Rezension über:

Bettina von Jagow / Florian Steger (Hgg.): Differenzerfahrung und Selbst. Bewußtsein und Wahrnehmung in Literatur und Geschichte des 20. Jahrhunderts (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; Bd. 199), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, 361 S., ISBN 978-3-8253-1545-0, EUR 52,00
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Rezension von:
Stefanie Stockhorst
Lehrstuhl für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Stefanie Stockhorst: Rezension von: Bettina von Jagow / Florian Steger (Hgg.): Differenzerfahrung und Selbst. Bewußtsein und Wahrnehmung in Literatur und Geschichte des 20. Jahrhunderts, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/6093.html


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Bettina von Jagow / Florian Steger (Hgg.): Differenzerfahrung und Selbst

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In seiner inzwischen berühmt-berüchtigten Vorlesung mit dem Titel The Two Cultures, die er 1959 in Cambridge hielt, postulierte Charles Percy Snow einen unüberbrückbaren Antagonismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, ihren Gegenständen, Methoden und Rhetoriken. Seither liefert die Frage nach dem Verhältnis und womöglich nach sinnvollen Kooperationsmöglichkeiten dieser beiden intellektuellen Kulturen immer wieder methodologischen Zündstoff. In jüngerer Zeit zeichnet sich, wie etwa Arbeiten von Otto Gerhard Oexle belegen, verstärkt eine gemeinsame Geschichte der Wissenschaften als eine Kluft zwischen ihnen ab. Geht man mit Lorraine Daston und der Science-in-Context-Forschung noch weiter, erscheinen die einst als reine Sachwalterinnen objektiver Mess- und Zählbarkeit geltenden Naturwissenschaften sogar zunehmend als durchaus relative Kulturtechniken.

Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Sammelband ein zweifaches Anliegen. Zum einen wird ein allgemeines methodisches Exempel statuiert, indem programmatisch der "gesellschaftspolitisch dringend notwendige Dialog von Natur- und Geisteswissenschaften produktiv fortgeführt" (9 f.) werden soll. Zum anderen geht es um die speziellere inhaltliche Frage nach der Repräsentation von Differenz, die weit gefasst wird als beliebig verlängerbare Reihe von - in Abgrenzung zum mehrgliedrigen Erlanger Konzept der Transdifferenz ausdrücklich als binär verstandenen - Gegensatzpaaren mit lebensweltlicher Bedeutung für Individuen oder Gruppen. In den Mittelpunkt des Interesses rückt dabei die schwer greifbare Lücke, die zwischen der neurophysiologischen Erklärung von Differenzwahrnehmung als Summe von Sinneseindrücken und der ungleich weniger kalkulierbaren Vielfalt menschlicher Wirklichkeit und ihren vielfältigen symbolischen Praktiken besteht.

Folgerichtig ist der Band interdisziplinär angelegt, und zwar nicht nur durch übergreifende Fragestellung und Erkenntnisinteresse, sondern auch durch die fachliche Herkunft der Beitragenden, unter denen sich Vertreter der Germanistik, Geschichtswissenschaft und Philosophie wie auch der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, der Humanmedizin und der Physik finden. Daraus ergibt sich ein entsprechend weit gefächertes Panaroma von Themenstellungen und Herangehensweisen. Sie werden in vier Abteilungen zusammengefasst, die gerade nicht nach disziplinärer, sondern nach thematischer Verwandtschaft gegliedert sind.

In der ersten Abteilung, die sich Fragen von "Geschlechterdifferenz und Identität" widmet, untersucht zunächst Hans-Joachim Jürgens, mit welchen Strategien Karl May in seinen Romanen "die im zeitgenössischen Geschlechterdiskurs beschworene sex-gender-Identität durch Masken-Spiele aufbricht" (79). Der Beitrag von Andreas Degen führt den Gedanken solcher "Entgrenzung und Vereinigung" (83), in der sich das Weibliche als Grenze des Männlichen erweist, am Beispiel von Hans Henny Jahn und Johannes Bobrowski weiter. Mit Blick auf die Differenz von Literatur und Fiktion klärt Christian Klein die Identitätsbeziehungen zwischen dem historischen Thomas Chatterton, der 1767 eigene Gedichte als mittelalterliche Originale herausgab, dem von ihm als Verfasser erfundenen Mönch Thomas Rowley und dem literarischen Chatterton in Ernst Penzoldts Roman "Der arme Chatterton" von 1928.

