Rezension über:

Wolfgang Mommsen: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, 220 S., ISBN 978-3-596-15773-0, EUR 13,90
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Rezension von:
Ulrich Sieg
Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Sieg: Rezension von: Wolfgang Mommsen: Der Erste Weltkrieg. Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 7/8 [15.07.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/07/6159.html


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Wolfgang Mommsen: Der Erste Weltkrieg

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Die Arbeiten von Wolfgang J. Mommsen und seinen Schülern haben viel zum besseren Verständnis des Ersten Weltkriegs beigetragen. Nun legt der Doyen der deutschen Weltkriegsforschung eine Aufsatzsammlung vor, welche die Zeit zwischen 1914 und 1918 als historische Epochenscheide und nachhaltige Erschütterung der bürgerlichen Kultur deutet. Damit wird der Weltkrieg zugleich als Ende des langen 19. und Beginn des kurzen 20. Jahrhunderts interpretiert und der Akzent auf das Geschehen in Mittel- und Westeuropa gelegt.

Mommsen betont, dass der Krieg allenthalben zerrüttete Staatsfinanzen hinterließ, und unterstreicht die verheerenden Folgen nationalistischer Propaganda. Allerdings hätte er vermutlich besser von der Brutalisierung der politischen Kultur gesprochen als den zeitgenössischen Topos der "Verflachung" (20) zu bemühen. In Anlehnung an die Forschungen Stig Försters pointiert er, dass hochrangige deutsche Offiziere einen langen und erbitterten Krieg erwarteten. Doch habe die gleichermaßen nervöse wie machtfixierte Mentalität der Führungsschichten im Juli 1914 eine balancierte Außenpolitik verhindert.

In seinem groß angelegten Essay "Das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg" bemüht sich Mommsen um eine differenzierte Bewertung des "Augusterlebnisses". Zwar hätten die Menschen bei Kriegsausbruch eine Vielfalt von Haltungen an den Tag gelegt, doch sei die Überzeugung, dem Vaterland in der "Stunde der Not" beistehen zu müssen, allgemein akzeptiert gewesen. Zurecht verweist Mommsen auf den Erfolg der Kriegsanleihen, die eine hohe Identifikation mit der "nationalen Sache" belegen. Weniger eindeutig ist es um die von ihm hervorgehobene "große Zahl der Kriegsfreiwilligen" (39) bestellt, deren "Enthusiasmus" ein Gutteil der neueren Forschung als Propagandaphänomen beurteilt. Unstrittig dürfte hingegen das Ausmaß der sozialen Not und die seit 1916 rasch zunehmende Kriegsmüdigkeit sein. Militärisch am Ende und politisch reformunfähig, sei das Kaiserreich "wie ein Kartenhaus" (59) zusammengefallen.

Nachdrücklich unterstreicht Mommsen die unglückliche Rolle des letzten deutschen Kaisers, dessen "persönliches Regiment" zu außenpolitischen Fehlentscheidungen und einer ausgedehnten Günstlingswirtschaft geführt habe. Im Unterschied zum englischen Historiker John C. Röhl, der den machtbewussten Reaktionär in den Vordergrund rückt, thematisiert Mommsen die eigentümliche Modernität Wilhelms II. Mit strotzendem Selbstbewusstsein bekundete dieser stets aufs Neue öffentlich seine "Freude an militärischen Aufmärschen oder Flottenparaden" (67). Im Krieg freilich erwies sich der Kaiser, dessen sprunghafte Außenpolitik den Weg in die Katastrophe begünstigt habe, als Schönwetter-Figur. Bei den heftigen Auseinandersetzungen um die Kriegsziele fehlte es ihm an Prinzipientreue und Stehvermögen, und so wurde er als nationale Integrationsfigur zunehmend durch Hindenburg ersetzt.

