Rezension über:

Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800-1848, Frankfurt/M.: Campus 2005, 480 S., ISBN 978-3-593-37695-0, EUR 45,00
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Rezension von:
Patrick Wagner
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Patrick Wagner: Rezension von: Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800-1848, Frankfurt/M.: Campus 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/7921.html


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Stefan Haas: Die Kultur der Verwaltung

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Wenn es einen Bereich der Geschichtswissenschaft gibt, für den das Verdikt unzureichender theoretischer Reflexion noch Gültigkeit besitzt, so ist dies die Verwaltungsgeschichte. Stefan Haas unternimmt mit seiner Münsteraner Habilitationsschrift den Versuch, dies zu ändern, indem er die Geschichte der preußischen Bürokratie im frühen 19. Jahrhundert als einen Kommunikationsprozess beschreibt, in dem sich die Beamten über die Konstruktion einer administrierbaren Wirklichkeit verständigten. Angeregt durch Systemtheorie und Politikfeldforschung kann Haas auf überzeugende Weise die Genese jener Kultur einer äußeren Einflüssen vermeintlich entzogenen Sachlichkeit erklären, welche die preußische Verwaltung schon für die Zeitgenossen zum Inbegriff moderner Bürokratie werden ließ. Selbst Historiker, die auf den hier praktizierten exzessiven Gebrauch eines kulturwissenschaftlichen Jargons mit intuitiver Abwehr reagieren, werden am Ende einräumen, dass es Haas gelingt, theoretische Ambitioniertheit und empirische Forschung miteinander zu verbinden.

Haas setzt sich vom Mainstream der Forschung zu den preußischen Reformen ab, der diese von ihren Intentionen her untersucht. Stattdessen nimmt er ihre Implementierung im Verwaltungsalltag in den Blick. Die Ergebnisse der Reformpolitik seien nämlich, so Haas' Eingangsthese, nur dann adäquat zu beschreiben, wenn ihre Genese durch einen Kommunikationsprozess rekonstruiert werde, der eine Vielzahl von Akteuren integrierte. Die Interaktion dieser Akteure will Haas nicht als "Kampf um Macht zwischen differenten sozialen Formationen" verstehen (34). Er nimmt seinen Ausgangspunkt vielmehr bei den "Texten", den niedergeschriebenen oder auf andere Weise "symbolisierten und damit öffentlich zugänglichen Repräsentationen" der Reformer und beschreibt die Implementierung der Reformen als "kreativen Aneignungs- und Umschreibungsprozess" dieser Texte seitens der verschiedenen Ebenen der Bürokratie. "Nicht die Reaktionen einer sozialen Gruppe auf die Intentionen einer anderen sind es, die am Ende politische Wirklichkeit konstituieren, sondern der permanente Modifikationsprozess eines Ursprungstextes, wobei jedes Weiterschreiben an bereits rezipiertem und verändertem Text stattfindet." (35). Dieser "Text" und damit die Reformpolitik erhalte in diesem Prozess einen neuen, von den ursprünglichen Intentionen abgelösten "Sinn", ein Phänomen, das Haas mit dem Begriff der "Emergenz" beschreibt.

Spätestens hier ist nun der Hinweis nötig, dass sich Haas keinesfalls - wie es der Untertitel seines Buches nahe legt - mit "den" preußischen Reformen befasst. Er beschränkt sich vielmehr auf die den staatlichen Behördenapparat selbst betreffenden Reformen, aber hier gelingen ihm inspirierende Einsichten in dessen Funktionieren. In acht Kapiteln beschreibt er die Ziele der Verwaltungsreformer, die Ausbildung einer neuen Behördenstruktur und neuer Verwaltungsroutinen, die Herstellung von "Sinn" durch Sprache, Symbole und körperliche Praktiken und schließlich eine Kultur des bürokratischen Organisierens der Gesellschaft, deren Kern in der Reduktion von Vielfalt auf binäre Alternativen durch die Formalisierung von Entscheidungsprozessen bestand. Insgesamt wird deutlich, dass die so entstehenden Regeln der bürokratischen Kommunikation über "die Wirklichkeit" erst eine spezifisch administrative, d. h. von den Beamten bearbeitbare Wirklichkeit hervorbrachten. Ließ diese Kommunikation in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch einen hohen Grad an selbstkritischer Reflektion erkennen, so büßte die Bürokratie danach gerade dieses Innovation fördernde Element durch die Etablierung von Routinen ein.

