Rezension über:

Hans-Günther Funke: Reise nach Utopia. Studien zur Gattung Utopie in der französischen Literatur (= Politica et Ars. Interdisziplinäre Studien zur politischen Ideen- und Kulturgeschichte; Bd. 7), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, 345 S., ISBN 978-3-8258-7977-8, EUR 34,90
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Rezension von:
Lothar van Laak
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Holger Zaunstöck
Empfohlene Zitierweise:
Lothar van Laak: Rezension von: Hans-Günther Funke: Reise nach Utopia. Studien zur Gattung Utopie in der französischen Literatur, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 2 [15.02.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/02/7025.html


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Hans-Günther Funke: Reise nach Utopia

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Einen besonderen Höhepunkt der Utopieforschung stellte Anfang der 1980er Jahre eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe dar, deren Ergebnisse in dem von Wilhelm Voßkamp edierten Sammelband Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie (1982) dokumentiert sind. Tagung und Sammelband führten damals nicht nur die Debatten in den verschiedenen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen zusammen. Sie vertieften auch deren grundlegenden interdisziplinären Charakter, der den Überlegungen in den einzelnen Disziplinen eine neue Dynamik verliehen hat.

Dass diese Dynamik in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten keineswegs nachgelassen hat, macht der vorliegende Sammelband deutlich. Er versammelt 15 Aufsätze des Göttinger Romanisten Hans-Günter Funke, die in den Jahren 1982 bis 2004 erschienen sind. Jedes der drei Jahrzehnte, in denen sich Funke dieser Gattung gewidmet hat, ist in je fünf Aufsätzen repräsentiert, womit nicht nur ein zentrales Anliegen seines literaturwissenschaftlichen Arbeitens, ein roter Faden seines Frageinteresses, dokumentiert wird, sondern auch Wandlungen, Fortschritte und Neuorientierungen in der wissenschaftlichen Diskussion und Perspektivierung der Gattung selbst deutlich werden. Gerade diese Möglichkeit kann den Wiederabdruck der Aufsätze im Kontext eines Sammelbands wie dem vorliegenden zusätzlich legitimieren. Eine wünschenswerte Ergänzung wäre gleichwohl eine ausführlichere, die Forschungsentwicklung insgesamt reflektierende und sich auf die eigene Position Funkes beziehende, systematisierende Einleitung des Sammelbandes gewesen.

Geordnet sind die Aufsätze nun nicht chronologisch, sondern in vier Abschnitten neu zusammengestellt. Sie widmen sich der Begriffs- und Gattungsgeschichte (I.) und verschiedenen Einzelaspekten der Utopieforschung (II.), dann Prototypen der Gattungsdifferenzierung (III.) sowie dem Verhältnis von Reiseliteratur und Utopie (IV.). Versammeln die ersten beiden Abschnitte eher die älteren Aufsätze, finden sich in den letzten beiden Abschnitten eher die neueren. In dazu analoger Weise hat sich auch die Utopieforschung von der Klärung der prinzipiellen Begriffs- und Gattungsfragen mehr und mehr zur gattungsbezogenen Paradigmenbildung und zur kritischen Positionierung der Utopie im Verhältnis zu anderen Gattungen und Textgruppen fortentwickelt.

Dementsprechend sollen im Folgenden auch insbesondere die neueren Beiträge des Sammelbandes näher betrachtet werden. Funkes Aufsatz Fontenelles 'Histoire des Ajaoïens', der erste utopische Staat tugendhafter Atheisten (erstmals 2004; hier 187-196) widmet sich dieser 1682 verfassten und erstmals 1768 unter Fontenelles Namen posthum veröffentlichten Utopie einer "harmonischen Gesellschaft tugendhafter Atheisten, die auf Grund der staatlichen Erziehung nach einheitlichen Sozialwerten, vor allem der rechtlichen und ökonomischen Gleichheit, der Freiheit und Tugendhaftigkeit in brüderlicher Eintracht leben." (195) Funke sieht hier das Erziehungsideal des "bon citoyen" durch das "utilitaristisch orientierte staatliche, einheitliche, weltliche Bildungswesen realisiert" (ebd.), wobei diese egalitäre Elitenbildung in einem auffallenden Kontrast mit der deutlichen Ungleichheit steht, die sich an den Frauen und den Sklaven von Ajao zeigt. Wenn Fontenelle dabei die Frauen in die allgemeine Schulpflicht einbezieht, mildere dies seine antifeministische Haltung; und wenn er die Möglichkeit von Sklavenunruhen mit bedenkt, werde auch der idealtypisch geschichtslose Charakter der Gattung Utopie relativiert und historisierend konkretisiert, "weil Fontenelle nicht nur die übliche Geschichte der Utopisierung des Landes mitteilt, sondern [...] erstmals auch Ansätze aufklärerischen Fortschrittsdenkens in seine Utopie eingeführt hat durch den interkulturellen Austausch des wissenschaftlich-technischen und agronomischen Fortschritts Europas gegen die materialistische Weltanschauung und die autonome Moral Ajaos." (196)

An diesem neueren Aufsatz des Sammelbands zeigt sich das besondere Potential, das darin liegen kann, die Utopie in eine interkulturelle Perspektive zu rücken. (Dass die so sehr verspätete Rezeption von Fontenelles Atheisten-Utopie im Kontext der sozialen Umwälzungen der Französischen Revolution auch eine historisch indizierte intrakulturelle Aussagekraft besitzt, deutet Funke darüber hinaus übrigens ebenfalls an.)

