Rezension über:

Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hgg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780 (= Texte und Studien; Bd. 6), Basel: Schwabe 2004, 508 S., ISBN 978-3-7965-2013-6, EUR 59,50
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Rezension von:
Ulrich Rasche
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Rasche: Rezension von: Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hgg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780, Basel: Schwabe 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/6190.html


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Hanspeter Marti / Detlef Döring (Hgg.): Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680-1780

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Die Universitätsgeschichtsforschung hat von Jubiläen stets profitiert. Entsprechende Erwartungen knüpfen sich auch an das Jahr 2009, wenn mit Leipzig die insgesamt wohl bedeutendste deutsche Universität ihr sechshundertjähriges Bestehen feiern wird. Der vorliegende Sammelband, der die Leipziger 'Jubiläumsforschung' gewissermaßen einläutet, geht zurück auf eine Tagung, die die beiden Herausgeber im Juni 2001 im schweizerischen Engi (Arbeitsstelle für kulturwissenschaftliche Forschungen) veranstaltet haben. Er widmet sich der Leipziger Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte der Aufklärungszeit.

Detlef Dörings Beitrag über "Das gelehrte Leipzig der Frühaufklärung am Rande und im Umfeld der Universität" lenkt den Blick auf Einrichtungen und Akteure, die das kulturell-wissenschaftliche Milieu Leipzigs wesentlich geprägt haben: auf Handel, Buchdruck, Pressewesen, Bibliotheken, Theater, Musik, Museen, Galerien, Salons, gelehrte Gesellschaften, höhere Schulen, hohe Gerichte und eben auf Pfarrer, Ärzte, Juristen, Lehrer, städtische Beamte, Privatgelehrte, adelige Mäzene, dichtende Frauen und Fremde. Döring relativiert den Stellenwert akademisch-institutionalisierter Gelehrsamkeit und eröffnet viel versprechende Perspektiven für eine Profilierung und Einordnung Leipzigs in die Universitätslandschaft der Aufklärungszeit, die unbedingt weiter verfolgt werden sollten.[1] Viele Impulse aus Dörings Rahmen setzendem Aufsatz greifen andere Beiträger vertiefend auf, zum Beispiel Ulrich Johannes Schneider. Er charakterisiert Zedlers Universal-Lexicon, das größte europäische Lexikon-Projekt des 18. Jahrhunderts, über das man erstaunlich wenig weiß, mit Blick auf die biobibliographischen Artikel insbesondere über die noch lebenden Gelehrten als eine Art virtuelle "Republik des Geistes" (208) und als "Tat einer Gruppe von Gelehrten, die sich über das Lexikon allererst konstituiert und zugleich damit als Wissensvermittler funktionalisiert" (211). Er zeigt mit dieser interessanten These zugleich Wege für eine Erschließung des epochalen Werkes auf. Die kollektive Identitätsprägung dieser Gruppe ist auch das Thema von Hanspeter Marti, "Das Bild des Gelehrten in Leipziger philosophischen Dissertationen der Übergangszeit vom 17. zum 18. Jahrhundert". Die Dissertationen verlangen von einem Gelehrten Wissen, Tugend, Kommunikations- und Urteilsfähigkeit bis hin zur Selbstreflexion, mithin rationale und moralische Kompetenzen, die er in den Dienst des Allgemeinwohls zu stellen habe. Dieses von Marti akribisch an den Texten entlang entwickelte Bild des Gelehrten wanderte von den Dissertationen in die zeitgenössischen monumentalen Nachschlagewerke (Zedler, Walch). Die philosophischen Leipziger Dissertationen der Frühaufklärung haben dadurch "nicht wenig zur Bildung eines allgemeinen Standesbewusstseins des Gelehrten" und zu dessen "Integration in die von der Idee des geselligen Gedankenaustausches" geprägte "Aufklärungsgesellschaft" beigetragen (94). Die seit langem herrschende Auffassung von der orthodoxen Rückständigkeit der Leipziger Universität will Marti zwar relativieren, aber noch nicht im Sinne einer Präponderanz des frühaufklärerischen Rationalismus umdeuten.

