Rezension über:

Rolf Decot (Hg.): Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche, Theologie, Kultur, Staat (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Abendländische Religionsgeschichte; Beiheft 65), Mainz: Philipp von Zabern 2005, IX + 324 S., ISBN 978-3-8053-3524-9, EUR 34,80
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Rezension von:
Wolfgang Rosen
Landschaftsverband Rheinland, Köln
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Rosen: Rezension von: Rolf Decot (Hg.): Kontinuität und Innovation um 1803. Säkularisation als Transformationsprozeß. Kirche, Theologie, Kultur, Staat, Mainz: Philipp von Zabern 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/8446.html


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Rolf Decot (Hg.): Kontinuität und Innovation um 1803

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Der Titel führt gleich vier eher konträre Begriffe auf: Kontinuität und Innovation sowie Säkularisation, verstanden als Prozess. Ging die ältere Forschung noch davon aus, dass die Säkularisation Innovationen im kirchlichen und anderen Bereichen erst ermöglicht habe, so ist diese Sichtweise mittlerweile stark revidiert worden. "Säkularisation als Transformationsprozess" ist terminologisch zwar problematisch, jedoch auch inspirierend, da diese Charakterisierung eine Neuakzentuierung der Sicht auf die Säkularisation in dieser Zeit zu geben vermag. Die Fokussierung auf die juristisch-ökonomische Säkularisationsakte wird verlagert zugunsten einer neuen Perspektive, die den breiten Übergangscharakter dieser Periode stärker hervorhebt und somit Konzeptionen aus dem 18. Jahrhundert sowie die Folgen der Säkularisation im 19. Jahrhundert deutlicher werden lässt.

Der Sammelband vereinigt 14 Aufsätze und geht auf eine Mainzer Tagung im Jahre 2004 zurück. Karl Kardinal Lehmann weist im Grußwort auf die auch positiven Folgen der Säkularisation hin: Die Kirche sei von einem Reichtum befreit worden, der für sie vielfach zu einer "glänzenden Knechtschaft" geworden war. Im Vorwort macht Rolf Decot darauf aufmerksam, dass die Säkularisationen zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine plötzlich auftretenden Ereignisse waren, sondern eingebettet zu sehen sind in einen fortlaufenden Prozess der Säkularisierung - eine letztlich für die gesamte Geschichte des christlichen Abendlandes typische Auseinandersetzung. Säkulare Religionsersatzformen, wenn auch geistesgeschichtlich auf christlicher Grundlage ruhend - was häufig übersehen wird -, traten im 18. Jahrhundert stärker in den Vordergrund.

Aus rechtshistorischer Sicht referiert Heinrich de Wall über das Staat-Kirche-Verhältnis im 19. und 20. Jahrhundert. Er analysiert hierbei die Änderungen der Kirchenfinanzierung und richtet den Blick auch auf die evangelische Kirche, wobei die bislang allgemein vertretene und auch vom Autor geteilte Einschätzung, nach der die Säkularisation auf den Protestantismus nur "geringe Auswirkungen" gehabt habe, in letzter Zeit relativiert wurde. [1] Allerdings ist zu fragen, warum dieser Artikel, der Säkularisationsfolgen thematisiert, am Beginn des Bandes steht. Es folgt eine Reihe biographisch angelegter Beiträge, die anhand der vorgestellten Personen einen Einblick in die Säkularisationszeit vermitteln. Der Beitrag von Karl-Heinz Braun über das Kirchenbild des Konstanzer Geistlichen und Bistumsverwesers Ignaz Heinrich von Wessenberg stellt einen Theologen und Pädagogen vor, der sich bemühte, die Folgen der Säkularisation für eine erneuerte Kirche nutzbar zu machen. So interpretierte er die Autorität des Papsttums nicht jurisdiktionell, sondern als geistliche Autorität. Wessenberg verstand den Staat als Entlastung für die Kirche; weltliche Geschäfte wurden nun durch den Staat abgewickelt.

Ebenfalls biographisch angelegt ist Karl Hausbergers Aufsatz über den Stellenwert von Autorität und Hierarchie im kirchlichen Verständnis des Universitätslehrers und Bischofs Johann Michael Sailer als Pioniergestalt der neueren ökumenischen Bewegung, der die Kirche als lebendige Einheit von unsichtbarer ("divina institutio") und sichtbarer Gemeinschaft ("humana administratio") definierte, die sich stets zu erneuern habe. Auch auf eine Person fokussiert ist der Beitrag von Günther Wassilowsky über die Geburt der säkularen Papstidee bei Joseph de Maistre, dem Autor des Werkes "Du Pape". Dieser Text war für die entstehende ultramontane Bewegung und die Infallibilitätstheorie von kaum zu überschätzender Bedeutung. De Maistre argumentierte nicht theologisch, sondern politisch und übertrug das Modell von der absoluten Monarchie auf die Kirche. Er begründete das Papsttum rein funktional und staatstheoretisch. Die Zerschlagung der episkopalistisch-landeskirchlichen Strukturen hatte langfristig eine päpstliche Machtzunahme zur Folge. [2]

Anton Schindling widmet sich der Situation der Reichskirche und den Interpretationen der Säkularisation durch die unterschiedlichen historischen Schulen. Anschließend stellt Winfried Müller zwei Forschungsbegriffe - Herrschafts- und Vermögenssäkularisation - in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen und bietet eine differenzierte Beschreibung der Genese der Begriffe. [3] Thematisch mit dem Beitrag von Wassilowsky zusammenhängend analysiert Hubert Wolf die Entwicklung eines neuen Bischofsideals, d. h. eines papstorientierten Bischofstyps. Die heutige Dominanz des Papsttums hat erst im 19. Jahrhundert ihre eigentliche Stärke entwickeln können, ist - pointiert formuliert - weitgehend auch eine Folge der Säkularisation. Die Fürstbischöfe der alten Reichskirche standen, so Wolf, für einen "alternativen Katholizismus zum konfessionalisierten Romanismus" (119) der ultramontanen Bischöfe des 19. Jahrhunderts.