Haas rekonstruiert die Ausbildung komplexer Akten- und Formularsysteme, die Entstehung eines administrativen Kollektivgedächtnisses in Registratur und Archiv sowie die Normierung der sprachlichen Interaktion zwischen den Beamten als Herausbildung einer spezifischen Kommunikationsstruktur. Die Entstehung eines korporativen Selbstverständnisses der Bürokratie führt er auf ein komplexes System von Anreizen, Strafen und Ritualen zurück. Besonders überzeugend fällt das Kapitel über die Uniformen der Zivilbeamten aus, in dem Haas zeigen kann, dass ihre Träger mit ihnen nicht nur Stoff, sondern zugleich das "Bekenntnis zu einer spezifischen Weise, Welt zu organisieren" (372), zur Schau trugen. Ob man dann Formulierungen wie jene, es gehe hier um die "Zuschreibung eines visuellen Zeichencodes, der mittels der Ziviluniform auf den Körper aufgetragen wurde", für ein Zuviel an kulturalistischem Neusprech hält, sei dem Geschmack jedes Lesers überlassen. Mit Gewinn deutet Haas diese Phänomene als Kommunikationsakte, führt aber ebenso eindrucksvoll vor Augen, dass die preußische Kultur einer vermeintlich rein sachlichen Verwaltung ohne ihren "harten", Interessen befriedigenden Sockel, bestehend aus Versorgungsrechten, Karrierechancen sowie materiellen wie symbolischen Statusprivilegien, nicht erklärbar ist.

Die Studie argumentiert, dass die "Kultur der Verwaltung" um die Kategorien der "Verantwortlichkeit", der "Zuständigkeit", der "Schriftlichkeit" und des "Verfahrens" kreiste und es so schließlich vermocht habe, die Entscheidungsprozesse des administrativen Teilsystems zumindest partiell von Einflüssen des gesellschaftlichen Systems abzukoppeln. Das Ausmaß, in dem sich die Bürokratie außerhalb ihrer selbst liegenden Interessen entzog, überschätzt Haas allerdings schon deshalb, weil er diese Frage dezidiert aus seinem empirischen Untersuchungshorizont ausscheidet. Damit wird er - aller theoretischen Reflexion zum Trotz - zum Gefangenen der Selbstdeutungen der von ihm untersuchten Beamten.

In welcher Beziehung die administrative Wirklichkeit zu anderen Wirklichkeiten stand, bleibt unterbelichtet. Immerhin blitzt diese Frage immer wieder kurz auf, am stärksten im achten Kapitel, in dem der Autor sich mit der Reglementierung des Begräbniswesens und der amtlichen Definition des Todes auseinandersetzt. Hier geht Haas ansatzweise über die Grenzen der innerbürokratischen Kommunikation hinaus und deutet an, wie die Beamten die Bevölkerung immer wieder dazu zu bewegen suchten, in der Interaktion mit den Behörden deren Ordnungsstrukturen - und damit deren Deutungen von Wirklichkeit - zu akzeptieren und sich hierdurch selbst in "Verwaltete" zu verwandeln. Hatten Friedhöfe bis zum Beginn der 19. Jahrhunderts gemäß kultureller Tradition als Orte der Totenruhe und des Gedenkens fungiert, so verwandelte die preußische Bürokratie sie nun innerhalb weniger Jahrzehnte in rational verwaltbare Dienstleistungsorte, deren Funktion in der seuchenpolizeilich einwandfreien Verwesung der Leichen bestand. Die autoritative Entscheidung darüber, ob ein Mensch tot sei, errang die Bürokratie dadurch, dass sie das Sterben in die ihr gemäße Form, das heißt: in ein Formular, brachte. Damit schuf sie eine neue, binäre Wirklichkeit des Todes, in der die Vielfalt möglicher Phasen des Übergangs vom Leben in den Tod auf die Eintragung der Diagnose "tot" im Totenschein reduziert wurde. Dass diese binäre Deutung ein komplexes Geschehen zum Zwecke seiner Administrierbarkeit ziemlich willkürlich konstruiert, ist in letzter Zeit bei den Debatten über Hirntod und Transplantationsmedizin auf dramatische Weise deutlich geworden.