Damit gibt er in gewisser Weise den Stab weiter an Günter Mühlpfordt, "Zwischen Tradition und Innovation. Rektoren der Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung". Der Nestor der mitteldeutschen Bildungsgeschichte weist Leipzig als der ältesten und aufs Ganze gesehen frequenzstärksten mitteldeutschen wie auch deutschen Universität der Vormoderne eine zentrale Rolle innerhalb des Dreiecks der führenden Aufklärungsuniversitäten Leipzig, Jena und Halle zu. Anders als in Jena seien im älteren Leipzig freilich aufklärerische Aufbrüche von der Last der Tradition gebremst und Aufstiegskanäle für neuerungswillige Gelehrte verstopft gewesen. Diese aus den sächsischen Gymnasien hervorgegangenen und in Leipzig akademisch ausgebildeten Gelehrten hätten dann insbesondere in Jena Aufnahme gefunden, so dass dort die Aufklärung stärker vorangetrieben worden sei als in Leipzig selbst. Hier seien allerdings auch schon zwischen 1669 und 1709 sechzig Prozent der Rektorate mit Vertretern der Vor- bzw. Frühaufklärung besetzt worden (159 f.). Zwischen 1675 und 1756 hätten sich insgesamt Aufklärer und Nichtaufklärer im Rektorat die Waage gehalten, wodurch eine Art modus vivendi im "Kampf um das Rektorat" gefunden worden sei. Dieser Kampf sei dann nach Wolffs Rehabilitation in Preußen 1740 tendenziell zugunsten der Aufklärer verlaufen und gegen Ende des Jahrhunderts von ihnen entschieden worden. Näher zu diskutieren wäre, ob sich in dem gelehrten Profil der semesterweise und in erster Linie nach Nationen- und Fakultätenproporz sowie nach dem Anciennitätsprinzip 'gewählten' Rektoren tatsächlich das Ringen zwischen Aufklärung und Orthodoxie widerspiegelt, und nicht immer möchte man Mühlpfordts gelegentlich allzu apodiktischen Urteilen so ohne weiteres folgen. Gleichwohl hat Mühlpfordt einen virtuosen biobibliographischen Streifzug durch die Leipziger und die mitteldeutsche Gelehrtengeschichte vorgelegt, der große Beachtung und eigentlich auch eine eingehendere Besprechung aus berufenerer Feder verdient. Dies beides gilt gewiss auch für die umfangreichste und quasi ein Buch im Buch darstellende Abhandlung von Rüdiger Otto, "Johann Gottlieb Krause und die Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen" (215-328, mit 526 Fußnoten!). Obwohl es seine Wittenberger Universitätskarriere nicht gerade gefördert hat, hielt Krause (1664-1736) bis kurz vor seinem Tod an dem Zeitschriftenprojekt fest und behauptete gegen alle Widerstände auch dessen von ihm entwickeltes Konzept einer betont nüchternen und unparteiisch berichtenden annotierten Zeitschriftenbibliographie, mit dem die "Neuen Zeitungen" seit 1715 eine Lücke in der blühenden Leipziger Presselandschaft ausfüllten. Aufklärerisch wirkte die Zeitschrift deshalb nicht durch Agitation und Programmatik, sondern indem sie der auf Öffnung, Pluralität, Austausch gegründeten Wissensgesellschaft ein "neutrales Informations- und Diskussionsmedium" bot (304-306). Die gelehrten Zeitschriften dieser Art waren - um nur einen von vielen innovativen Gedanken dieser profunden Studie zu nennen - im Grunde eine Fortsetzung, Ergänzung und Steigerung der gelehrten Korrespondenzen (289), eine Art mediale Verdichtung, die zu einem wesentlichen Vehikel der Bildungsbewegung wurde. Dass bis 1720 rund 30% der deutschen Zeitschriften in Leipzig verlegt wurden (216 f.), ist so gesehen vielleicht eine der stärksten Fingerzeige für den kaum zu überschätzenden Anteil Leipzigs an der Früh- und Hochphase dieser Bewegung, der mit diesem Sammelband insgesamt nun klarer bemessen werden kann.

