Rezension über:

Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart: Reclam 2005, 207 S., 15 Abb., ISBN 978-3-15-017047-2, EUR 6,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Jens Ruppenthal
Seminar für Geschichte und für Philosophie, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Zimmerer
Empfohlene Zitierweise:
Jens Ruppenthal: Rezension von: Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart: Reclam 2005, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 9 [15.09.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/09/8677.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Winfried Speitkamp: Deutsche Kolonialgeschichte

Textgröße: A A A

"Ungeachtet des zunehmenden Interesses an der deutschen Kolonialgeschichte nimmt die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit nach wie vor eine marginale Position in Deutschland ein" (186). Mit dieser Feststellung schließt sich Winfried Speitkamp einer Mehrheit der deutschen Kolonialhistoriker an. Das Thema verlangt demzufolge nach übersichtlichen Einführungen, die dennoch mehr als nur eine chronologische Abhandlung von Kolonialpionieren, -skandalen und -reformern zwischen Kongo-Konferenz und Erstem Weltkrieg bieten. Der vorliegende Band unterscheidet sich vor allem durch zwei Aspekte von älteren Überblickswerken: einerseits durch ein erhöhtes Augenmerk auf den Stellenwert der Kolonialgeschichte im kollektiven Gedächtnis, andererseits durch eine Betonung der "Verbindung und Wechselwirkung zwischen Metropole und Kolonien" (11). Mit dem zweiten Punkt möchte Speitkamp auch die anhaltenden Folgen des kolonialen Verhältnisses hervorheben und belegen, dass die "Kolonialgeschichte noch nicht beendet/zu Ende" (12/187) ist - ein Urteil, das seine Darstellung einrahmt.

Speitkamps konventioneller Einstieg beginnt mit zwei Kapiteln über die "Vorgeschichten" der deutschen Kolonialherrschaft und deren territoriale "Expansion"; darin beschreibt er die Anfänge der deutschen Kolonialbewegung im Rahmen des internationalen Imperialismus, stellt deren Protagonisten vor und problematisiert Bismarcks Kolonialpolitik. Er skizziert die Inbesitznahme der Kolonien, die Rolle der bei ihrer Verwaltung überforderten Kolonialgesellschaften und die Herrschaftsübernahme durch das Reich. Mit den folgenden fünf Kapiteln durchbricht Speitkamp jedoch die Chronologie und weicht von der gerne vorgenommenen Periodisierung der deutschen Kolonialherrschaft in eine Phase der Inbesitznahme, eine der Herrschaftskonsolidierung und eine der Reformen ab.

Im Kapitel über "Verfassung und Verwaltung" wird deutlich, wie uneinheitlich und teils widersprüchlich der rechtliche Status der Kolonien und ihrer Bewohner war. Dem entsprach eine gewisse Planlosigkeit im Bereich der Kolonialbeamten. Zwar darf die Bedeutung der zu ihrer Ausbildung im Reich geschaffenen Ausbildungsstätten - neben der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen und dem Hamburgischen Kolonialinstitut müsste hier das 1887 gegründete Seminar für orientalische Sprachen in Berlin genannt werden - als solcher nicht überschätzt werden. Doch die mit diesem Komplex verbundenen Überlegungen und Debatten bildeten eine Konstante im kolonialen Diskurs des Kaiserreichs und waren verbunden mit den von Speitkamp nicht berücksichtigten 'Kolonialwissenschaften' und so auch mit der Rolle der Universitäten. Hervorzuheben ist ferner der gelungene Abschnitt über "Formen von Kooperation und Herrschaftsbeteiligung", in dem unter anderem vergegenwärtigt wird, wie abhängig die deutsche Präsenz in entlegenen Regionen von einheimischen Machtstrukturen und lokalem Wissen sein konnte. In manchen Fällen stellt sich die Frage, "wer eigentlich mit wem kollaborierte" (58).

Auch in den Bereichen von Recht, Wirtschaft, Mission und Bildung erschien der deutsche Kolonialismus nicht aus einem Guss, sondern besaß oft einen provisorischen Charakter. Dabei strukturiert Speitkamp diese Themen übersichtlich und gleichmäßig. Zwar sind Befunde wie der zur marginalen Bedeutung der Kolonien für die Volkswirtschaft bekannt, doch aussagekräftige Beispiele veranschaulichen einmal mehr die jeweilige Problematik. Dass sich etwa die Lehrpläne von Missions- und Regierungsschulen bei der Gewichtung der Fächer Religion und Deutsch voneinander unterschieden, dürfte kaum überraschen. Die genannten Zahlen führen jedoch vor Augen, wie sehr die Positionen differieren konnten und wie groß auch das Konfliktpotenzial in den Reihen der Kolonisatoren war. Das Kapitel "Stadt und Kultur in den Kolonien" thematisiert wiederum, was in anderen Darstellungen häufig zu kurz kommt. Speitkamp erläutert die Spezifika der Herrschaft in den Kolonialstädten und besonders, gestützt auf eine breite Grundlage eigener Spezialforschungen, die Formen der Herrschaftsrepräsentation etwa durch Denkmäler.

