Rezension über:

Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 970), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 174 S., ISBN 978-3-631-50716-2, EUR 39,00
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Rezension von:
Maren Lorenz
Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur
Redaktionelle Betreuung:
Ute Lotz-Heumann / Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Maren Lorenz: Rezension von: Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/5685.html


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Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck

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Kommunikation, dabei denkt man spontan - neben dem face to face gesprochenen Wort - an E-Mail, Mobiltelefone, Fernsehen und Printmedien; Spezialisten assoziieren womöglich gar Nachrichtentechnik oder Computerlinguistik, primär technisch modifizierte Sprache und Bilder. Die einfachste, auf jeden Fall unmittelbarste Form der Kommunikation jedoch, die Körpersprache, gerät meist nur dann ins Blickfeld, wenn sie stark eingeschränkt oder gar ausgeschaltet ist, wie etwa bei extremen Formen des Autismus oder dem Locked-in-Syndrom. Auf den ersten Blick erscheint sie - wie viele mit dem Körper zusammenhängende Verhaltens- und Bewegungsmuster - als natürlich. So werden elementare unbewusste Verhaltensweisen und körperliche Signale oft als instinktgesteuert missverstanden, obwohl sie durchaus erlernt sind, wie der Soziologe und Anthropologe Marcel Mauss schon 1934 konstatierte. [1] Körpertechniken wurden in den textlastigen Geschichtswissenschaften lange sträflich vernachlässigt. In Zeiten der Rückkehr des soziobiologischen Diskurses auch in die Geistes- und Sozialwissenschaften kann deshalb die Publikation historischer Analysen nur begrüßt werden, die dem begründet etwas entgegensetzen. Die Publikation einer Magisterarbeit (Universität Greifswald 2002) ist immer noch ungewöhnlich, lässt eine quellenintensive, methodisch innovative Auseinandersetzung mit einem neuen oder doch relativ unbekannten Thema erwarten. Diese Erwartung wird, soviel vorab, in summa auch nicht betrogen.

Kirsten O. Frieling interessiert die Rolle des Körpers in der "sozialen Kommunikation". Sie fragt nach der "Bedeutung des Körpers für die Konstituierung und Stabilisierung bürgerlicher Identität", den sie als "Ausgangspunkt für Vergesellschaftung" versteht (16). Dabei geht es explizit um nonverbale Kommunikation, unter der sie, der Logik ihrer Quellen folgend, "Mimik, Gestik, Körperhaltungen und das 'Sich Kleiden'" fasst. Diese Körperpraktiken drückten Wertvorstellungen aus und seien deshalb "konstitutiv für die Stabilisierung sozialer Gruppen und deren Identität" (19). In einzelnen Kapiteln werden diese aus verschiedenen Perspektiven detailliert seziert und analysiert. Aus arbeitsökonomischen Gründen und logistischen Zwängen bleibt die Untersuchung auf den normativen Diskurs beschränkt, der primär anhand von sieben (nicht wie behauptet neun) deutschsprachigen Anstandsbüchern zwischen 1809 und 1850 betrachtet wird. Dass die Auswahl somit allein pragmatischen Gründen geschuldet ist, kann im Rahmen einer Examensarbeit akzeptiert werden. Bedauerlich ist jedoch, dass man als Ausgleich nichts über Genese und Bandbreite des Genres erfährt, etwa zum Anteil von Frauen als Autorinnen, der Rolle von Adeligen, thematischen Schwerpunkten und möglichen Publikationsclustern.

In ihrer theoretisch und terminologisch vorbildlich begründeten Einleitung präzisiert Frieling zentrale Begriffe wie Bürgertum und Kultur und verortet sich, leider etwas zu ausführlich und mit zu vielen, teilweise überflüssigen Literaturverweisen, im konstruktivistischen Feld der Körpergeschichte. Wissenssoziologisch und kommunikationstheoretisch beruft sie sich auf eine plausible Kombination von lebensweltlicher Handlungsgenese à la Schütz, Berger und Luckmann, erweitert durch die Habermas'sche Theorie des kommunikativen Handelns. Überraschenderweise fehlt das in weiten Teilen mit dieser Synthese inhaltlich identische - durch seinen Lehrer Mauss inspirierte - Bourdieu'sche Habitusmodell bei Frieling vollständig.

