Rezension über:

Richard Evans: Das Dritte Reich. Band II: Diktatur. Aus dem Englischen von Udo Rennert, München: DVA 2006, 2 Bde., 1104 S., 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-05653-5, EUR 69,90
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Rezension von:
Armin Nolzen
Warburg
Empfohlene Zitierweise:
Armin Nolzen: Rezension von: Richard Evans: Das Dritte Reich. Band II: Diktatur. Aus dem Englischen von Udo Rennert, München: DVA 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/03/12060.html


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Richard Evans: Das Dritte Reich

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Richard J. Evans ist ohne Zweifel einer der besten britischen Kenner der deutschen Geschichte. Seine Publikationen umfassen zahlreiche Themenfelder, darunter die Geschichte der deutschen Frauenbewegung von 1896-1933, eine Studie zur Cholera-Epidemie in Hamburg im Jahre 1892, eine Darstellung der Todesstrafe in Deutschland von 1532-1987 und zwei bemerkenswerte Streitschriften zum "Historikerstreit" sowie zur postmodernen Herausforderung der Geschichtswissenschaft. Er fungierte als Hauptgutachter der Verteidigung in jenem Verleumdungsprozess, den der britische Holocaust-Leugner David Irving in London gegen die Historikerin Deborah E. Lipstadt anstrengte und der 2000 mit einem Freispruch Lipstadts endete. Seitdem darf Irving öffentlich als Geschichtsfälscher bezeichnet werden.

Nach diesem Prozess hat Lipstadts Verlag Penguin Books Evans die einmalige Gelegenheit geboten, eine groß angelegte Gesamtdarstellung des NS-Regimes zu verfassen. Diese liegt mittlerweile in zwei Bänden vor, und der dritte Teil, der die Zeit zwischen 1939/40 und 1945 behandeln wird, steht in den nächsten Monaten zu erwarten. Insgesamt werden es dann wohl mehr als 3.000 Seiten sein, auf denen Evans die Geschichte des NS-Staates präsentiert. Dieser Umfang stellt alle bisherigen Synthesen zum 'Dritten Reich', nicht zuletzt auch Ian Kershaws zweibändige Hitler-Biografie, in den Schatten. Letztlich wird Evans' Darstellung dreimal so lang sein wie der bislang voluminöseste Deutungsversuch des NS-Staates, das 2000 erschienene Buch Michael Burleighs "Die Zeit des Nationalsozialismus".

Die vorliegende Darstellung "Diktatur", die auf zwei Teilbände aufgeteilt ist, setzt mit dem 14. Juli 1933 ein, an dem das Reichskabinett das "Gesetz gegen die Neubildung von Parteien" verabschiedete und das Deutsche Reich zu einem Einparteienstaat machte. Sie endet mit dem deutschen Angriff auf Polen und der britisch-französischen Kriegserklärung an das Deutsche Reich vom 3. September 1939. Evans teilt seinen Stoff in sieben Kapitel ein, die zwischen 120 und 140 Seiten lang sind und stets mit einer Zusammenfassung enden, die jedoch meist aus einer bloßen Wiederholung des bereits Gesagten besteht. Nacheinander behandelt er die Entstehung des Polizeistaats, die NS-Kulturpolitik, die Auseinandersetzung mit den Kirchen und die Transformation des Erziehungssystems, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, den Aufbau der "Volksgemeinschaft", die NS-Rassenpolitik bis zur "Reichskristallnacht" vom 8. und 9. November 1938 sowie die Radikalisierung der Außenpolitik zwischen dem Austritt aus dem Völkerbund im Herbst 1933 und dem "Polenfeldzug" vom Spätsommer 1939. Nicht immer verbergen sich unter den Kapitelüberschriften die Sachverhalte, die man thematisch erwarten würde. Am eigentümlichsten ist das Kapitel 4 "Wohlstand und Korruption", in dem der Reichsautobahnbau und die NS-Motorisierungspolitik, die Arbeitsbeschaffung, die Luftrüstung, die Struktur des Reichsnährstandes und die "Entjudung" der Wirtschaft behandelt werden. Viele dieser Aspekte wären besser in anderen Kapiteln untergebracht worden, und dasselbe gilt pars pro toto für weite Bereiche der vorliegenden Untersuchung, die alles in allem einen wenig durchdachten Eindruck macht.

