Rezension über:

Renate Zedinger: Migration und Karriere. Habsburgische Beamte in Brüssel und Wien im 18. Jahrhundert (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts; Bd. 9), Wien: Böhlau 2004, 166 S., ISBN 978-3-205-77210-1, EUR 29,90
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Rezension von:
Johannes Koll
Zentrum für Niederlande-Studien, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Koll: Rezension von: Renate Zedinger: Migration und Karriere. Habsburgische Beamte in Brüssel und Wien im 18. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 12 [15.12.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/12/5014.html


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Renate Zedinger: Migration und Karriere

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Im 18. Jahrhundert stellten die belgischen Provinzen als Österreichische Niederlande einen integralen Bestandteil des habsburgischen Reiches dar. Für den Bestand dieses Reiches war das möglichst reibungslose Funktionieren der Beziehungen zwischen Wien und Brüssel von großer Bedeutung. Hierfür wiederum war qualifiziertes und gut geschultes Personal unerlässlich, das den Auf- und Ausbau moderner Staatlichkeit im Sinne des Ancien Régime konzipierte und in die Praxis umsetzte. Der Erforschung des Verwaltungsapparates und der Beamtenschaft der Österreichischen Niederlande hat Renate Zedinger schon frühere Veröffentlichungen gewidmet. In ihrer neuesten Studie spannt sie ihr Thema in den konzeptionellen Rahmen der historischen Migrationsforschung ein. Migration betrachtet sie im Wesentlichen in zweierlei Hinsicht: Zunächst geht es um die Tatsache, dass viele Beamte im Verlauf des 18. Jahrhunderts zeitweilig zwischen den habsburgischen Verwaltungen in Wien und in Brüssel wechselten, um sich beruflich weiter zu qualifizieren und ihre Karriere voran zu bringen; hierzu zählen etwa Goswyn-Arnould de Wynants und Corneille-François de Neny. Als eine zweite Form von Migration stellt Zedinger den Weg ins Exil vor, der zahllose habsburgische Beamte in der Revolutionszeit am Ausgang des 18. Jahrhunderts auf der Flucht aus den belgischen Provinzen in andere Länder der habsburgischen Monarchie führte. Diese zweite Form von Migration bildet den Schwerpunkt ihrer Untersuchung, denn der Akzent liegt eindeutig auf der Zeit um 1794 - jenem Jahr, in dem die französischen Revolutionstruppen die Österreicher nach der Schlacht bei Fleurus definitiv aus den belgischen Provinzen vertrieben und auf diese Weise eine beispiellose Fluchtwelle von schätzungsweise 20.000 bis 30.000 Beamten samt Familienangehörigen und Dienstpersonal auslösten.

Mit dieser Schwerpunktsetzung erscheint der Titel des Buches, der eine Analyse quer durch das 18. Jahrhundert suggeriert, irritierend. In Wirklichkeit liest sich der erste Aspekt von Migration, der die Wechselbeziehungen zwischen Wien und Brüssel bis zu den Revolutionsjahren thematisiert, wie eine Einleitung, während der Hauptteil für die Zeit ab den Koalitionskriegen proportional betrachtet den Löwenanteil ausmacht. Noch verwirrender wird die Titelwahl, wenn man bedenkt, dass das in seiner Zusammenstellung rhapsodisch anmutende letzte Kapitel ins 19., zum Teil sogar ins frühe 20. Jahrhundert ausgreift. Irreführend ist der Titel des Buches jedoch nicht nur im Hinblick auf die zeitliche Schwerpunktbildung. Auch der Begriff "Karriere" trifft den Inhalt der Untersuchung nur zu einem gewissen Teil - führt doch das Schicksal von einzelnen geflüchteten Beamten deutlich vor Augen, dass es bei weitem nicht allen Exulanten gelang, nach der Flucht aus den belgischen Provinzen dauerhaft eine neue Heimat zu finden und beruflich Fuß zu fassen; für einen großen Teil der ehemaligen belgischen Beamten ging es schlichtweg ums nackte Überleben. Treffender wird das Ziel des Buches in der Einleitung formuliert, wenn von den "Schicksalen zwischen Resignation, Rückkehr und Integration" die Rede ist (4). Noch irreführender ist die Titelangabe auf dem Buchrücken: "Migration im 18. Jahrhundert". Die Erwartungen, die solch eine Titelformulierung erweckt, kann und will das Buch nicht erfüllen.