Nicht nur die Bistumsleitung, sondern die gesamte Kirchenführung in den Blick nimmt Dominik Burkard und untersucht die Auswirkungen des Systembruchs auf die kirchlichen Eliten. Die Ablösung der alten durch die neuen Eliten gestaltete sich unterschiedlich, weitgehend blieben die alten Bischöfe noch im Amt. Viele der neuen, aus bürgerlichen Handwerker- und Bauernfamilien stammenden Diözesanoberhäupter verfügten neben einer besseren akademischen und Verwaltungsausbildung über praktische Erfahrungen in der Seelsorge. Sehr instruktiv sind die im Anhang prosopographisch angelegten Übersichten: Grafiken zu den Amtszeiten der Bischöfe, Biogramme der neuen "bürgerlichen" Bischöfe sowie die Adelspräsenz in den Bistumsleitungen.

Das Klosterleben nach der Säkularisation nimmt Mary Anne Eder in den Blick und stellt die bayerischen Zentralklöster der Bettelorden vor, die als Sammelklöster unter staatlicher Aufsicht für die Religiosen säkularisierter Klöster eingerichtet wurden. Immerhin fungierten die Zentralklöster im altbayerischen Raum gleichsam als Keimzellen für das nach 1817 wieder aufblühende klösterliche Leben der Mendikanten.

Konstantin Maier analysiert die Klosterökonomien der schwäbischen Reichsprälaturen beim Wechsel zur staatlichen Wirtschaftsführung. Nach dem Ende der benefizialen Versorgung und dem reaktivierten Ethos der persönlichen Armut konnten die Klöster eine z. T. sehr erfolgreiche Wirtschaftspolitik betreiben. Ob Maiers Schluss, dass die Klöster der Germania Sacra nicht mehr überlebensfähig waren, zutrifft, ist angesichts der Ergebnisse der neueren Forschung allerdings sehr fragwürdig.

Einem neuen Kapitel des Ordenslebens geht Joachim Schmiedl nach, der Gründungsmodelle religiöser Gemeinschaften im 19. Jahrhundert vorstellt und auf die Vitalität des sich nach der Säkularisation entfaltenden Ordenslebens hinweist. Hier ist insbesondere an das soziale und pädagogische Engagement zu denken: Allein die Zahl der Ordensschwestern stieg zwischen 1815 und 1913 auf ca. 60.000. Die Orden fungierten v. a. als Instrument der bürgerlichen Armenfürsorge, wobei sie in Bayern auf staatliche Unterstützung bauen konnten, während in Württemberg und Baden das Gegenteil der Fall war.

Markus Ries geht dem Wandel der Priesterbildung im 19. Jahrhundert nach, wo die Entwicklung zum ultramontanen Ideal des allein unter bischöflicher Aufsicht studierenden Theologiestudenten führte. Peter Claus Hartmann weist auf die Minderung des katholischen Einflusses hin, verursacht durch den Wegfall von Bildungszentren. Klaus Fitschen beschreibt die konfessionellen Mentalitäten, also Abgrenzungen und Grenzübergänge im Zuge der Säkularisation, und bemerkt, dass bislang zu sehr institutionengeschichtliche Fragestellungen im Vordergrund standen. Weniger untersucht wurden bislang mentalitätshistorische Aspekte wie die "Schärfung der katholischen Identität".

Neben diesen aspektreichen Darstellungen zeichnet sich der Band durch ein sehr ausführliches und aktuelles Literaturverzeichnis (267-314) sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister aus.

Der Sammelband überzeugt sowohl durch die thematische Breite (Rechts-, Kunst-, Sozial-, Mentalitäts- und Kirchengeschichte) als auch durch die methodischen Ansätze (prosopographische und biographische Zugriffe). Nicht nur die Welt-Kirche-Beziehungen werden thematisiert, sondern auch die innerkirchlichen Verhältnisse (Zusammensetzung der Priesterschaft und der kirchlichen Eliten). Erfreulich ist, dass - wie auch schon in anderen jüngeren Publikationen - die Zeit vor der Säkularisation stärker in den Blick genommen wird, war diese Zeit doch nicht nur eine Vorgeschichte der Säkularisation, sondern eine eigenständige und durchaus viel dynamischere Zeit als bislang oft angenommen.


Anmerkungen:

[1] Andreas Metzing: Der linksrheinische Protestantismus und die französische Säkularisationspolitik, in: Georg Mölich / Joachim Oepen / Wolfgang Rosen (Hg.): Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland, 1. und 2. Aufl., Essen 2002, 197-204.

[2] Vgl. Karl Hausberger: Von der Reichskirche zur "Papstkirche"?, in: Alois Schmid (Hg.): Die Säkularisation in Bayern 1803. Kulturbruch oder Modernisierung?, München 2003, 272-298. - Siehe zu dem Band auch die Besprechung in sehepunkte 4 (2004), Nr. 5, URL: http://www.sehepunkte.de/2004/05/6197.html (3.6.2006).

[3] Vgl. Katharina Weigand: Der Streit um die Säkularisation. Zu den Auseinandersetzungen in Wissenschaft und Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert, in: Schmid: Säkularisation (wie Anm. 2), 367-385.

Wolfgang Rosen