Ein eigenes Kapitel widmet Speitkamp den beiden großen Kolonialkriegen in Südwest- und Ostafrika. Dabei stellt er die Ereignisse und die "Ergebnisse und Folgen" in separaten Abschnitten dar. Zwar scheinen dadurch die Konzentrationslager im Krieg gegen Herero und Nama und die Strategie der "verbrannten Erde" während des Maji-Maji-Aufstands vom Kriegsgeschehen getrennt, was nicht der Fall war. Doch ermöglicht diese Perspektive einen Vergleich der beiden Konflikte, die meist unabhängig voneinander betrachtet werden. Außerdem unterstreicht Speitkamp damit die Bedeutung und die gleichfalls verheerenden Folgen des Maji-Maji-Aufstands, der auch in jüngeren Diskussionen gegenüber dem Krieg in Südwestafrika leicht in Vergessenheit gerät.

Unter den "Rückwirkungen der Kolonialpolitik" gilt die Aufmerksamkeit besonders der Kolonialpolitik in der Metropole, den Debatten im Reichstag und dem Personal der Kolonialzentralverwaltung in Berlin. Eine der auffälligsten Gestalten war Bernhard Dernburg, dessen Name mit dem Begriff der Kolonialreformen untrennbar verbunden ist - untrennbar auch, weil er sich während seiner relativ kurzen Amtszeit als Staatssekretär kaum anderweitig profilierte. Jedoch wäre hier der Hinweis sinnvoll gewesen, dass der Einfluss seiner Politik auf die Kolonialherrschaft vor Ort letzten Endes gering blieb. Weiter verweist Speitkamp im Rahmen der "Kolonialkultur" auf eine spezifische Gedenkkultur, die sich an den "Kolonialheroen" orientierte und ohne größere Veränderungen auch die kommenden politischen Zäsuren überdauerte. Ein weiterer Abschnitt berücksichtigt schließlich die Auseinandersetzung mit der kolonialen Erfahrung im Reich, die unter anderem in der direkten Begegnung mit der afrikanischen Diaspora bestand.

Mit den beiden abschließenden Kapiteln über den Verlust der Kolonien und den Kolonialrevisionismus sowie über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten kehrt Speitkamp schließlich zur Chronologie zurück. Zu Recht verweist er auf die Parallelen von Kriegsschuldfrage und 'Kolonialschuldfrage' nach dem Ersten Weltkrieg, die beide fester Bestandteil des Weimarer Revisionssyndroms waren. Bei dem Konflikt um die moralische Bewertung der Kolonialherrschaft schätzt er zwar die Bedeutung des Kolonialrevisionismus in der Außenpolitik als zweitrangig ein, doch war das Thema präsenter, als es in seiner Darstellung den Anschein hat: So wurde im Auswärtigen Amt 1924 eine neue Kolonialabteilung eingerichtet, in der Diskussion um den Beitritt Deutschlands zum Völkerbund blieb die Kolonialfrage auf der Tagesordnung, und auf der Konferenz von Locarno erwirkte Gustav Stresemann gar die Rücknahme der alliierten Kolonialvorwürfe - was freilich weder weitere Zugeständnisse zur Folge hatte noch die Kolonialrevisionisten befriedigte. Auch die Beschreibung der nationalsozialistischen Kolonialpläne fällt knapp aus, sodass ihr tatsächlicher Umfang nicht deutlich wird.

Das Kapitel über "Die Kolonien im kollektiven Gedächtnis" stellt noch einmal die Erfahrungen von Metropole und Kolonien gegenüber. Für Speitkamp ist für das beiderseitige Verständnis der Kolonialgeschichte entscheidend, dass die afrikanische Bevölkerung nicht nur als "passives Opfer kolonialer Gewalt" (186) wahrgenommen wird. Allerdings legt auch er den Schwerpunkt seiner Darstellung auf die deutsche Perspektive und die deutschen Erfahrungen und bezieht nicht immer die Sichtweise der Kolonisierten gleichgewichtig mit ein. Bei einem handlichen Überblickswerk mit dem Titel "Deutsche Kolonialgeschichte" entspräche etwas anderes aber auch kaum den Erwartungen. So bietet das Buch in jedem Fall eine sinnvoll strukturierte, alle relevanten Aspekte berücksichtigende und gut lesbare Einführung in die deutsche Kolonialgeschichte, die von einigen Kartenskizzen, einem knappen Literaturverzeichnis und Personen- und Ortsregister beschlossen wird.

Jens Ruppenthal