So anregend dieses Kapitel auch zu lesen ist, es hinterlässt doch noch einmal konzentriert jenen faden Nachgeschmack, den Haas' Argumentation insgesamt hervorruft. Über die Strategien der Bürokratie zur Durchsetzung ihrer Deutung und Repräsentation von Wirklichkeit erfährt man viel Erhellendes, klug Analysiertes und Kategorisiertes. Wie weit es der Bürokratie aber gelang, die Verwalteten zur Übernahme dieser Wirklichkeitskonstruktionen zu bewegen, bleibt offen, weil es den Autor nicht interessiert oder er einen solchen Erfolg der Bürokratie als evident voraussetzt. Auch hier bleibt der Autor den Selbstdeutungen der Beamten einerseits und dem traditionell uneingeschränkt positiven Urteil der Verwaltungsgeschichtsschreibung über die Effizienz der preußischen Bürokratie andererseits verhaftet. Ein Blick über die Tellerränder der Geschichtswissenschaften beziehungsweise Preußens hätte dem Buch insofern gut getan. Als potenzielle Referenzen wären etwa die Arbeiten des Ethnologen Gerd Spittler über bürokratische Herrschaft in Agrargesellschaften oder die Untersuchung des Soziologen Trutz von Trotha über den Prozess der Staatsbildung in der deutschen Kolonie Togo zu nennen. [1] Beide machen deutlich, dass bürokratische Interventionen in gesellschaftliche Teilsysteme, deren Eigenlogiken den Beamten gerade aufgrund der Regeln bürokratischer Wirklichkeitskonstruktion unverständlich blieben, häufig eine ausgeprägt illusionäre Dimension besaßen. Haas fehlt der Blick für die Erfahrungen des Scheiterns, welche die Interaktion der Beamten mit der Welt außerhalb ihrer Amtsstuben häufig genug prägten. Hätte er diese Erfahrungen und die von ihnen hervorgerufenen Reaktionen der Beamten in den Blick genommen, so hätte Stefan Haas freilich mit Kategorien wie "Macht", "Zwang" und "Gewalt" operieren müssen, die er erstaunlich konsequent meidet. Insofern mag Haas' Untersuchung pars pro toto für einen Trend der kulturalistisch inspirierten und interessierten Geschichtsschreibung stehen, mit dem der vielleicht allzu traditionalistische Rezensent sich nicht anzufreunden vermag.

Dennoch, das sei bei aller Kritik deutlich gesagt: Das Buch von Stefan Haas ist randvoll mit anregenden Erkenntnissen. An Verwaltungsgeschichte Interessierte werden es mit großem Gewinn lesen, und es stellt einen wichtigen Schritt zu einem Mehr an theoretischer Reflexion dieser Teildisziplin dar.


Anmerkung:

[1] Vgl. Gerd Spittler: Herrschaft über Bauern. Die Ausbreitung staatlicher Herrschaft und einer islamisch-urbanen Kultur in Gobir (Niger), Frankfurt am Main / New York 1978; Trutz von Trotha: Koloniale Herrschaft. Zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des "Schutzgebietes Togo", Tübingen 1994.

Patrick Wagner