Und zum Titel muss noch ein Manko erwähnt werden: Leider fehlt im Buch jegliche Problematisierung, geschweige denn eine Definition dessen, was unter dem Begriff des Beamten verstanden werden kann. Dies rächt sich dort, wo Vertreter der Handelswelt und des kulturellen Lebens behandelt werden (30 ff.), ohne dass deutlich wird, inwieweit dieser Personenkreis offiziell mit der habsburgischen Verwaltung in Verbindung gebracht und in einer Untersuchung über Verwaltungsbeamte sinnvoll eingearbeitet werden kann. Für die Bestimmung des zu Grunde gelegten Beamtenbegriffs wäre es auch angemessen gewesen zu untersuchen, ob vorzugsweise hohe Beamte (mit entsprechender Finanzkraft und weiterführenden gesellschaftlichen Verbindungen) vor den französischen Truppen geflüchtet sind, oder ob es eine nennenswerte Emigration von Beamten in mittleren oder untergeordneten Stellungen gegeben hat. Die theoretische Fundierung der Arbeit bleibt somit in mancherlei Hinsicht unbefriedigend. Mit der zuverlässigen Schilderung der jeweiligen juristischen Lage und der kollektivbiografisch angelegten Untersuchung von Einzelschicksalen liegt der Wert des Buches eher auf der Präsentation von empirischen Befunden.

Hier liefert Zedinger denn auch mit einer erfreulich breiten Quellenbasis interessante Ergebnisse. Aufschlussreich ist beispielsweise die Regelung der Pensionsansprüche nach der Rechtslage und in der Praxis für belgische Beamte, die ab 1789 vor den Revolutionen im eigenen Land und in Frankreich geflüchtet sind. So verfügte Kaiser Franz II. im November 1794, dass die Stadt Wien vor den Flüchtlingsströmen zu verschließen sei; zahlreiche belgische Exulanten (die teilweise jahrzehntelang treu in habsburgischen Diensten gestanden hatten) waren gezwungen, in anderen Reichsteilen Unterschlupf zu finden. Obendrein mussten sie bei der Einreise ins habsburgische Reich nachweisen, dass sie zur Finanzierung ihres Unterhalts in der Lage waren. Dies wurde erstens dadurch erschwert, dass die Gewährung von Pensionen durch den österreichischen Staat an strenge Kriterien gebunden war; zweitens konnten viele exilierte belgische Beamte das Vermögen, das sie oder ihre Familien auf Wiener Banken deponiert hatten, wegen des Einreiseverbotes in die Hauptstadt nicht in Anspruch nehmen. Ein wahrer Teufelskreis, der auf loyale Beamte einen entehrenden Eindruck machte und in vielen Fällen existenzbedrohend war. Eine gewisse Erleichterung brachte der Friede von Campo Formio mit sich, in dem den emigrierten Beamten 1797 die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre belgischen Besitzungen zu verkaufen. Und im Frieden von Lunéville (1801) wurde belgischen Remigranten von Napoleon eine Amnestie in Aussicht gestellt - unter der Voraussetzung, dass sie die französische Herrschaft anerkannten. Erst durch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 wurden diejenigen, die sich zum Verbleib in den habsburgischen Ländern entschieden, den anderen Untertanen des Reiches rechtlich gleichgestellt. Immerhin schafften es einige belgische Ex-Beamte, in den Erblanden eine neue berufliche Anstellung zu finden. Im letzten Kapitel ihres Buches macht Zedinger deutlich, dass mittel- und langfristig in einigen Fällen von einer gelungenen Integration in die österreichische Gesellschaft und zum Teil in das europäische Kulturleben des 19. Jahrhunderts die Rede sein kann. "Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, schien die Situation für die belgischen Beamten jedoch aussichts- und hoffnungslos zu sein [...]" (72). In der entwürdigenden Behandlung von verdienten ehemaligen Beamten stand die Hofburg übrigens nicht allein; auch eine Reihe von Städten im Heiligen Römischen Reich erließ restriktive Verordnungen, um sich gegen die politischen und wirtschaftlichen Belastungen zu schützen, die die Flüchtlingsströme mit sich brachten. Interessant ist auch Zedingers Beobachtung, dass sich das "Patronage- und Klientelsystem", das sich unter den belgischen Beamten in Brüssel bis 1794 ausgebildet hatte, im Exil fortsetzte (101). Dazu gehört auch die Konkurrenz zwischen einflussreichen Familien(-gruppen) wie den Nenys und den Crumpipens - eine Konkurrenz, die gravierende Auswirkungen auf die Frage haben konnte, ob ein geflüchteter Beamter nach Wien einreisen durfte oder nicht.

