Rezension über:

Bernd Bünsche: Das Goschhof-Retabel in Schleswig. Ein Werk des Hans Brüggemann (= Bau + Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte; Bd. 8), Kiel: Verlag Ludwig 2005, 366 S., ISBN 978-3-933598-98-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Ulrike Wolff-Thomsen
Kunsthistorisches Institut, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Ulrike Wolff-Thomsen: Rezension von: Bernd Bünsche: Das Goschhof-Retabel in Schleswig. Ein Werk des Hans Brüggemann, Kiel: Verlag Ludwig 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6 [15.06.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/06/8903.html


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Bernd Bünsche: Das Goschhof-Retabel in Schleswig

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Die immer wieder eingeforderte Zusammenarbeit von Kunsthistorikern und Restauratoren für die Bewertung besonders der technologischen Befunde an spätgotischen Retabeln wird in der hier vorzustellenden Untersuchung gleichsam in personam verwirklicht. Der Autor, Bernd Bünsche, arbeitet als leitender Restaurator am Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig, und legt mit dem Buch über das dort aufbewahrte Goschhof-Retabel seine am Kunsthistorischen Institut der TU Berlin 2004 eingereichte Dissertation vor. Das Goschhof-Retabel - ausgestattet mit einem scheinbar unkomplizierten Programm - fristete auch auf Grund seiner nicht geklärten Zuschreibungsfrage gegenüber dem weitaus prominenteren Bordesholmer Retabel des Hans Brüggemann im Schleswiger Dom ein Schattendasein. Schon 1994 hatte Bünsche auf dem internationalen Kolloquium "Das Bordesholmer Retabel" die damals allzu kühn klingende These formuliert, dass auch das Goschhof-Retabel als Werk Hans Brüggemanns auszuweisen sei. Die Begründung schiebt er nun gleichsam mit dem über 300 Seiten starken Buch nach.

Nach der Beschreibung des Retabels erfolgt eine ausführliche Darlegung der Geschichte des Goschhofes in Eckernförde bzw. seiner Funktion und eine Vorstellung einzelner Mitglieder der Familie von Ahlefeldt. Von großem Gewinn erweist sich das zweite Kapitel über die Schreinkonstruktion. Begünstigt wurde die Untersuchung durch die Reinigung und Festigung des Retabels, sodass der technologische Befund, die Montage des Schreins, die Schnitzarbeit und die Fassung, neu bewertet werden konnten. Die Annahme, dass spezifische Gestaltungsprinzipien und werktechnische Charakteristika, die das Bordesholmer Retabel auszeichnen, in vergleichbarer Weise auch bei anderen Objekten zu Tage treten müssen und damit eine Zuschreibung des jeweiligen Artefakts an Brüggemann rechtfertigen, erweist sich als richtig. Die detaillierten Beobachtungen Bünsches lassen sich auch anhand der von ihm selbst gefertigten Zeichnungen einzelner Konstruktionselemente gut nachvollziehen. Aus dem Befund folgt, dass das Retabel mit beweglichen Flügeln zudem ursprünglich mit abgeteilten selbstständigen Schrein- und Flügelaufsätzen, einem möglicherweise figurenlosen Gesprenge und so genannten Seitenstücken am Korpus ausgestattet war. Diese Besonderheit, die in Norddeutschland nur am Bordesholmer Retabel vergleichbar wiederkehrt, ähnelt strukturell interessanterweise fränkischen Beispielen aus der Werkstatt Tilman Riemenschneiders. Auch die schnitztechnische Auswertung der Werkblöcke ergab eine Reihe von Einsichten, die ihrerseits mit bekannten Werkstattgepflogenheiten Brüggemanns übereinstimmen. Hierzu zählen die konsequente Blockverleimung und die Bevorzugung von konfektioniertem Wagenschott aus dem Baltikum. Schwierigkeiten ergeben sich leider für den Leser dadurch, dass die Schreintiefe mal mit 345 mm (23), mal mit 380 mm (24), die Predellentiefe mal mit 440 mm (24), mal mit 475 mm (55), die gesamte Schreinhöhe mal mit 2120 mm (23), mal mit 214 cm (161) angegeben werden. Was ist richtig?

Die vom Hamburger Institut für Holzbiologie neuerhobenen dendrochronologischen Daten bestätigen neben den großen Ähnlichkeiten in der Konstruktion und den formal-gestalterischen Elementen, dass Bordesholmer und Goschhof-Retabel nur unmerklich zeitlich versetzt, wenn nicht zeitgleich in der Werkstatt Brüggemanns entstanden sind.

