Rezension über:

Hugo Chapman / Tom Henry / Carol Plazzotta: Raffael. Von Urbino nach Rom (= Katalog zur Ausstellung in der National Gallery, London, 20.10.2004 - 16.1.2005), Stuttgart: Belser Verlag 2004, 320 S., 139 Abb., ISBN 978-3-7630-2442-1, EUR 59,90
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Rezension von:
Andreas Henning
Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Henning: Rezension von: Hugo Chapman / Tom Henry / Carol Plazzotta: Raffael. Von Urbino nach Rom, Stuttgart: Belser Verlag 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 3 [15.03.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/03/9695.html


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Hugo Chapman / Tom Henry / Carol Plazzotta: Raffael

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Um eine umfangreiche Ausstellung Raffael widmen zu können, braucht es bereits vor Ort einen repräsentativen Bestand an Werken dieses Künstlers. Nur wenige seiner Gemälde sind transportfähig. Nur wenige Museen erlauben es sich, ihre Besucher mit der Weggabe eines 'Raffaels' zu enttäuschen. London ist mit den Beständen der National Gallery und des British Museum in der glücklichen Lage, einen fulminanten Schatz an Raffael-Werken zu besitzen. Und Carol Plazzotta, Myojin Curator für italienische Malerei des 16. Jahrhunderts an der National Gallery, hat zusammen mit Hugo Chapman und Tom Henry diese Chance geschickt zu nutzen gewusst und zu einer einmaligen Ausstellung "Raphael - From Urbino to Rome" (20. 10. 2004 - 16. 1. 2005, London, National Gallery) geladen.

Der gut ausgestattete Katalog ist die fast seitenidentische Ausgabe des Londoner Ausstellungsbandes. [1] Gezielt wurde das Projekt um den Raffael-Bestand der National Gallery gruppiert, der einen Zeitraum von 1502 bis 1511 umfasst. Wenngleich auch kein Jubiläum anstand, so sollte das Jahr 2004 für die National Gallery doch schließlich als das Jahr des Erwerbs der "Madonna mit der Nelke" (Kat.59) gelten. Es ist das zehnte Werk des Künstlers in der Sammlung. Das erste war 1824, im Gründungsjahr des Museums, angekauft worden - Nicholas Penny steuert im Katalog eine instruktive Geschichte der Raffael-Ankäufe der National Gallery im 19. Jahrhunderts bei (295-303).

Von den Anfängen Raffaels über seinen Aufenthalt in Perugia und Florenz bis hin zu den ersten römischen Jahren reicht die Spannbreite der gezeigten Entwicklung. Der Tod von Papst Julius II. 1513 wird als Schlusspunkt der Ausstellung genutzt, auch wenn sich Raffaels Œuvre natürlich in anderen Rhythmen vollzog. Arnold Nesselrath beleuchtet im Katalog das Verhältnis von Raffael und Papst Julius II. (280-293). Ein großer Verdienst der Ausstellungsmacher liegt in der überzeugenden Zusammenstellungen von Gemälden und Zeichnungen, die Einblicke in Raffaels Arbeitsprozess geben, sowie in der pointierten Kontextualisierung des Künstlers mit Werken anderer Maler. Das ist insbesondere für Raffaels Beginn in den Marken gelungen. Hier lassen sich eine Reihe von substanziellen Anregungen in Zuschreibungs- und Datierungsfragen für die weitere Forschung finden.