Mit solchen zuverlässig aus den Quellen herausgearbeiteten Befunden ermöglicht Zedingers Buch Einsichten in das Schicksal von belgischen Beamten und ihren Familien. Gerade deshalb ist es schade, dass die Darstellung nicht immer auf das eigentliche Thema, die Analyse der Wanderungsbewegungen von Beamten zwischen den Österreichischen Niederlanden und den habsburgischen Erblanden, fokussiert ist. Aspekte wie die Geschichte der französischen Exulanten oder die Jakobiner in der Habsburgermonarchie werden nur angerissen; es wird aber nicht ausgeführt, welche Bedeutung dies jeweils für das Schicksal der geflüchteten belgischen Beamten hatte. Hierunter leiden Stringenz und Kohärenz der Argumentation. Darüber hinaus hätten manche Quellenzitate, deren Länge im umgekehrten Verhältnis zu ihrer analytischen Relevanz steht, deutlich gekürzt werden können. An anderen Stellen wiederum hätte man sich dringend nähere Erläuterungen gewünscht. Was darf man sich beispielsweise darunter vorstellen, dass die geflüchteten belgischen Beamten in ihrem Exil in der Habsburgermonarchie "eine Gemeinschaft" gebildet haben (114)? Haben sie hier feste organisatorische Strukturen ausgebildet, gab es für sie feste Treffpunkte, und wurde ihr Zusammenhalt vom österreichischen Staat unterstützt oder behindert? Und was heißt es, dass sich Johan Vesque von Püttlingen "während der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848" besonders hervorgetan habe (134)? Auf welcher Seite hat er damals gestanden? Offen bleibt auch, welche Schlussfolgerungen hieraus für die politische Orientierung von Nachfahren belgischer Exulanten gezogen werden können. Was die Literaturbasis betrifft, ist auffallend, dass die flämische Literatur so gut wie nicht berücksichtigt worden ist. Zur Brabantischen Revolution von 1789/90, die unter belgischen Beamten die erste Fluchtwelle auslöste, wird die neuere Literatur nicht zur Kenntnis genommen. [1] Die Redigierung des Buches schließlich ist an einigen Stellen von einer peinlichen Oberflächlichkeit gekennzeichnet. Auf Seite 158 ist ein Teil des (unformatierten) Personenregisters abgedruckt, und die Silbentrennung hätte durch eine sorgfältige Begleitung der Drucklegung durch den Verlag dem üblichen Standard angepasst werden können.

Dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Zedingers Buch eine wichtige Studie zu einem Thema darstellt, das nicht nur für die belgische Geschichte, sondern auch für die Geschichte des Habsburgerreiches aufschlussreich ist. Mit der Untersuchung von freiwilliger oder erzwungener Mobilität von Beamten im 18. Jahrhundert liefert es nicht nur Facetten zur Migrationsgeschichte, sondern enthält auch Bausteine zu einer Sozialgeschichte des Beamtentums im Ancien Régime und im Revolutionszeitalter.


Anmerkung:

[1] Geert van den Bossche: Enlightened Innovation and the Ancient Constitution. The intellecutal justifications of Revolution in Brabant (1787-1790) (= Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie van België voor Wetenschappen en Kunsten. Nieuwe reeks; Nr. 4), Brüssel 2001 und Johannes Koll: 'Die belgische Nation'. Patriotismus und Nationalbewußtsein in den Südlichen Niederlanden im späten 18. Jahrhundert (= Niederlande-Studien; Bd. 33), Münster u.a. 2003. Auch die 1984 erschienenen "Actes du Colloque sur la Révolution Brabançonne" (hrsg. von J. Lorette / P. Lefèvre / P. de Gryse) werden nicht berücksichtigt.

Johannes Koll