Die zweite Abteilung "Norm und Normabweichung" eröffnet Axel Gelfert mit einer Einführung in den Erfahrungsbegriff, die insbesondere auf die "sinngebende Funktion von Differenzerfahrungen" (123) eingeht. Stefan Artman beobachtet demgegenüber eine Aufweichung der Grenze zwischen Norm und Abweichung im Werk von Philippe Sollers, sodass es "nichts Notwendiges mehr im Sinn des von einem theoretischen, praktischen oder ästhetischen Gesetzes [!] unabweislich Verlangten" (160) gebe. Am Beispiel des "Stanford Prison Experiment" weist Nicolas Pethes nach, dass "das Bewußtsein und seine Normalität auch und gerade im Zeitalter seiner experimentellen Vermessung ein zutiefst konstruiertes, inszeniertes, diskursives und wandelhaftes Phänomen ist" (191). Auf kollektive Wahrnehmungsmuster geht auch Hubertus Büschel ein, wenn er zeigt, "wie sich emotionale Bindungen zur Heimat von Menschen im 'Grenzland' der Bundesrepublik und im 'Sperrgebiet' der DDR durch das historische Ereignis der Grenzöffnung änderten" (197).

Mit einer Untersuchung der Wahrnehmung von Suchterfahrungen in literarischen Texten und öffentlichen Medien leitet Florian Steger die dritte Abteilung zum Themenkreis "Psyche und Konstruktion des Selbst" ein. Den Grenzbereich zwischen Hirnforschung und Psychotherapie erkundet Birgit Zilch-Purucker, wobei sie auf nach wie vor ungelöste Schwierigkeiten bei der "Parallelisierung psychischer und zerebraler Vorgänge" (214) hinweist. Mit einer gleichsam forensischen Lektüre von Bernhard Schlinks "Der Vorleser" und seiner durchaus geteilten Rezeption erschließt Bettina von Jagow "Differenzen der Wahrnehmung von Täter- und Opferbewußtsein" (245).

In der vierten und letzten Abteilung zu "Medien von Differenzerfahrung" fragt Liliane Weissberg eingangs nach den Mustern der Identitätssuche, die sich in Walter Benjamins Goethe-Traum finden. Daniel Morat beleuchtet Ernst Jüngers Essay "Über den Schmerz" unter dem Aspekt der schwierigen intersubjektiven, zumal sprachlichen Vermittelbarkeit von Schmerz. Eine Verknüpfung von Sinnesphysiologie und Kulturwissenschaft unternimmt Ulrike Thoms im Zeichen des Geschmacks, der nicht nur individuelle Wahrnehmung, sondern vor allem auch soziale Distinktion bedeutet. Die Aufhebung von Differenzen in Zeichen einer "Poetik des Schwindels und des Verschwindens" zeichnet zuletzt Doren Wohlleben von Hofmannsthals Chandos-Brief bis in Romane der 1990er-Jahre nach.

Insgesamt löst der Sammelband in vorbildlicher Weise den eigenen Anspruch interdisziplinären Arbeitens ein, da spezielle Aspekte einzelner Disziplinen von zuständigen Fachvertretern bearbeitet wurden und nicht, wie es die Forderung nach einer Überwindung disziplinärer Grenzen allzu leicht mit sich bringt, durch letztlich eher dilettantisches Wildern in fremden Territorien. Es wäre lediglich zu wünschen gewesen, den nützlichen einleitenden Problemaufriss "Positionen - Bewußtsein und Wahrnehmung", der von der Psychoanalytikerin Brigitte Boothe und dem Hirnforscher Wolf Singer bestritten wird, noch durch eine Stellungnahme aus historisch-philologischer Sicht abzurunden. Eine besondere Leistung der Herausgeber besteht darin, dass sie die überaus heterogenen Zugänge nicht durch starre begriffliche Festlegungen in ein methodisches Korsett zwängen, sondern den Beitragenden die nötige Freiheit gewähren, um ergiebige Perspektiven auf Differenzerfahrungen und ihre symbolischen wie auch neurologischen Repräsentationen zu eröffnen.

Stefanie Stockhorst