Ausführlich werden die frühen Jahre Raffaels untersucht. Das geschieht sowohl in dem großen einleitenden Aufsatz von Tom Henry und Carol Plazzotta, der Raffaels Weg von Urbino nach Rom verfolgt (15-65), als auch in den informativen Katalogeinträgen. Zentral dabei die gegen Vasari gerichtete These, dass Raffael kein Schüler von Perugino gewesen sei. Vielmehr wird deutlich gemacht, dass Raffael zum Zeitpunkt der Arbeit an der Londoner "Mond-Kreuzigung" (1502/03, Kat. 27) nach Perugia zog und sich erst dort dessen Technik aneignete (26 ff.). Peruginos Stil sei Raffael zwar schon in der Werkstatt seines Vaters bekannt geworden, der in einem Austausch mit dem damals erfolgreichsten Maler Mittelitaliens stand (72). Doch sei Raffael niemals Schüler von Perugino geworden, wie es sich auch in Perugia nicht um eine eigentliche Lehrzeit in dessen Werkstatt gehandelt habe, sondern vielmehr um eine kollegiale Nähe. Raffael wurde bereits im Vertrag zum Baronci-Altarbild in Città di Castello (Kat. 15-17) als "magister Rafael Johannis Santis de Urbino" [2] tituliert. Wie allerdings der Zugang zu Peruginos Werkstatt, der zu der Zeit eine zweite in Florenz betrieb, strukturiert war, muss offen bleiben. Prägnant umreißt der Katalog maltechnische Argumente, die grundlegende Unterschiede in der Anlage der Inkarnatfarben bei Perugino und Raffael offenbaren. Die maltechnischen Analysen "zeigen [...] eindeutig, dass Raffael in der Werkstatt seines Vaters ausgebildet wurde"(18). Folgerichtig ist der erste Katalogteil Raffaels frühem künstlerischen Umfeld gewidmet. Neben Giovanni Santi (Kat. 3-5) und Perugino (Kat. 7-11) nimmt hier Pinturrichio (Kat. 6) eine zentrale Rolle ein (vgl. 26 ff.).

Hoch anzurechnen ist den Ausstellungsmachern, dass sie auch sehr umstrittene Werke aus der Frühzeit des Künstlers berücksichtigt haben. Dazu zählen vor allem das Prozessionskreuz aus der Sammlung Poldi-Pezzoli in Mailand und die "Auferstehung Christi" aus São Paolo. Beide Werke werden erstmals gemeinsam präsentiert und haben mit der Prozessionsfahne aus Città di Castello (Kat. 18-19) sowie der "Krönung des heiligen Nikolas von Tolentino" (Kat. 15-17) einen klug ausgewählten Referenzrahmen erhalten - die Prozessionsfahne hat überhaupt zum ersten Mal die Stadt, für die sie gemalt wurde, verlassen.

Für das Prozessionskreuz (Kat. 14) wird vorsichtig eine Zuschreibung an Raffael vorgeschlagen. [3] Tom Henry zieht eine Federzeichnung aus Berlin (Kat. 13) zum Vergleich heran. Damit will er nicht nur zeigen, dass Raffael sich mit Medaillonfeldern beschäftigt hat, sondern interpretiert die Zeichnung als möglichen Entwurf für das Prozessionskreuz, da die Lichtführung und Figurenausrichtung für eine vergleichbare Anordnung sprechen. [4] Die "Auferstehung Christi" (Kat. 21) wird als Werk Raffaels geführt. Wilhelm von Bode hatte 1880 die Tafel entdeckt, Umberto Gnoli schrieb sie 1921/22 dem Perugino-Schüler Mariano di Ser Austerio zu. Von William Suida stammt die nachdrücklichste Zuschreibung an Raffael. Sie konnte sich bislang nicht überall durchsetzen. Zuletzt hat Jörg Meyer zur Capellen die Arbeit abgeschrieben. [5] Carol Plazzotta sucht dagegen die Annahme einer um 1501/02 zu datierenden autografen Ausführung durch die Hinzunahme der kürzlich entdeckten Entwurfszeichnung aus Pesaro zu verdichten, die die Figur des auferstehenden Christus zeigt (Kat.22). Gemeinsam mit den beiden Blättern aus Oxford (Kat.23-24) besitze man nun zu vier Figuren der "Auferstehung" Studien von Raffael (112). Auszuschließen sei, dass Raffael nur die Entwürfe geliefert habe, ohne die Tafel selbst auszuführen. Denn bislang unveröffentlichte Infrarotreflektogramme hätten ergeben, dass die Unterzeichnung des Gemäldes vielfach überarbeitet worden sei. Daraus dürfe geschlossen werden, dass Raffael selbst die zeichnerischen Ideen auf der Untermalung weiterentwickelt habe (111). Hier werden weitere Überlegungen anknüpfen können. Denn die Attribution an Raffael ist zum Beispiel auf Grund des fehlenden räumlichen Zusammenhalts zwischen den Figuren zu diskutieren, da andere Figurenkompositionen in zeitgleich entstandenen Werken wie der Prozessionsfahne und der "Mondkreuzigung" wesentlich schlüssiger gelungen sind. Zudem ist die harte Modellierung der Figuren für Raffael untypisch, sodass die Ausführung auf der Holztafel wohl doch in anderen Händen gelegen haben dürfte.