Das erst seit 1656 polychrom gefasste Goschhofer Werk zählt zu den relativ wenigen, am Anfang des 16. Jahrhunderts entstandenen Retabeln, die auf eine Farbfassung Verzicht übten. Nur Augen und Lippen und besondere Partien der Figuren waren farblich akzentuiert, die übrigen Bereiche waren mit einem pigmentierten holzfarbenen Überzug versehen. Bünsche vermutet, dass Oberflächengestaltungen, die sich durch vielfältige Punzierungen auszeichnen, "ein definitives Indiz für die Absicht [liefern], eine Skulptur nicht farbig zu fassen" (126) - leider eine trügerische Annahme, wie die große Tilman Riemenschneider-Ausstellung in Würzburg 2004 gezeigt hat, die eine Vielzahl von heute holzsichtigen Skulpturen vorstellte, deren technologische Befunde jedoch offenbaren, dass die Werke trotz ihrer differenzierten Oberflächengestaltungen ursprünglich gefasst gewesen sind. Die Forschung wiegt sich oft noch in der Hoffnung, dass es gleichsam Gesetzmäßigkeiten gebe, nach denen sich die Bildschnitzer bzw. Fasser für oder gegen eine Polychromierung entschieden haben. Am Werkprozess waren jedoch die unterschiedlichsten Interessengruppen beteiligt, sodass weiterhin jeder Fall gesondert zu untersuchen ist. Zudem müssen die jeweiligen Geschmacksbilder eine größere Berücksichtigung finden; ökonomische Gründe greifen meistens zu kurz.

An Stelle des ungenauen Begriffs der "ungefassten" Skulptur, der beinhaltet, dass ein Objekt auf eine Fassung hin gearbeitet worden ist, jedoch seine Bemalung verloren hat, schlägt Bünsche vor, einen solchen Befund besser mit "ursprünglich gefasst" zu benennen. Auch spricht er sich gegen Bezeichnungen wie "holzfarben" oder "holzsichtig" aus, die für Skulpturen eingeführt worden sind, die von Anfang an ohne polychrome Fassung, aber mit einer Pigmentierung oder einem Leimüberzug versehen waren. Da diese Begriffe ungenügend die damit verbundene farbliche Veränderung der Holzoberfläche (gerade beim Lindenholz) berücksichtigen - vergleichbar mit dem von Rosenfeld favorisierten Terminus der "Nichtpolychromierung" - plädiert Bünsche, darin Krohm und Oellermann folgend und weiterführend, für die schon von Taubert eingeführte Bezeichnung der "Skulptur mit monochrom gefasster Oberfläche" (150).

Brüggemann scheint im Vergleich zu Riemenschneider, Veit Stoß, Hans Leinberger und dem Meister HL insofern singulär, als ihm als Bildschnitzer bislang keine polychrom gefasste Skulptur nachgewiesen werden kann.

Das weitere Augenmerk richtet sich auf die Figuren im Korpus und in der Predella, deren genaue Identifizierung für die Entschlüsselung und Interpretation des ikonografischen Programms entscheidend ist und die Anhaltspunkte über den Entwerfer sowie über den Auftraggeber des Retabels liefern können. Vermag Bünsche schnell richtig zu stellen, dass die fünfzehnte Figur, die die Gruppe der Vierzehn Nothelfer in der Predella erweitert, auf Grund der gewünschten zweireihigen Figurenanordnung nur mit der Hl. Barbara identifiziert werden kann, eröffnen sich größere Schwierigkeiten beim Lesen des Programms im Korpus. Diese resultieren aus dem Verlust der zentralen Figur, der sich Maria und Anna, auf einer Bank sitzend, zuwenden. Die hinter der Bank stehenden vier Figuren, die jeweils paarweise miteinander kommunizieren, flankieren einen Baum, in dem ein Jesuskind seine Rechte zum Segensgruß erhebt. Trotz seiner Existenz und trotz des einheitlichen Bildraums glaubt Bünsche, als fehlende Figur sei nur ein zweites (!) Jesuskind vorstellbar. Das Jesuskind im Baum sei im Zusammenspiel mit der männlichen und weiblichen Figur darunter zu lesen, die mit der Tiburtinischen Sibylle und dem Kaiser Augustus zu bestimmen seien - in Analogie zu den beiden Standfiguren vor dem Bordesholmer Retabel. Zur Erinnerung: In der "Legenda aurea" und dem "Speculum humanae salvationis" wird von der Weissagung der Tiburtinischen Sibylle berichtet: Danach wird die Sibylle am Tag der Geburt Jesu vom Kaiser Augustus, dessen Räte ihn in den Rang eines Gottes zu erheben gedenken, befragt, ob es nicht einen noch Mächtigeren als ihn gäbe. Mit ihrer auf die Erscheinung der Muttergottes (!) weisenden Geste erkennt er das Kind als seinen künftigen Herrn an.

