Rezension über:

Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München: C.H.Beck 2005, 995 S., 104 Abb., ISBN 978-3-406-53507-9, EUR 58,00
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Rezension von:
Rainer Zuch
Kunstgeschichtliches Institut, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Lars Blunck
Empfohlene Zitierweise:
Rainer Zuch: Rezension von: Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955, München: C.H.Beck 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 5 [15.05.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/05/9530.html


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Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avantgarden

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Klaus von Beyme hat sich viel vorgenommen. Der Titel verspricht eine umfassende Auseinandersetzung mit den Verflechtungen der künstlerischen Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit ihrem kulturellen, sozialen und politischen Umfeld. Wer sich hier auskennt, weiß, dass dieses Gebiet von geradezu unübersehbarer Komplexität ist. Dies hat zur Folge, dass es monografische Untersuchungen zu Künstlern oder Gruppierungen wie Sand am Meer gibt, aber kaum Überblickswerke, die sich mit einem angemessenen Theorieapparat dem gesamten "Zeitalter der Avantgarden" nähern.

Von Beyme nimmt für sich in Anspruch, erstmals eine umfassende systematische Analyse der sozialen und politischen Verankerung der künstlerischen Avantgarden der klassischen Moderne als Ganzes zu liefern. Da er Politikwissenschaftler mit Schwerpunkten auf politischer Theorie und Ideologiegeschichte ist und er zudem auf Publikationen wie "Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst" [1] verweisen kann, liegt die Latte ziemlich hoch.

Bislang liegen sozialhistorische Analysen in der Kunstgeschichte vor allem zu marginalisierten Gruppen wie Frauen, Juden und ethnischen Minderheiten vor. Von Beyme scheint nun den Mainstream in Gestalt des Künstlers als weißer männlicher Europäer ins Visier zu nehmen, der die Avantgarden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte. Dazu bezieht er neben dem künstlerischen auch das schriftliche Werk der Künstler mit ein, denn, so betont der Autor bereits auf der ersten Seite, niemals zuvor haben Künstler derart umfangreich zu sozialen, politischen und ästhetischen Fragen Stellung bezogen wie in dieser Zeit. In einer ausführlichen Einleitung klärt er sein Forschungsfeld und den Theorierahmen ab und stellt seine Auswahlkriterien für die Künstler vor. Dabei irritiert allerdings die nahezu vollständige Ausblendung relevanter theoretischer Ansätze wie von Hauser, Bürger, Benjamin, Bourdieu, Foucault, Adorno oder Lukács, um nur die wichtigsten zu nennen; sie kommen im gesamten Buch praktisch nicht vor. Wenn von Beyme sich dann einer Textinterpretation bedienen will, "die es erlaubt, Kunst von Kitsch oder Klamauk zu sondern" (19), runzelt der Rezensent erneut die Stirn, waren es doch gerade solche ästhetischen Kategorisierungen, die die zu diskutierenden Avantgarden auf breiter Front unterminiert haben. Die im Text verstreuten beiläufigen Werturteile verstärken das Misstrauen. Kann eine solche Haltung dem Thema gerecht werden?

Das thematische Spektrum, das von Beyme in drei Großteilen und 23 Kapiteln ausbreitet, ist beeindruckend, ebenso der Anhang mit einem 110 Seiten starken thematisch gegliederten Literaturverzeichnis und zwei Registern. Jedoch erweist sich schon bald, dass das Misstrauen berechtigt ist, denn von Beyme reflektiert nirgends die aufgeworfenen Fragestellungen.

So widmet sich das erste Kapitel der Vielschichtigkeit des Moderne- und des Avantgardebegriffs. Beyme fasst die unübersichtliche Vielfalt der Avantgarden in dem Begriff des "pluralistischen Großaggregats" (37); eine weiterführende Reflexion fehlt leider. Der geografische Rahmen umfasst erwartungsgemäß Europa, Russland und ab den Vierzigerjahren auch die USA.

Im den sozialen Grundlagen der Entstehung der Avantgarden gewidmeten ersten Teil kommen die Sozialstruktur der Herkunftsfamilien und die Ausbildung der Künstler sowie Bildungsgang und Eltern-Kind-Konflikte um die künstlerische Laufbahn zur Sprache. Weitere Punkte sind die Rolle der Künstlergruppe als Organisationsform sowie "Frauen und Partnerschaftsverhältnisse", wobei die trotz aller sozialrevolutionären Ansprüche ernüchternd traditionelle Gestaltung der Geschlechterbeziehungen durch den weißen männlichen Künstler besonders auffällt - ein Spannungsverhältnis, zu dem die Genderforschung einiges zu sagen hat, worauf von Beyme aber nur am Rande eingeht.