Dazu tragen auch die anderen Aufsätze des Bandes bei, auf die hier nur noch regestenartig verwiesen werden kann. Dietrich Blaufuß analysiert die 1690 verfassten Studienanweisungen "De studiis academicis" (Rechenberg) und "De impedimentis studii theologici" (Spener), ordnet sie in die zeitgenössischen Leipziger Kontroversen ein und macht in ihnen ein vorsichtiges Herantasten an Fragestellungen der Frühaufklärung aus. Klaus von Orde verfolgt minutiös, wie August Hermann Franke und Philipp Jacob Spener erst unter dem Druck der ordnungspolitischen und orthodoxen Reaktion ihre Differenzen überwanden, und leistet so einen wichtigen Beitrag zur Formationsphase des Pietismus. Reimar Lindauer-Huber zeigt anhand der Leipziger Horazrezeption, dass es im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ein vitales Konzept humanistisch-eleganter Bildung gab, das eine Brücke vom Humanismus des 16. zum Klassizismus/Neuhumanismus des späten 18. Jahrhunderts geschlagen hat. Urs Boschung untersucht die beinahe vierzig Jahre währende Korrespondenz des Leipziger Medizinprofessors Christian Gottlieb Ludwig mit Albrecht von Haller, dem wohl berühmtesten Mediziner seiner Zeit, insbesondere unter medizinhistorischen Gesichtspunkten und stützt sich dabei unter anderem auf Daten- und Quellenmaterial des Berner Haller-Projektes (www.haller.unibe.ch). Stefan Wendehorst stellt mit Friedrich Platners juristischer Disputation De usu hodierno divisionis hominum in cives et peregrinos (1750) einen Text vor, der in einer verschlungenen rechtshistorischen Argumentation die in der ständisch und konfessionell geprägten Gesellschaft am Rand, aber eben nicht außerhalb stehenden Juden aus einer zukünftigen Bürgergesellschaft ganz verbannen will. Wolfgang Rother vergleicht die Positionen Karl Ferdinand Hommels, des einflussreichsten Leipziger Juristen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mit denen des europaweit rezipierten Mailänder Strafrechtsreformers Cesare Beccaria (1738-1794) und erklärt Gemeinsamkeiten mit dem Einfluss, den Montesquieu auf beide gehabt hat.

Alles in allem zeugt der durch ein Personenregister erschlossene Band von dem sehr hohen Niveau der bildungs- und wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zur Leipziger Universität der Aufklärungszeit. Desiderate gibt es immer, doch scheint mir in diesem Fall der Boden für das 2009 anstehende Universitätsjubiläum schon hinreichend bestellt zu sein. Ob das auch für andere Abschnitte und Phänomene der Leipziger Universitätsgeschichte gilt, vermag ich nicht zu beurteilen. Was die Aufklärungszeit betrifft, so müssten wohl im Sinne einer ganzheitlichen Universitätsgeschichte nun eher die Bemühungen um die vergleichsweise unterbelichtete Leipziger Institutionen- und Sozialgeschichte verstärkt werden, damit die Leipziger Universitätsgeschichte gerade im Hinblick auf eine ihrer glanzvollsten und weit ausstrahlenden Periode nicht in eine ungute Schieflage gerät.


Anmerkung:

[1] Vgl. auch Detlef Döring: Die Universität Leipzig im Zeitalter der Aufklärung. Geschichte, Stand und Perspektiven der Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), 413-461.

Ulrich Rasche