Gerade die interkulturelle Perspektive erweist sich für drei weitere Aufsätze als gewinnbringend, und zwar zum einen für den erstmals 2003 publizierten Aufsatz Das interkulturelle Streitgespräch zwischen Europäer und "Wildem" als Medium aufklärerischer Zivilisationskritik: Lahontans 'Dialogues curieux entre l'auteur et un sauvage' (1703), zum anderen für die beiden Aufsätze des vierten und letzten Abschnitts zu Reiseliteratur und Utopie (197-220; 275-306; 307-343). Lahontans 'Dialogues' widmet Funke nicht nur eine genaue Beschreibung und gattungstheoretische Einordnung, sondern auch eine präzise Analyse der Redestrategien, derer sich die Dialogpartner bedienen. Funke stellt durch seine Interpretation fest: "Die 'Dialogues curieux' beginnen als ein Lehrgespräch (dialogue catéchistique), in dem der Dialogpartner 'Lahontan' als Lehrmeister die kulturelle Überlegenheit des Zivilisierten auszuspielen versucht [...]. Der vehemente Widerstand Adarios, seine Intelligenz und Reiseerfahrung, sein hohes kulturelles Selbstbewusstsein und die Rationalität seiner Argumentation verwandeln das Lehrgespräch in ein engagiertes Streitgespräch (dialogue éristique), in dem der Hurone die Oberhand zu erlangen [...] scheint. Die Einräumungen und 'Grenzüberschreitungen' des Dialogpartners 'Lahontan' scheinen schließlich beiden Kontrahenten die Möglichkeit zu eröffnen, in einen heuristischen Dialog (dialogue heuristique) einzutreten, in dem beide als gleichberechtigte Vertreter reziproker kultureller Alterität als Partner einer gelingenden Kommunikation in gemeinsamer Wahrheitssuche den Sinn des interkulturellen Dialogs konstituieren könnten." (220)

Die beiden Aufsätze des letzten Abschnitts, die sich dem Verhältnis von Reiseliteratur und Utopie widmen, machen deutlich, wie sich im produktiven Zusammenspiel dieser verschiedenen Gattungstraditionen ein solcher Kommunikationsraum für einen interkulturellen Dialog konkret ausgestalten kann: als Metadiskurs fremdkultureller Wahrnehmungsweisen und ihrer Probleme, wie Funke es entwickelt in Spuren eines Metadiskurses über die Problematik der Wahrnehmung und Darstellung fremdkultureller Wirklichkeit in den Brasilien-Reiseberichten Thevets und Lérys (erstmals 2002; hier 275-306); und als intern widerspruchsvolle Beschreibung und bildnerische Darstellung des Indianers in "Barbare cruel" oder "bon sauvage"? Zur ambivalenten Funktionalisierung des Indianerbildes in der Histoire générale des Antilles (1667-1671) des Père Du Tertre (erstmals 1992; hier 307-343).

Argumentiert dieser etwas ältere Aufsatz noch mit den Verfahren der Stereotypenbildung, arbeitet die neuere Untersuchung die Wahrnehmungsmuster und deren Selbstreflexion in der Darstellung heraus und entwickelt so eine 'dichtere Beschreibung' der diskursiven Eigentümlichkeiten und eine differenziertere Analyse, die über die Feststellung von Ambivalenzen hinausgeht. So stellt Funke fest: "Bei beiden Brasilienreisenden [Thevet und Léry] wird vor allem die Reflexion über Probleme der Darstellung fremdkultureller Wahrnehmung sichtbar, wenn sie das Zusammenwirken der Medien Text, Bild und Curiosa, die Ungleichheit der tatsächlichen Autopsie des Reisenden und der nur imaginierten Autopsie des Lesers ('Autopsie zweiten Grades') thematisieren[.]" (305)

So zeigt sich an den hier exemplarisch besprochenen Aufsätzen des Sammelbands nicht nur die Vielfältigkeit der Gattung Utopie und der methodologischen Perspektiven, sich ihr zu widmen; sondern insbesondere auch die mittlerweile erreichte hohe Differenziertheit ihrer Betrachtung, die in Fragen der Interkulturalität, der Selbst- und Fremdwahrnehmungsleistung von Kulturen und ihrer diskursiven Formierungen münden kann.

Lothar van Laak