Weiterhin spricht er die umfangreichen, auf die europäischen Metropolen ausgerichteten Migrationsbewegungen der Künstler an; fast alle berücksichtigten Künstler sind mindestens einmal migriert. Der Zusammenhang von Migration und Urbanisierung erweist sich geradezu als Voraussetzung der Avantgardebildung, für dessen Diskussion die aktuellen Urbanisierungs- und Migrationsforschungen viel versprechende Ansätze liefern. Von Beyme verliert kein Wort darüber.

Die zumeist prekären wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Künstlerinnen und Künstler existierten und die häufig mit ihrem Migrantenstatus zusammenhängen, gliedert Beyme nach den Produktions- und Erwerbsbedingungen auf. Das begründet auch die Rolle von Hilfsorganisationen, dem Kunstmarkt als Vertriebsnetz und des Mäzenatentums, Zusammenhänge, die der Autor anspricht, aber nicht weiter verfolgt.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Theorien und Theoriebereichen in den avantgardistischen Kunstdebatten. Von Beyme beginnt mit der Selbstinterpretation avantgardistischer Künstler, die sich maßgeblich in der Frage nach dem Primat von Kunst oder Theorie äußert. Die Theoriebildung betrifft zum einen künstlerisch-ästhetische Probleme wie Farbe, Form, Bildstruktur und die ideologisch geladene Grundsatzfrage nach Abstraktion oder Figuration sowie die Auseinandersetzung mit neuen technischen Möglichkeiten der Kunstproduktion. Ebenso findet eine umfassende Rezeption naturwissenschaftlicher, religiöser, mythologischer und esoterischer Theoriegebäude statt, interessanterweise kommt aber selbst in der russischen Avantgarde so gut wie keine Gesellschaftstheorie vor. Ein wichtiges Merkmal avantgardistischer Theoriebildung stellt die Verknüpfung ästhetischer und weltanschaulicher Theorien zu holistischen Theorien dar, die eine Einheit von Kunst, Wissenschaft, Leben und Gesellschaft propagierten. Hierzu liegen bereits zahlreiche Analysen vor, auf die von Beyme aber nicht eingeht.

Der dritte und umfangreichste Teil ist überschrieben mit "Die Illusion der Gesellschaftsveränderung durch die Kunst und das Leiden an der Politik". Von Beyme beginnt mit dem politischen Engagement von Künstlern zu Anfang des Jahrhunderts, geht dann zum Ersten Weltkrieg über, der als fundamentaler Einschnitt erlebt wurde und thematisiert anschließend die Lage der Künstler in der Zwischenkriegszeit und den aufkommenden Diktaturen. Sie hatten eine weitere gewaltige Emigrationswelle aus Europa zur Folge, die zu einer Verlagerung der Zentren der Avantgardekunst in die USA führte. Mit einem ausblickenden Kapitel auf die sich anschließende Postmoderne mit der Historisierung und dem Ende der klassisch gewordenen Avantgarden schließt der Text ab.

Der verbleibende Eindruck ist zwiespältig. Das flüssig und gut lesbar geschriebene Buch breitet eine ungeheure und schlüssige, wenn auch konventionell systematisierte Materialfülle aus; das große Problem ist aber, dass es dabei bleibt. Man hat das Gefühl, einen riesigen, in Fließtext gegossenen Zettelkasten vor sich zu haben, dem die erhoffte und angekündigte theoretische Durchdringung nahezu vollständig fehlt. Den Kunsthistoriker stört zudem der unmotivierte Einsatz des Bildmaterials. Von Beyme hat einen - als solchen durchaus gelungenen - Überblick über die Avantgarden betreffenden Themen vorgelegt, ignoriert aber bereits bestehende Reflexionen und überlässt die noch ausstehenden Diskussionen anderen. So ist am Ende der Vorhang zu und - immer noch - alle Fragen offen.


Anmerkung:

[1] Klaus von Beyme: Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Politik und Kunst, Frankfurt 1998.

Rainer Zuch