Rezension über:

Cord Eberspächer: Die deutsche Yangtse-Patrouille. Deutsche Kanonenbootpolitik in China im Zeitalter des Imperialismus 1900-1914 (= Kleine Schriftenreihe zur Militär und Marinegeschichte; Bd. 8), Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2004, 372 S., 50 Abb., 1 Faltkarte, ISBN 978-3-89911-006-7, EUR 33,50
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Rezension von:
Thoralf Klein
Historisches Seminar, Universität Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Thoralf Klein: Rezension von: Cord Eberspächer: Die deutsche Yangtse-Patrouille. Deutsche Kanonenbootpolitik in China im Zeitalter des Imperialismus 1900-1914, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 4 [15.04.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/04/7989.html


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Cord Eberspächer: Die deutsche Yangtse-Patrouille

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Unter den Historikern des Imperialismus gilt China als klassisches Fallbeispiel eines informal empire: Obgleich das Land niemals formell kolonisiert wurde, rangen ihm eine Reihe ausländischer Mächte mit militärischen Mitteln rechtliche und wirtschaftliche Privilegien ab und unterwarfen es auf diese Weise ihrem politischen, ökonomischen und kulturellen Einfluss. Während die kriegerischen Auseinandersetzungen, auf denen der westliche Imperialismus in China fußte, in neuerer Zeit recht gründlich erforscht wurden (besonders der Opiumkrieg von 1839-42 und der Boxerkrieg von 1900/01), sind die routinemäßigen militärischen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des informal empire zumal im deutschsprachigen Raum noch weitgehend unerforscht. Daher ist es zu begrüßen, dass Cord Eberspächer sich in seiner Hamburger Dissertation genau diesem Thema, der so genannten Kanonenbootpolitik, zuwendet.

In seiner Einleitung macht Eberspächer seine Absicht deutlich, jenseits "postmoderner Theorien" (27) eine empirische Untersuchung der deutschen Kanonenbootpolitik zu liefern. Seinen Bezugspunkt bildet nach wie vor Gallaghers und Robinsons Konzept des "Freihandelsimperialismus". Vor diesem Hintergrund nimmt er eine eingehende Bestimmung des Begriffs "Kanonenbootpolitik" vor. Seine Definition dieses Phänomens als "Verwendung militärischer Mittel zur Erlangung diplomatischer oder politischer Ziele in Friedenszeiten" (21) ist an formalen Kriterien orientiert. Man kann jedoch fragen, ob der informelle Imperialismus dem formalen Kolonialismus nicht vielmehr darin ähnelte, dass er eine klare Unterscheidung zwischen Kriegs- und Friedenszeiten gar nicht kannte.

Eberspächer baut seine Arbeit im Wesentlichen chronologisch auf: Im Anschluss an die Einleitung skizziert er zunächst die allgemeine Entwicklung der Kanonenbootpolitik im China des 19. Jahrhunderts sowie der deutschen Beteiligung daran. Im dritten Kapitel schildert er die Entwicklung vom so genannten "scramble for concessions" in den 1890er-Jahren bis zum Boxeraufstand. Erst mit dem letztgenannten Ereignis stationierte das Deutsche Reich eine permanente Kanonenbootflotte auf dem Yangzi. Der vierte Abschnitt widmet sich dem Übergang zum Routinedienst nach dem Ende der Unruhen in Nordchina sowie den Einsatzbedingungen der deutschen Kanonenboote. Darauf folgt ein geografisch nach den Stationierungsorten gegliederter Überblick über deren Einsatztätigkeiten. Drei weitere Kapitel widmen sich dem diplomatischen Tauziehen um das Befahren der Nebengewässer des Yangzi (insbesondere des Poyang-Sees), den Ereignissen während der republikanischen Revolution von 1911 und dem Ende der Kanonenbootpolitik 1914.

