Rezension über:

Jon D. Mikalson: Herodotus and Religion in the Persian Wars, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2003, XIV + 269 S., 5 maps, ISBN 978-0-8078-2798-7, GBP 31,95
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Jon D. Mikalson: Herodotus and Religion in the Persian Wars, Chapel Hill, NC / London: University of North Carolina Press 2003, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 2 [15.02.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/02/6301.html


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Jon D. Mikalson: Herodotus and Religion in the Persian Wars

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Herodots 'Historien' enthalten viele Nachrichten über religiöse Bräuche und Götterglauben der Griechen. Die Wahrnehmung eines Wirkens der Götter und die hieraus resultierende Verehrung übernatürlicher Kräfte im Verlauf der Perserkriege sind selbstverständlich ebenso wie das eigentliche Kriegsgeschehen historische Fakten, haben aber in der Forschung durchweg weniger Beachtung gefunden als Herodots Darstellung der militärischen und politischen Aktionen in jener Zeit einer existenziellen Bedrohung der hellenischen Welt durch die persische Expansion. Mikalson will nunmehr durch eine umfassende Analyse der Hinweise Herodots auf kultisch-religiöse Vorstellungen der Griechen in den Jahren der Persergefahr eine Lücke schließen.

Er erörtert das Thema im ersten Kapitel (15-110) in einem weiten Rahmen, indem er bis in die Vorgeschichte der Beseitigung der Tyrannis in Athen und in die Zeit des Ionischen Aufstandes zurückgreift und die von Herodot erwähnten Orakel vor dem Sturz der Peisistratiden und vor dem Fall Milets paraphrasiert, ohne freilich die Probleme detailliert zu diskutieren. Ausführlicher interpretiert er göttliche Zeichen und Orakel und deren Auswirkungen auf das Handeln der Griechen während der Invasion des Datis und Artaphernes (490 vor Christus) sowie vor und während der Invasion des Xerxes (480/479 vor Christus). Die Literaturhinweise im Anmerkungsapparat sind allerdings recht selektiv, und mit eigenen Stellungnahmen ist Mikalson in diesem Teil des Buches recht zurückhaltend. Der mentalitätsgeschichtlich bedeutsame Prozess der Mythenbildung um das Geschehen bei Marathon (490 vor Christus) wird keineswegs erschöpfend erläutert. Dies wäre etwa in Mikalsons Interpretation der Darstellung der Marathon-Schlacht in der Stoa Poikile an der Nordseite der Athener Agora (33-35) oder in seinen Hinweisen auf Ausführungen des Pausanias 1,32,3-5 über die von den Athenern in der Ebene von Marathon errichteten Denkmäler (30-32) wünschenswert gewesen. In der folgenden Erörterung der Vorzeichen und Orakel während der großen Invasion des Xerxes wertet er zwar alle relevanten Herodottexte aus, die Aufschlüsse bieten über griechische Vorstellungen vom Eingreifen göttlicher Kräfte und von den Hoffnungen der Hellenen, die Hilfe ihrer Götter zu gewinnen. Einige wesentliche Aspekte zum Verständnis dieser Phänomene bleiben indes unberücksichtigt. So vermutet Mikalson wohl mit Recht, dass einige Heroen, die den Griechen in der Schlacht bei Plataiai 479 vor Christus beigestanden haben sollen, vor jenem Kampf vielleicht nur den Plataiern bekannt waren (96). Nicht alle Leser dieser Interpretation dürften aber mit verschiedenen Implikationen des Heroenkultes vertraut sein. Mikalson skizziert zwar im zweiten Kapitel (111-135) Funktionen und Aktionsfelder der von Herodot in seiner Darstellung der Perserkriege erwähnten griechischen Götter und Heroen. Spätestens in diesem Zusammenhang wäre indes die Erläuterung erforderlich, dass ein Heros nach dem Glauben seiner Verehrer noch aus dem Grab heraus die nähere und weitere Umgebung seiner letzten Ruhestätte und die dort lebenden Bewohner zu beschützen vermag.

