Social Research; Vol. 28 (2003), Nr. 1/2), Köln: Zentrum für Historische Sozialforschung 2003, 375 S., ISSN 0172-6404
Inhaltsverzeichnis dieses Buches

Rezension von:
Peter Hübner
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Peter Hübner: Rezension von: Heinrich Best / Stefan Hornbostel (Hgg.): Funktionseliten der DDR. Theoretische Kontroversen und empirische Befunde, Köln: Zentrum für Historische Sozialforschung 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/03/4328.html


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Heinrich Best / Stefan Hornbostel (Hgg.): Funktionseliten der DDR

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Die international renommierte Zeitschrift Historical Social Research widmet die vorliegende, als Sonderheft erschienene Ausgabe einem elitenhistorischen Thema. Neun Autoren diskutieren in zehn Beiträgen jüngste Forschungsergebnisse zur Struktur und Entwicklung von Funktionseliten in der DDR. Im Mittelpunkt steht das unter Leitung von Heinrich Best und Stefan Hornbostel an der Universität Jena bearbeitete Projekt "Führungsgruppen und gesellschaftliche Differenzierungsprozesse in der DDR". Nachdem die unter Leitung von Wilhelm Bürklin entstandene "Potsdamer Elitestudie 1995" im gesamtdeutschen Vergleich vor allem auch die Rekrutierung der DDR-Eliten untersuchte, verfolgt das Jenaer Vorhaben anhand prozessproduzierter Daten Laufbahn- und Karrieremuster von Führungskräften. Als Hauptquelle dient der "Zentrale Kaderdatenspeicher" (ZKDS) des Ministerrates der DDR. Zur besseren Kontrolle und Steuerung des "Kader"-Einsatzes in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Politik waren Datensätze mit über 500 Variablen angelegt worden. Zum Teil befinden sich darunter auch Verlaufsdaten. Der Forschung stehen hiermit für den Zeitraum der Achtzigerjahre Angaben über rund 650.000 Führungskräfte zur Verfügung. Bisher vorliegende Ergebnisse deuten auf eine zunehmende Selbstrekrutierung der DDR-Funktionseliten und auf beträchtliche sektorale und positionale Differenzierungen hin.

Im ersten Teil der Aufsatzsammlung geht es vor allem um einen theoriegeleiteten Zugang zum Forschungsproblem und um Analysemethoden. Unter einer generalisierenden Perspektive fragt Detlef Pollack in seinem Beitrag "Auf dem Weg zu einer Theorie des Staatssozialismus" nach Modernisierungsfaktoren und Modernisierungsdefiziten der DDR-Gesellschaft. Er setzt hierzu funktionale Differenzierungen und Systemintegration, Konkurrenz und Sozialintegration, Ebenendifferenzierung und Intermediation in Beziehung. Vor allem aber bedürfe es, um die DDR-Gesellschaft angemessen zu verstehen, des Bewertungsmaßstabes moderner, durch Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Wohlfahrtsstaat gekennzeichneter Gesellschaften. Unter dem Titel "Differenzierung und Eliten im Staatssozialismus" beleuchtet Frank Ettrich den derzeitigen Forschungsstand mit kritischem Akzent. Die Zusammenbruchsdynamik staatssozialistischer Gesellschaften sieht er in Abhängigkeit von einem längerfristigen Niedergangsprozess.

Den für diesen Band zentralen Quellen und ihrer Archivierung sind zwei Beiträge gewidmet. Einen sehr informativen Rückblick auf zehn Jahre Archivierung von elektronisch lesbaren DDR-Daten im Bundesarchiv bietet Ulf Rathje, der insbesondere auf die Probleme bei der Erschließung und Pflege solcher Daten eingeht. Ob man es dabei eher mit einem Datenfriedhof oder mit einem Füllhorn für die DDR-Forschung zu tun habe, fragt Dietmar Remy. Er zeigt, wie der ZKDS funktionierte und setzt sich mit der wissenschaftlichen Bewertung dieser Daten auseinander.