Dieser Hinweis ist mir insofern wichtig, als nicht von einem Kind in einem Baum die Rede ist und sich die beiden Goschhofer Figuren weder einander zuwenden, noch zu dem Kind in Kontakt treten. Bünsche begründet seine These mit ihrer - ich muss leider sagen angeblichen - besonders aufwändigen und exotischen Kleidung. Doch weder ist der so genannte Kaiser Augustus in vergleichbarer Weise wie die Figur vor dem Bordesholmer Retabel mit einem durch eine Krone geschmückten Turban und kostbar pelzverbrämtem Mantel ausgezeichnet (er trägt eine turbanähnliche Kopfbedeckung und eine schlichte Schaube), noch tritt die so genannte Sibylle mit einer so extravaganten Haube wie das "Bordesholmer" Gegenstück auf. Ihr von Bünsche als Fache bezeichneter Kopfschmuck wird beispielsweise auch von einer der Marien in Dürers "Beweinung" aus der Großen Holzschnittpassion getragen, einer Figur, der keine Extravaganzen zukommen, und einer Bildquelle, der sich bekanntlich Brüggemann sehr gern bediente. Mir scheint es deshalb gerechtfertigt, die bisherigen Bezeichnungen als Elisabeth und Zacharias beizubehalten, zumal die Figuren ihre Aufmerksamkeit Joseph und Joachim zuwenden.

Mit der Rekonstruktion des Retabels verfolgt Bünsche das Ziel, einerseits Anhaltspunkte über Brüggemanns Herkunft bzw. Wanderschaft zu gewinnen, andererseits Rückschlüsse zu ziehen auf den ursprünglichen Bestimmungsort, der nicht mit dem namensgebenden Goschhof identisch sein kann. Auf Matthaei (1898) geht bereits der Hinweis zurück, dass das Retabel ehemals Ausstattungsstück der Marianerkapelle in der Haderslebener Stiftskirche war - eine Stiftung der Familie von Ahlefeldt. Der letzte altgläubige Bischof war Gottschalk von Ahlefeldt, der vermutlich als Auftraggeber anzusprechen ist und auch 1536 den Goschhof geweiht hat. Nach dessen Tode wurde die Reformation eingeführt. Mit diesem Prozess war verbunden - so die berechtigte Annahme -, dass die Ausstattungsstücke in den Goschhof verbracht wurden.

Mit der Untersuchung Bünsches erweitert sich nun der kleine Kreis der Brüggemann sicher zuzuschreibenden Werke: Auf das Goschhof-Retabel (1512-1517) folgen das Bordesholmer Retabel (um 1515-1521), die Figuren "Lautespielender Engel" (Berlin) und "Muttergottes" (Kopenhagen) aus dem Husumer Sakramentshaus (um 1520), der monumentale Hl. Christophorus im Schleswiger Dom (um 1521-1523) und die Kopenhagener St. Jürgensgruppe (um 1522-1523), ebenfalls aus Husum stammend. Weitere Forschungen müssen sich den Retabeln in Gjøl und Estvad zuwenden.

Ist die vorliegende Arbeit auch noch so ergebnisreich, beeinträchtigt doch das Lesen die geringe Stringenz des Vortrags. Zudem ist - positiv formuliert - der "aktive" Leser gefordert, den Sinn in manch problematischen Satzkonstruktionen zu finden; von der teilweise willkürlichen Interpunktion ganz zu schweigen. Als "schwierig" erweist sich auch der Anmerkungsapparat, da in ihm die Nummern 330 bis 334 schlichtweg fehlen, die Zählung im Haupttext aber fortgeführt wird. Dafür setzt im Haupttext die Zählung zwischen den Nummern 366 bis 371 aus.

Das Buch, im Druck selbst sehr gut ausgeführt, hätte eine größere Sorgfalt auch in Hinblick auf das Literaturverzeichnis verdient.

Ulrike Wolff-Thomsen