Rezension über:

Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945 (= Europäische Zeitgeschichte; Bd. 1), Stuttgart: UTB 2005, 229 S., ISBN 978-3-8252-2656-5, EUR 16,90
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Rezension von:
Holger Nehring
Oxford
Empfohlene Zitierweise:
Holger Nehring: Rezension von: Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945, Stuttgart: UTB 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 1 [15.01.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/01/8212.html


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Thomas Mergel: Großbritannien seit 1945

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Mit der Einführung des Bachelor-Studiengangs an deutschen geschichtswissenschaftlichen Instituten ist der Bedarf an einführenden textbooks gestiegen, die die Studierenden schnell an den neuen Stoff heranführen sollen. Der hier vorzustellende Band zur britischen Geschichte nach 1945 ist der erste einer von Thomas Mergel und Martin Schulze Wessel gemeinsam herausgegebenen Buchreihe zur europäischen Geschichte. Es sei vorweg genommen: Mit Mergels Buch liegt eine konzise, zuverlässige, durchweg flott geschriebene und insgesamt sehr kluge Darstellung vor, die für die folgenden Bände der Reihe die Messlatte sehr hoch legt.

In seiner gelungenen Einleitung stellt Mergel "decline" und "consensus" als zentrale Deutungsmuster der britischen Geschichte nach 1945 vor und interpretiert sie als wichtige Bestandteile gesellschaftlicher Selbstbeobachtung in Großbritannien. Zudem ordnet er auf knappem Raum seinen Gegenstand unter historischer und landeskundlicher Perspektive überzeugend ein. Das erste Kapitel widmet sich Grundkoordinaten des politischen Systems: der Verfassung, den Parteien und dem politischen Prozess. Im zweiten Kapitel geht Mergel auf die wirtschaftliche Entwicklung ein - hier hätte sich der Leser eine etwas präzisere Darstellung dessen gewünscht, was als "decline" zu verstehen ist. Denn wie vor allem Jim Tomlinson jüngst herausgearbeitet hat und wie Mergel selbst in seiner Einleitung andeutet, war "decline" genauso Teil der wissenschaftlichen Beobachtung wirtschaftlicher Phänomene wie eine reale Entwicklung.

Das dritte Kapitel stellt den Aufbau des britischen Wohlfahrtsstaates dar. In Kapitel vier geht es um den "Abschied vom Empire", im fünften Kapitel dann um Grundlinien der Außenpolitik. Besonders gelungen ist das sechste Kapitel, in dem Mergel die Strukturen sozialer Ungleichheit untersucht. Dabei bleiben allerdings die Erörterungen über das britische Schulsystem mitunter etwas unklar. Lebendig führt Mergel in Kapitel sieben die Leser in die Wandlungen von "Lebensstilen" in Großbritannien nach 1945 ein.

Im achten Kapitel geht es um Medien und Monarchie - ob diese Verbindung tatsächlich glücklich ist, wäre noch zu diskutieren. Das neunte Kapitel untersucht die regionalen Dimensionen der britischen Politik: Wales, Schottland und Nordirland. Im zehnten Kapitel behandelt Mergel den Aufstieg des Thatcherismus, wobei man sich hier allerdings eine präzisere Einordnung und Diskussion des Phänomens gewünscht hätte. Besonders Ewen Green hat in letzter Zeit wiederholt darauf hingewiesen [1], dass es sich bei Thatchers Ideologie eben nicht um eine Reaktion auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise der Siebzigerjahre handelte. Vielmehr betont Green die Kontinuitäten des konservativen Milieus seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Ein überzeugender Ausblick zur Bedeutung der britischen Zeitgeschichte für die Politik der Gegenwart schließt den Band ab.

Hilfreiche Quellenauszüge und Tabellen zu sozialen, politischen und kulturellen Themen lockern den Text auf. Kurze Zusammenfassungen am Ende der Kapitel ermöglichen den Lesern die systematische Verarbeitung des Stoffes. Man hätte sich allerdings an manchen Stellen - so im Zusammenhang mit der Dekolonisierung, bei der Debatte um Großbritanniens Verhältnis zu Europa oder Margaret Thatchers Politik - eine Diskussion der historischen Kontroversen gewünscht.

Den Maßgaben der Reihe entsprechend hat Mergel auf Fußnoten verzichtet. Am Ende des Bandes findet der Leser jedoch eine schlüssige und pointiert kommentierte Bibliografie. Man vermisst hier allerdings eine Rubrik mit einschlägigen Quellensammlungen - denn es ist zu hoffen, dass auch die künftigen BA-Studierenden weiterhin Quellen als den Ausgangspunkt ihrer Arbeit nutzen. Ein hilfreiches Personen- und Sachregister, leider immer noch eine Ausnahme in der deutschsprachigen Literatur, schließt den Band ab.

Manche mögen nun argumentieren, dass angesichts der Englischkenntnisse der Studierenden eine weitere Einführung in die britische Geschichte unnötig sei. Was hat also Mergels Buch im Vergleich zu den im englischen Sprachraum gebräuchlichen Einführungen, etwa von Peter Clarke und Kenneth Morgan, oder Roland Sturms Einführung in deutscher Sprache zu bieten? [2] Roland Sturm argumentiert vor allem aus politikwissenschaftlicher Warte. Weder Clarke noch Morgan bereiten den Stoff so systematisch auf, wie Mergel das tut. Morgans Studie ist im Großen und Ganzen chronologisch angelegt, und Clarkes Ziel war es, eine umfassende Interpretation der britischen Geschichte im 20. Jahrhundert zu präsentieren. Beide Bände sind - da sie auf ein anderes Publikum als Mergel zielen - für Novizen in der britischen Geschichte nicht immer leicht verständlich, da sie eine Reihe von Grundannahmen und Deutungen schlicht voraussetzen.

Die Stärke von Mergels Buch besteht genau darin, diese Grundannahmen zu problematisieren und zu erläutern. Außerdem wirft Mergel des Öfteren vergleichende Blicke auf andere europäische Gesellschaften, um Großbritanniens Entwicklung in der europäischen Zeitgeschichte zu verorten - eine solche Perspektive gibt es noch nicht, und sie ist sehr zu begrüßen. Denn bei Mergel erscheint Großbritannien nicht als Außenseiter Europas, sondern als ein Land, das in gleicher Weise an den politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen der westlichen Welt teilhatte, mit diesen aber anders umging.

Eine solche Sicht bietet nicht nur den BA-Studierenden an deutschen Universitäten viel Stoff zum Diskutieren und Nachdenken - sie sollte auch Fachwissenschaftlern als Anregung zu vergleichenden Forschungen dieser Phänomene dienen. Trotz der geringfügigen Kritik an Einzelpunkten stellt dieser konzise Band daher eine beeindruckende Synthese-Leistung dar. Ihm ist eine große Leserschaft zu wünschen.


Anmerkungen:

[1] Ewen H. H. Green: Ideologies of Conservatism. Conservative political ideas in the twentieth century, Oxford 2002.

[2] Peter Clarke: Hope and Glory. Britain: 1900-2000, London, 2. Aufl., 2004; Kenneth O. Morgan: Britain since 1945: The People's Peace, Oxford, 3. Aufl., 2001; Roland Sturm: Großbritannien: Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Opladen, 2. Aufl., 1997.

Holger Nehring