Ideengeschichtlich wird die verhängnisvolle Wirkung großdeutscher Konzepte akzentuiert, die für viele Politiker handlungsleitenden Charakter besaßen. Kurt Riezler, der persönliche Adjutant von Reichskanzler Bethmann Hollweg, betrachtete es als gewiss, dass Mitteleuropa "'die welthistorische Aufgabe'" (106) sei, und Friedrich Naumanns Buch über dieses Thema war eine ungewöhnliche Resonanz beschieden. Zunehmend geriet jedoch die Mitteleuropaidee in den Sog einer "robusten deutschen Machtpolitik" (113), die ihren deutlichsten Ausdruck im Diktatfrieden von Brest-Litowsk gefunden habe. Eine ähnliche Argumentation präsentiert der wichtige Aufsatz zum "polnischen Grenzstreifen". Auf der Grundlage bislang ungedruckter Quellen wird demonstriert, wie intensiv Umsiedlungspläne für die polnische Bevölkerung bereits Ende 1914 diskutiert wurden. Der Oberpräsident der Provinz Ostpreußen, Adolf von Batocki, plädierte sogar für die gezielte Förderung jüdischer Auswanderung nach Palästina. Die Gewinnung von "neuem Siedlungsland im Osten" (125) dominierte die meisten Denkschriften, und Ludendorffs militärstrategisches Kalkül zielte auf "eine Art 'völkischer Militärgrenze'" (129). Seine kühnen Visionen fanden allerdings nur wenig Unterstützung bei den Zivilbehörden, die angesichts der Fülle der Aufgaben eine eher zögerliche Haltung an den Tag legten. Gleichwohl belegt schon allein die Vielzahl von Konzepten zur Neuordnung Osteuropas, in welchem Ausmaß der Weltkrieg in den deutschen Führungsschichten von einer Ethnisierung des Denkens begleitet war.

Wenig ergiebig sind Mommsens Ausführungen zum Kriegsalltag, die einige Reserven hinsichtlich der neueren, mentalitätsgeschichtlich orientierten Forschung erkennen lassen. So werden die Untersuchungen zu Kriegsbriefen von hoher Warte abgeurteilt, obwohl sie sich mit einem Massenphänomen ersten Ranges beschäftigen. Vielleicht wäre das Urteil nuancierter ausgefallen, wenn Mommsen stärker auf ungedruckte Dokumente rekurriert hätte, die vielfältige Einblicke in das Alltagsleben der Soldaten ermöglichen. Und natürlich spricht nichts dagegen, die Befunde unterschiedlicher Quellengattungen, wie Tagebücher, Briefe oder Soldatenzeitungen, zu einem differenzierten Gesamtbild zusammenzufügen.

Sachkundig und sensibel wird hingegen die deutsche und englische Kriegslyrik charakterisiert. Allerdings wäre bei Ernst Lissauer, dessen "Haßgesang" eine ungewöhnliche Breitenwirkung entfaltete, ein Hinweis auf seine jüdische Herkunft angebracht gewesen. Denn die Unwissenheit über die Identität des Verfassers hatte auf der politischen Rechten die enthusiastische Rezeption des Gedichts begünstigt. Im liberalen Judentum ging man bezeichnenderweise auf Distanz zu den fanatischen Versen, deren Autor seinen patriotischen Überschwang je länger, je mehr mit gesellschaftlicher Isolation bezahlte. Eindrucksvoll stellt Mommsen heraus, in welchem Ausmaß die Kriegsmüdigkeit englischer Offiziere ihren poetischen Niederschlag fand, der in deutlichem Kontrast zur nüchternen Kriegsbejahung deutscher Offiziere stand. Die Gründe für dieses bemerkenswerte Phänomen lägen freilich beim gegenwärtigen Kenntnisstand noch weitgehend im Dunkeln.

Ein fast unerforschter Kontinent ist die Bedeutung des Weltkrieges für die christlichen Kirchen. Gewiss besteht an der staatstragenden und nationalistischen Haltung protestantischer Theologen kein Zweifel mehr. So äußerte der junge Friedrich Gogarten in der Begeisterung der ersten Augusttage kühn: "'Die Ewigkeit will deutsch werden.'" (169). Allenthalben verkündete man von den Kanzeln die Gerechtigkeit der "deutschen Sache" und glaubte an die Sendung des eigenen Volks. Allein damit ist noch wenig über die Wirkung des Kriegs auf die Religiosität der Menschen gesagt. Konfrontiert mit einer desillusionierenden Realität, werden viele die hochtrabende Kanzelrhetorik zunehmend skeptisch beurteilt haben, ohne ihren durch Angst, Not und Leid hervorgerufenen "Sinnhunger" verleugnen zu können.

Mommsens umsichtige, aber leicht summarische Abhandlungen spiegeln den gegenwärtigen Zustand der Weltkriegsforschung. Neben einer Sozialgeschichtsschreibung, welche die Bedeutung gesellschaftlicher Prozesse für den Zusammenbruch des politischen Systems betont, existiert eine Kultur- und Mentalitätsgeschichtsschreibung, welche die innere Heterogenität und die Langzeitwirkungen der Kriegserfahrungen zeigt. Den Weg zueinander haben sie, so scheint es, noch nicht gefunden.

Ulrich Sieg