Die Quellenkritik kommt leider zu kurz. Von Anfang an weist die Verfasserin zwar auf die Ambivalenz der bürgerlichen Normen und die Fragilität der bürgerlichen Identität hin, die einerseits alle Menschen für gleich erachten und respektieren wollte, andererseits einige doch gleicher beziehungsweise von minderer "Geschlechtsnatur" festschrieb. Dabei ignoriert sie jedoch den wichtigen politischen Kontext der unterschiedlichen Entstehungszeiten ihrer Quellen. Freiherr von Knigge, 'Vater' der Anstandsliteratur, der 1788/1790, ganz im aufklärerischen Bewusstsein, seine egalisierende Intention - "den Umgang mit Menschen" - schon im Titel ankündigte, taucht in der Analyse nur in Nebensätzen auf. Während die meisten Werke während der turbulenten Hochzeit napoleonischer Reformen und deren Rücknahme während der Restauration nach den "Befreiungskriegen" publiziert wurden (Glatz 1809, Dolz 1810, Mueller 1812, Bauer 1816), erschienen die von Frieling am häufigsten zitierten Texte, (Alberti) 1830 und (Meyer) 1850, erst während des Vormärz beziehungsweise direkt nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution. Die einzige Autorin und dabei noch Adelige im Männerbunde (Amalie von Wallenburg) liegt 1824 allein quasi in der Mitte zwischen zwei extremen ständepolitischen Unruhephasen. Doch die Metaebene der wechselvollen politischen Umbrüche bleibt völlig unberücksichtigt. Dabei scheinen Ereignisse wie die Abschaffung der Erbuntertänigkeit 1807, die Einführung der Gewerbefreiheit 1810/11, die Judenemanzipation 1812 und schließlich 1816 das Regulierungsedikt zu Gunsten der Großgrundbesitzer in Preußen in den Anstandsbüchern durchaus wider und wären in Bezug auf die Körperbilder der hiervon betroffenen Gruppen der Untersuchung wert gewesen. Völlig unerwähnt bleiben auch Fragen nach Rezeption und Verbreitung, etwa nach Auflagenstärke, (überarbeiteten?) Neuauflagen, politischer Zensur und externen Einflüssen. (Die stark bearbeitete Übersetzung eines englischen Ratgebers durch K. Ph. Moritz 1784/1799 wird beiläufig mitzitiert.) Nur konsequent ist es deshalb, wenn Frieling bis zum Schluss unbeirrt fälschlich von der "Aufklärung" und den Anstandsbüchern "um 1800" spricht, die sie untersuche (139). Auch die Autoren und Autorin bleiben seltsam konturlos: Hatte Wallenburg wirklich eine Tochter mit Namen "Julie", an die ihr Ratgeber gerichtet sei, so der Untertitel, oder ist dies nicht vielmehr als selbstbewusste Antwort auf den bekannten Roman von Rousseau (1761) zu verstehen? Die Wallenburg'schen Zitate legen später zudem nahe, dass es der Gräfin nicht nur um bürgerlichen Anstand der von ihr spezifisch angesprochen jungen Damen ging, sondern durchaus um die Vermittlung von Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl sowie Wehrhaftigkeit gegenüber sexuellen Übergriffen (besonders deutlich 95). Derartige wichtige Nuancen bleiben leider unbeachtet.

Folgt man jedoch Frieling in ihrer Fokussierung allein auf Körperpraktiken, überzeugt die Gliederung. Im ersten, längeren Teil werden die Anstandsbücher als konkrete Handlungsanweisungen nicht nur für Heranwachsende betrachtet. Hier geht es um die Auffassung der Autoren vom Körper als "Ausdrucksfläche für [ideale, M.L.] Charaktereigenschaften". Einerseits sollte er allgemein-bürgerliche Normen repräsentieren, andererseits hatte er in entscheidenden Punkten rigiden "Geschlechtscharakteren" zu entsprechen. Im zweiten, kürzeren Teil stehen die "Abgrenzungsfunktion des Körpers gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen" (Adel und Unterschichten) im Zentrum. Beide Abschnitte bestehen in weiten Teilen aus langen Quellenzitaten und Paraphrasen, die einerseits sehr erhellend für jene sind, denen die Anstandsliteratur eher unbekannt ist, andererseits aber zu Redundanzen führen. Hier hätten kurze Verweise in den Fußnoten mehr Raum zur insgesamt gelungenen Analyse gegeben und einen besseren Lesefluss ermöglicht. Auch wird leider kaum deutlich, warum lange Zitate im Text und andere im aufgeblähten Fußnotenbereich auftauchen, der in Extremfällen (zum Beispiel 43, 67, 105) sogar fast ganze Seiten ausfüllt. Gerade im ersten Teil ermöglicht die vielfältige Beschreibung der je nach Situation und sozialer Konstellation äußerst differenzierten Körperpraktiken wie Lächeln, Blick, Verbeugung, Gang, Tanz, Kopf-, Arm-, Bein- und Sitzhaltung, Positionierung im Raum, einen tiefen Einblick in das Welt- und Menschenbild der Norm setzenden Autoren. Sie forderten von ihren Lesern etwas weniger, von den Leserinnen äußerste Körper- und damit Selbstdisziplin im Dienste einer zukünftig reibungslos funktionierenden Bürgergesellschaft (90, 109).

Diese sehr plastische, oft amüsante, überwiegend textexegetische Interpretation hat leider Nachteile. Nur wenn die Quellen ihrerseits explizit werden, etwa wenn das "Gemeinmachen" mit den Unterschichten denselben womöglich "gerechte, aber beschwerliche und unschickliche Ansprueche auf Gleichheit" eingibt (136), werden zeitgenössische Diskurse, hier der gesellschaftlich-juristische zur politischen Partizipation nichtbürgerlicher Gruppen, immerhin erwähnt oder im Zusammenhang mit der Geschlechterfrage der medizinisch-
naturwissenschaftliche Kontext, die Physiognomik Lavaters im Mimikkapitel, ansatzweise einbezogen.