Auch für spätere Arbeitsphasen Raffaels ist den Initiatoren immer wieder ein enger Zusammenklang mit Vergleichswerken gelungen. Für Raffaels Tätigkeit in Florenz während der Jahre 1504 bis 1508 wird die Auseinandersetzung mit Leonardos Madonnendarstellungen wie der "Anna Selbdritt" (Kat. 29) und Michelangelos "Schlacht von Cascina" (Kat. 55 u. 56) anschaulich gemacht. Prägnant auch der Vergleich der "Heiligen Katharina" mit Studien aus Oxford und Paris (Kat. 74-77). Raffaels rhetorisch versierter neuer Ansatz in der Historienmalerei wird anhand von Zeichnungen für die "Grablegung" (Kat. 68-73) oder der "Disputa" (Kat. 78-86) deutlich. Fulminant auch der Abschluss, der Raffaels hohes Niveau in Rom mit dem "Porträt Papst Julius II." und der "Donna velata" feiert. Dabei fehlt sogar die spannungsvoll komponierte, ungemein plastisch ausgeführte "Madonna Alba" aus Washington nicht, die - soeben restauriert - von zwei Entwurfszeichnungen flankiert wird, darunter die hinreißende Rötelstudie aus Lille (Kat. 93-95).

Der Katalog gibt einen anschaulichen Einblick in die ungewöhnlich schnelle und vielseitige Entwicklung, die Raffael noch als jungen Künstler aus den Marken nach Rom führen sollte. Wie er innerhalb von zehn Jahren seit seinem ersten gesicherten Werk eine vorherrschende künstlerische Stellung am Hof von Papst Julius II. in Rom einnehmen konnte, ist spannend zu verfolgen. Dass es dazu mehr brauchte als nur den von Vasari postulierten Studienfleiß [6], wird in dem Katalog sinnfällig.


Anmerkungen:

[1] Allerdings sind Bildunterschriften vertauscht (70), Abbildungs- und Katalogverweise falsch (108, 235, 278), Sätze unvollständig (26, 59, 78, 111), Fragen des Lektorats in den Anmerkungen stehen geblieben (302) und der Ankauf der "Madonna dei Garofani" um zehn Jahre vorverlegt (192).

[2] John Shearman: Raphael in early modern sources (1483-1602), 2 Bde., New Haven / London 2003 (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Bd. 30/31), hier Bd. 1, S. 71, Nr. 1500/2. Zur Negierung von Raffaels Schülerschaft bei Perugino siehe zuletzt Pierluigi de Vecchi: Raffael, München 2002, 33 ff.

[3] Vgl. Jörg Meyer zur Capellen: Raphael. A critical catalogue of his paintings, Bd. 1, The beginnings in Umbria and Florence ca. 1500-1508, Landshut 2001, 306, Nr. X-6 (abgeschrieben).

[4] Der unterschiedliche Figurenmaßstab zwischen Zeichnung und Holzkreuz wird damit erklärt, dass Raffael letzteres zum Zeitpunkt der Entwurfszeichnung noch nicht zur Hand gehabt hätte (94). Henry sieht in dem starken Qualitätsunterschied zwischen Vorder- und Rückseite mehrere Künstler beteiligt (95).

[5] William E. Suida: Raphael's painting "The resurrection of Christ"; in: Art Quarterly, Bd. 18 (1955), 3-10; s. a. Meyer zur Capellen (wie Anm. 3), 307 f., Nr. X-8 (abgeschrieben).

[6] Giorgio Vasari: Das Leben des Raffael, neu übersetzt von Hana Gründler und Victoria Lorini, kommentiert und herausgegeben von Hana Gründler, Berlin 2004, 82.

Andreas Henning