Mikalson berücksichtigt generell den politischen und militärischen Kontext kultisch-religiöser Vorstellungen und Aktionen. Dies ist zweifellos zu begrüßen. Man vermisst aber verschiedentlich eine kritische Auswertung der einschlägigen Überlieferung. Es bleibt beispielsweise offen, warum er allen Ernstes die Armee der Griechen bei Plataiai auf 110.000 Kombattanten und die Streitmacht der Perser auf mehr als 300.000 Bewaffnete beziffert (93) und des Weiteren glaubt, dass in dieser Schlacht 230.000 Mann im Heer des Mardonios getötet wurden (97).

In Kapitel 3 (136-165) sucht Mikalson ein Bild von Herodots Verständnis vom Wirken der Götter zu gewinnen. Er will nach seiner eigenen Formulierung das Ergebnis seiner Textinterpretationen mit einer "Socratic distinction" zum Ausdruck bringen (139): Herodot habe geglaubt oder akzeptiert, wie die Götter handelten, aber nicht versucht, ihr Wesen zu erfassen. Auch die göttliche Herkunft der Orakel habe der Historiker anerkannt, doch sei er sich darüber im Klaren gewesen, dass diese 'Auskünfte' mit größter Vorsicht zu interpretieren seien (140). Diese Schlussfolgerung Mikalsons wird durch die von ihm angeführten Schlüsselstellen durchaus bestätigt. Hierzu zählen beispielsweise die Orakelsprüche, die Kroisos vor seiner Niederlage im Kampf gegen Kyros sowie die Milesier vor dem Fall ihrer Polis 494 vor Christus erhalten haben sollen (Herodot 5,53-56; 6,19). Ähnlich beurteilt Mikalson Herodots Glauben an die Aussagekraft der Vorzeichen und der Weissagungen (141). Seine Analyse der religiösen Vorstellungen Herodots ist zweifellos der beste Teil des Buches.

In einem ausführlichen Anhang (167-195) behandelt er abschließend Herodots Auffassung vom Ursprung der Religion der Griechen und vom Einfluss ägyptischer und pelasgischer Kulte auf die hellenische Götterwelt. Er entnimmt dem hier relevanten Herodottext (2,50-53), dass für den Historiker die griechische Götterwelt nur ein System unter vielen anderen religiösen Vorstellungen gewesen sei, sodass sie aus der Sicht Herodots nicht als bestmögliche Konzeption eines göttlichen Prinzips gegolten habe. Diese These lässt sich freilich nicht verifizieren, da Herodot selbst sich nicht expressis verbis in dieser oder ähnlicher Weise geäußert hat. Wenn Herodot die Wirkungsmacht fremder Gottheiten anerkannte, so ist dies durchaus typisch für polytheistische Vorstellungen.

Auch im Anhang wären detailliertere Erläuterungen mehrfach wünschenswert. Mikalson führt beispielsweise zu den Anfängen des griechischen Heroenglaubens aus (175), dass nach Herodot 7,204 König Leonidas von Sparta der 21. Nachkomme des Herakles war und der Heros dementsprechend in die Zeit um 1350 vor Christus datiert wurde. Hier vermisst man eine eindeutige Stellungnahme zur Mythenbildung, zur Heraklidensage, zum Quellenwert der spartanischen Königslisten für die Frühzeit und nicht zuletzt zum Beginn des Heroenkultes, der erst im 8. Jahrhundert fassbar wird.

Insgesamt hat Mikalson aber unser Wissen über Kultausübung und Götterglauben der Hellenen in einer entscheidenden Phase ihrer Geschichte erweitert. Seine Auswertung zahlreicher diesbezüglicher Herodotstellen ist eine Basis für weitere Forschungen zu der von ihm behandelten Thematik.

Karl-Wilhelm Welwei