Dabei böte gerade der zweite Teil der Analyse Einblicke in die weitreichenden Konsequenzen der bürgerlichen Selbststilisierung und Selbstvergewisserung. Die ambivalente und oft widersprüchliche Abgrenzung des als "natürlich" idealisierten, ernsten, vernünftig gemäßigten Bürgertums vom "unernsten", "künstlichen", aber gleichzeitig stilbildenden Adel wird ebenso herausgearbeitet wie die besondere Distanzierung von den 'unzivilisierten' Unterschichten. Ihnen wollte man den Zugang zur Bildung, die den Bürger als staatstragende und damit in Zukunft herrschaftsberechtigte Klasse erst ermöglichte, unter vage naturalisierenden Vorwänden ebenso wenig gewähren wie den Frauen. Ausgerechnet die von ihr präzise herausgearbeitete Geschlechterdichotomie wird in ihrer Reichweite von der Autorin jedoch völlig unterschätzt. Mehrfach betont Frieling, männliche und weibliche Körperpraktiken seien zwar streng bipolar angelegt, aber dennoch nicht "hierarchisch", sondern "symbiotisch" gedacht (79, 88 f., 110). Diese zahme Folgerung ist nur unter Ausblendung der parallelen Norm setzenden Diskurse möglich, insbesondere des medizinisch-biologischen, und steht sogar oft in diametralem Widerspruch zu den zitierten Passagen (etwa 80 f., 93, 123). Diese Missdeutung enttäuscht besonders, wenn Frieling zu Recht die in den Büchern umfassend diskutierten Abweichungen von den polaren Geschlechternormen in den Blick nimmt. Männer werden vor effeminierter Haltung und Kleidung ("Stutzer, Parvenu") intensiv gewarnt, da sie mangels Akzeptanz bei den Geschlechtsgenossen ihre Karriere-, bei kapitalen Damen Heiratschancen verspielten. Homosexualität als extremste Gefährdung der bürgerlichen Welt (Bedrohung von Familie und Staat) wird hier nicht einmal angedeutet. "Dem Weibe" hingegen sei die "Liebe", der "Zug" zum Manne, "dergestalt in seine Natur verwebt, dass es ohne denselben nicht allein aufhoert Weib, sondern sogar Mensch zu seyn, und selbst von den Individuen seines Geschlechts nur als ein Wunderthier [...] angesehen wird" (86). Hier, wie auch in extrem herabwürdigenden Beschreibungen von "niedrigen", "rohen" und "plumpen" Bauern und Unterschichten, die auch mit Bildung niemals ihre primitive Natur verleugnen könnten (124 ff.), deuten sich bereits größere Dimensionen an. Ende des 19. Jahrhunderts sollten sie mit der Psychiatrisierung von Abweichlern, deren chirurgischer und medikamentöser Körperzurichtung eine neue Dynamik erreichen. Forschungen zur Genese der Freud'schen Psychoanalyse wie auch ihrer Klientel aus der Mitte eben dieser bald etablierten rigiden bürgerlichen Körperpraktiken heraus ebenso wie zur Kolonialpolitik mit ihrer selbstverständlichen ökonomischen 'Verwertung niedrigen Menschenmaterials' sollten zukünftig diese Wurzeln mitbedenken.

Gerade weil viele der beschriebenen Körperpraktiken ständig "in sozialen Kommunikationsprozessen herausgebildet und reproduziert werden" (140), weil sämtliche bürgerliche Gesellschaften dadurch stabilisiert werden, dass der Zugang zum Erlernen dieser Körpercodes die Teilhabe an jeglicher Form gesellschaftlicher Macht bedingt, ist es ein Verdienst der Studie, auf diese Kontinuität aufmerksam zu machen. Vor allem die geschlechterdichotomen Normen gehören in nur teilweise gemäßigter Form bis heute zum Erziehungsstandard der meisten bürgerlichen (akademischen) und kleinbürgerlichen Familien. Die kunstvolle Mühe, die seit rund 200 Jahren gerade in die physische Domestizierung von Jungen und besonders Mädchen gesteckt wird, ist angesichts der bei Erwachsenen heute weitgehend automatisiert und unreflektiert ablaufenden "bürgerlichen Körperpraktiken" fast in Vergessenheit geraten. Wer sich selbst einmal im Zerrspiegel der Körpertradition betrachten möchte, der sollte sich dazu von Kirsten Frielings Arbeit trotz der angeführten Schwächen unbedingt 'bewegen' lassen.


Anmerkung:

[1] Marcel Mauss: Les techniques du corps, zuerst in: Journal de Psychologie (32) 3/4, 1936. Deutsch: Die Techniken des Körpers, in: Ders., Soziologie und Anthropologie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1989, Bd. 2, 199-220. Originalversion online (05. August 2004) unter: http://www.uqac.uquebec.ca/zone30/Classiques_des_sciences_sociales/
classiques/mauss_marcel/socio_et_anthropo/6_Techniques_corps/
techniques_corps.pdf

Maren Lorenz