Am gleichen Gegenstand stellen Heinrich Best und Stefan Hornbostel in einem gemeinsamen Beitrag die Frage nach der Analyse prozess-produzierter Daten. Der ZKDS erlaube eine einmalige sozialstrukturelle Bestandsaufnahme, die unter anderem die Rekonstruktion geplanter und ungeplanter Distributionsmechanismen und Differenzierungsprozesse ermögliche. In der anschließenden Studie "Sozialismus in der DDR: Ein Feldexperiment mit paradoxalem Ergebnis" vertieft Best dieses Argument und präsentiert bemerkenswerte Ergebnisse. So werfen die Differenzierungslinien innerhalb der Funktionseliten die Frage nach dem Ausmaß der "Durchherrschung" auf. Auch verdienen subsystemische Zusammenhänge von Wirtschaft, Staatsapparat, Wissenschaft und Kultur genauere Beachtung. Kritisch vermerkt Stefan Hornbostel, dass es noch nicht gelungen ist, für die diversen empirischen Befunde einen befriedigenden theoretischen Rahmen zu finden. Er setzt sich mit Meinungen auseinander, die diese Aufgabe für erledigt halten, so auch Ettrich in diesem Band am Beispiel der Gegeneliten. Anknüpfend an Bourdieu bringt Hornbostel das Konzept des sozialen Raums in Stellung, um das symbolische Kapital der DDR-Funktionseliten genauer unter die Lupe zu nehmen. Er tut das am Beispiel des "Auszeichnungswesens". Dabei überrascht weniger, dass die Akkumulation von symbolischem Kapital den beruflichen Hierarchien folgte und ab einer bestimmten Positionshöhe die politische Einbindung sprunghaft anstieg. Die einer Gegenelite zuzurechnende Gruppe zeige sich vor diesem Hintergrund keineswegs relativ depraviert. Eher mit Vorteilen ausgestattet, sei sie eine Elite im Wartestand gewesen.

Das Verhältnis von fachlicher Qualifikation und politischer Loyalität untersucht Axel Salheiser am Beispiel von Rekrutierungs- und Karrieremustern des Leitungspersonals in der Elektronikindustrie der DDR. Entgegen der Annahme, dass Defizite bei der einen Voraussetzung durch die andere kompensiert werden konnten, sprechen die Quellen eher für Anforderungskonventionen, in denen Qualifikation und Loyalität verschmolzen. Ob die DDR eine nichtmoderne, entdifferenzierte Gesellschaft war, fragt Ronald Gebauer anhand des ZKDS am Beispiel sektorspezifischer Rekrutierungsweisen bei den zentralen Staatsorganen und im Binnenhandel. Er kommt, Salheisers These durchaus stützend, zu dem Schluss, dass fachliche Qualifikation eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt habe. Die DDR-Gesellschaft sei also nicht völlig entdifferenziert gewesen. Schließlich geht Anne Goedicke dem Schicksal der "oberen Dienstklasse" der DDR seit 1990 nach. Nach ihrem Befund hatten qualifizierte Fachleute relativ gute Chancen für eine berufliche Kontinuität, "Leitungskader" hingegen kaum. Vorteile wurden freilich mit der Schließung von Betrieben schnell hinfällig. Eine hohe Übernahmequote war im öffentlichen Dienst anzutreffen.

Insgesamt bieten die zehn Beiträge in anregender, teils auch kontroverser Diskussion erhellende Einblicke in den gegenwärtigen Stand der zeitgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung zu den Funktionseliten der DDR. Leider sind einige der in den Texten enthaltenen grafischen Darstellungen etwas klein geraten. Literatur- und Tagungsberichte, Diskussionsanmerkungen und Buchbesprechungen ergänzen das Sonderheft.

Peter Hübner