Rezension über:

Mogens Herman Hansen: The Tradition of Ancient Greek Democracy and its Importance for Modern Democracy, Copenhagen: The Royal Danish Academy of Sciences and Letters 2005, 75 S., ISBN 978-87-7304-320-2, DKK 80,00
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Rezension von:
Karl-Wilhelm Welwei
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Karl-Wilhelm Welwei: Rezension von: Mogens Herman Hansen: The Tradition of Ancient Greek Democracy and its Importance for Modern Democracy, Copenhagen: The Royal Danish Academy of Sciences and Letters 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/10406.html


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Mogens Herman Hansen: The Tradition of Ancient Greek Democracy and its Importance for Modern Democracy

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Der Leiter des "Copenhagen Polis Centre" legt in diesem schmalen Band zwei gedankenreiche Abhandlungen zu rezeptionsgeschichtlichen Themen im weitesten Sinne vor. Im ersten Aufsatz ("The Tradition of Democracy from Antiquity to the Present Time", 5-43) erörtert er die Frage, welche Bedeutung die altgriechische Demokratie für die Entstehung der modernen Demokratie hatte. Er weist einerseits auf wesentliche Übereinstimmungen zwischen der athenischen Demokratie der "Klassischen Zeit" und der "liberalen Demokratie" des 19. und 20. Jahrhunderts hin, indem er betont, dass in beiden Systemen die Demokratie als Herrschaft des Volkes verstanden wird und Freiheit und Gleichheit die wesentlichen demokratischen Grundwerte bilden. Andererseits differenziert er zwischen der Tradition der griechischen Demokratie im Allgemeinen und der Rezeption der spezifischen Tradition der athenischen Demokratie im europäischen politischen Denken. Er führt hierzu aus, dass im 18. Jahrhundert die Demokratie weithin von Philosophen negativ beurteilt und von Staatsmännern als unmögliche politische Organisationsform verstanden wurde, weil als Beurteilungskriterien die theoretischen Beschreibungen der Demokratie in Platons Dialogen (vor allem in der Politeia und im Politikos), in den Politika des Aristoteles und im 6. Buch des Polybios dienten und für die Initiatoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution eher die römische Republik als Griechenland das Vorbild war (10). Hansen betont mit Recht, dass erst durch den Aufschwung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert das Interesse für die athenische Demokratie wuchs.

Dieser Befund scheint auf den ersten Blick erstaunlich zu sein. Polybios (6,4,4-6) bezeichnet in seinen staatstheoretischen Erörterungen die Demokratie durchaus als positive Form einer Volksherrschaft, in welcher der Wille der Mehrheit der Bürger zur Geltung kommt und Gehorsam gegenüber den Gesetzen herrscht. Zudem wertet Polybios die Verfassung des Achaiischen Bundes als wahre Demokratie und einzigartige staatliche Ordnung, weil Freiheit und Gleichheit nirgendwo besser verwirklicht seien als dort. Auch Aristoteles urteilt keineswegs generell negativ über die Demokratie. Seine so genannte Summierungstheorie in den Politika (1281 b 39-42) besagt, dass die Menge, in der jeder Einzelne durchaus kein tüchtiger Mann ist, als Gesamtheit besser zu sein scheint als die (wenigen) Aristokraten. Daher ist nach Aristoteles der Anspruch der Menge auf Teilhabe an den Beratungen und an der Rechtsprechung berechtigt (Politika 1291 b 31).

Die bei Aristoteles und Polybios ansatzweise erkennbaren positiven Kriterien für eine idealtypische Demokratietheorie waren im Zeitalter der Aufklärung indes noch nicht hinreichend wissenschaftlich aufbereitet, sodass sie in der Entwicklung eines modernen Demokratieverständnisses lange Zeit keine Beachtung fanden.

Noch interessanter ist der folgende Aufsatz Hansens ("Direct Democracy, Ancient and Modern", 45-69), in dem er die direkte athenische Demokratie mit der modernen parlamentarischen Demokratie vergleicht und die Frage stellt, ob es möglich sei, die Praxis der antiken Entscheidungsfindung in der Volksversammlung in modifizierter Form zu übernehmen. Er verweist dazu auf ein Modell, das der dänische Universitätslehrer Marcus Schmidt entwickelt hat. Hiernach könnten von den ungefähr vier Millionen dänischen Wahlberechtigten jeweils etwa 70.000 Bürger im jährlichen Wechsel ausgelost werden, die eine "Elektronische Zweite Kammer" bilden und über alle größeren politischen Agenden zu entscheiden haben. Die Zahl 70.000 ergibt sich daraus, dass dänische Wahlberechtigte im Durchschnitt 57 Jahre potenziell für eine entsprechende Auslosung zur Verfügung stehen könnten, wenn jährlich eine neue "Elektronische Zweite Kammer" konstituiert würde und eine Iteration ihrer jeweiligen Mitglieder nicht erlaubt wäre. Außerdem ist in diesem Modell auch eine intensive Kooperation zwischen professionellen politischen Akteuren im eigentlichen Parlament und den jeweiligen "Amateuren" in der "Elektronischen Kammer" vorgesehen.

Die Voraussetzungen für Entscheidungsfindungen in der überschaubaren Welt griechischer Poleis und in den Massendemokratien moderner Industriestaaten mit rivalisierenden politischen Lagern und Interessenverbänden und mit global agierenden Konzernen sind freilich kaum vergleichbar. Hinzu kommen für moderne Nationen Konfliktpotenziale, die durch ihre Einbindung in weit gespannte Bündnissysteme entstehen können. Während in Athen zahlreiche Teilnehmer an Volksversammlungen durch vorausgehende Mitgliedschaft im Rat der 500 mit den Verhältnissen im athenischen Einflussbereich einigermaßen vertraut waren und unmittelbar kritische Gegenargumente gegen bestimmte Anträge der Debattenredner hören konnten, dürfte es kaum möglich sein, jährlich Zehntausende oder in großen demokratischen Staaten sogar Hunderttausende von Bürgern zur Mitgliedschaft in einer "Elektronischen Kammer" zu aktivieren und vor jeder Beschlussfassung entsprechend detailliert zu informieren.

Die Kombination moderner und antiker Formen der politischen Entscheidungsfindung wird ein Gedankenexperiment bleiben.

Karl-Wilhelm Welwei