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, detailliert auf die von Evans referierten Sachverhalte einzugehen. Von einer Gesamtdarstellung des 'Dritten Reiches' darf man erwarten, dass sie darum bemüht ist, alle zentralen Politikfelder möglichst gleichrangig zu behandeln, auf der Höhe der Forschung zu argumentieren und die gängigen Erklärungsmodelle zur Entwicklungsdynamik des NS-Regimes kritisch weiterzuentwickeln. Evans hingegen geht einen anderen Weg: er erzählt, wie es "eigentlich" gewesen ist. Thesen, Begriffe oder gar heuristische Kategorien fehlen vollständig. Totalitarismus, Faschismus, Polykratie oder Modernisierung kommen als Begriffe kaum vor, und der Autor entzieht sich systematisch dem Problem, den Nationalsozialismus zu erklären. Lediglich bei seiner (zutreffenden) Betonung des diktatorisch-repressiven Charakters des NS-Systems setzt er einmal einen eigenen interpretatorischen Akzent. Viele Aspekte, die in den letzten Jahren im Zentrum des Forschungsinteresses standen, werden bei Evans nur gestreift. So finden die Verwaltungsgeschichte, die SS- und Täterforschung, die Geschichte der NSDAP, die Wehrmacht und die neuere Unternehmensforschung kaum Erwähnung, und die dazu einschlägige Literatur wird nur selektiv rezipiert. Generell beschränkt sich Evans auf eine traditionelle Politikgeschichte von oben, die mit wenigen handelnden Personen auskommt und einem atemberaubenden Hitler-Zentrismus huldigt. Nicht eine einzige Institution des NS-Staates stellt er ausführlicher vor; ein für eine organisierte Gesellschaft wie das 'Dritte Reich' nachgerade fahrlässig zu nennendes Versäumnis. Für einen Historiker, der sich wie Evans ausgiebig mit der Geschichte der deutschen Frauenbewegung befasst hat, ist es zudem verblüffend, wie selten und an welch peripheren Stellen er Frauen auftreten lässt. Man wird ihm den Vorwurf nicht ersparen können, die Bedeutung der Geschlechterdifferenz für das Funktionieren des NS-Staates unterschätzt zu haben.

Diese Defizite, die sich noch vermehren ließen, resultieren aus der problematischen Konzeption des Werkes, die der Autor in der Einleitung zu seinem ersten Band vorgestellt hat. Ihm geht es um eine Darstellung der NS-Geschichte für eine breite Leserschaft, die nur wenig historische Vorkenntnisse besitzt. Daher sind die narrative Struktur seines Buches und der Verzicht auf analytische Geschichtsschreibung Programm. Diese beiden Aspekte schließen einander aber beileibe nicht so kategorisch aus, wie es Evans' Vorgehensweise suggeriert. Ein professioneller Historiker muss erzählen und erklären können, das heißt, er muss historische Sachverhalte anschaulich referieren und begrifflich auf den Punkt bringen. Evans jedoch hat keine Balance gefunden zwischen einem wissenschaftlichen Werk, das der Fachdiskussion neue Impulse zu geben vermag, und einer auf ein möglichst breites Publikum abgestellten Dokumentation der NS-Geschichte. Dies zeigt sich auch am gigantischen Umfang seiner Gesamtdarstellung, durch die sich am Ende wohl am ehesten die NS-Historiker hindurchwühlen werden, nicht jedoch ein historisch interessierter Laie. Umso bedauerlicher ist es, dass das vorliegende Werk mehr und mehr in eine bloße Aneinanderreihung der Ereignisse abgleitet, die durch keine analytische Klammer zusammengehalten werden. Von einer Gesamtdarstellung der Geschichte des 'Dritten Reiches' darf man mehr erwarten.

Armin Nolzen