Sehr eindringlich und differenziert schildert Eberspächer das dreidimensionale Spannungsfeld, innerhalb dessen die deutsche Kanonenbootflottille auf dem Yangzi operierte. Dieses umfasste erstens interne Konflikte auf deutscher Seite: Einerseits betrachtete die Marine selbst ihren Einsatz primär als Instrument zur Förderung deutscher Wirtschaftsinteressen. Andererseits gerieten die kommandierenden Offiziere nicht selten in Konflikt mit den deutschen Kaufleuten vor Ort, weil diese die ergriffenen Maßnahmen zum Schutz ihrer Interessen als unzureichend betrachteten. Gleichzeitig beargwöhnten die örtlichen Konsuln den Verkehr der Marineoffiziere mit lokalen Beamten als Einmischung in den Zuständigkeitsbereich der diplomatischen Vertreter. Zweitens ergaben sich zwangsläufig Konflikte mit den Chinesen, die nach 1900 vor allem von dem sich ausbreitenden chinesischen Nationalismus bestimmt wurden: Provinzbeamte versuchten den Einsatzbereich der Kanonenboote zu begrenzen; Medien und Öffentlichkeit protestierten gegen deren Präsenz. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass ein Teil der Schiffsbesatzungen aus Chinesen bestand, die in einem konkreten Fallbeispiel immerhin rund 15 % der Besatzung ausmachten (162). Drittens bestand ein eigentümlicher Widerspruch zwischen der Rivalität der europäischen Großmächte in China und der wachsenden Nationalisierung des Schutzes durch Kanonenboote durch die jeweilige Kaufmannschaft mit der praktischen Solidarität zwischen den Schiffsbesatzungen.

Während Eberspächer somit den diplomatischen und gesellschaftspolitischen Aspekten deutscher Kanonenbootpolitik breiten Raum gewährt, handelt er überraschenderweise die militärischen Einsätze der Kanonenboote nur am Rande ab. Selbst wenn der Großteil ihrer Tätigkeit in einer "Routine aus Erkundungsfahrten, Flaggezeigen und der Präsenz vor verschiedenen Orten" (231) bestand, so erwähnt Eberspächer doch eine Reihe von Zwischenfällen, aus denen sich ein Profil dieser Einsätze ergeben könnte. Eine Gesamteinschätzung wäre vor allem deshalb wichtig, weil sie Rückschlüsse auf den Charakter des informellen Imperialismus in China zulassen würde. Reichte die Präsenz der Kanonenboote unter normalen Umständen aus, um die imperialen Interessen des Deutschen Reiches und der anderen Mächte zu wahren? Oder bedurfte es einer Politik ständiger Nadelstiche durch punktuelle Interventionen "on the spot"? Welche Dimensionen hatten die Einsätze, wie groß war das Ausmaß an Gewalt? Diese Fragen bleiben in Eberspächers Studie bedauerlicherweise unterbelichtet.

Eberspächer stützt sich in erster Linie auf unveröffentlichtes Quellenmaterial aus deutschen Archiven, zieht jedoch auch zeitgenössische gedruckte Quellen unterschiedlicher Provenienz heran. Unter der im Literaturverzeichnis aufgeführten Sekundärliteratur findet sich eine Anzahl chinesischer Titel, was bei Studien dieser Art nicht üblich und daher besonders hervorzuheben ist. Daher kann Eberspächer immer wieder über den Tellerrand der deutschen Marinepolitik hinausblicken, Parallelen zu anderen imperialistischen Mächten ziehen und auch die chinesische Seite angemessen berücksichtigen. Gerade angesichts der Detailfülle bewährt sich sein souveräner sprachlicher Zugriff, der das Buch zu einer stets angenehmen Lektüre werden lässt. Wertvolle Zusatzinformationen bieten die zahlreichen, überwiegend aus dem Militärarchiv Freiburg stammenden Abbildungen.

Dass Eberspächer es dem Leser dennoch nicht leicht macht, hängt damit zusammen, dass der chronologische Aufbau seiner Studie sich letztlich nicht bewährt. Dabei wird die Darstellung durch zahlreiche Exkurse unterbrochen, deren Funktion innerhalb des Argumentationsgangs mir nicht in jedem Fall ersichtlich ist (dies gilt besonders für die Erörterung der deutschen Kulturpolitik auf den Seiten 319-322). Auf diese Weise erschwert der Autor den Zugriff auf seine wesentlichen Forschungsergebnisse.

Fazit: Eberspächer hat sich in seiner informativen Studie eines wichtigen, bislang zu Unrecht vernachlässigten Themas angenommen. Jenseits aller postkolonialen Großdeutungen verdeutlicht seine Arbeit die Komplexität und Heterogenität des informellen Imperialismus in China. Dass einige Fragen offen bleiben, lässt sich auch als Anregung zu weiter gehenden Forschungen verstehen. Eberspächers Studie hat hierfür eine solide Grundlage geschaffen.

Thoralf Klein