Rezension über:

K.D.M. Snell: Parish and Belonging. Community, Identity and Welfare in England and Wales, 1700-1950, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xiv + 541 S., ISBN 978-0-521-86292-9, GBP 60,00
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Rezension von:
Ina Scherder
Fachbereich III, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Ina Scherder: Rezension von: K.D.M. Snell: Parish and Belonging. Community, Identity and Welfare in England and Wales, 1700-1950, Cambridge: Cambridge University Press 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/11378.html


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K.D.M. Snell: Parish and Belonging

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Keith D.M. Snell, der erste Ergebnisse seiner Forschung bereits in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlichte [1], legt nun eine umfassende Studie zur Rolle der Gemeinde in England und Wales und zu Fragen der lokalen Zugehörigkeit vor. Obwohl die breiten Themenkomplexe Armut, Wohlfahrt und zentrale-lokale Beziehungen in der englischen Forschungsliteratur durch zahlreiche Neuerscheinungen weiter differenziert worden sind, widmet sich Snell mit seiner detaillierten Studie einem Forschungsdesiderat.

Dabei untersucht er in einer Perspektive langer Dauer den Einfluss von Zentralisierung und Globalisierung auf die Gemeinde und die Menschen, die in ihr leben. Er nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand mikroanalytisch an. Um lokale Unterschiede und Gemeinsamkeiten sowie zeitliche Veränderungen aufzeigen zu können, werden unterschiedliche Quellenarten ausgewertet, wie literarische Zeugnisse, Ego-Dokumente, Heiratsregister und offizielles Verwaltungsschrifttum.

Im Zeitraum von 1700 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich Snell in insgesamt sieben Kapiteln, plus einer Einführung und einem Schlusskapitel, in dem zusätzliche Forschungsperspektiven aufgeworfen werden, mit dem Zugehörigkeitsgefühl und der lokalen Identität. Nach einer ausführlichen Einleitung untersucht Snell in einem Kapitel die Beziehungen von Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern einer Gemeinde, wie sich dieses auf kultureller Ebene oder durch Verwaltungsmaßnahmen äußerte, den Widerstand gegenüber "Fremden" und die Auswirkung auf die Definition des Zugehörigkeitsgefühls. Er zeigt auf, wie langanhaltend solche ausgrenzenden Tendenzen in einigen Regionen herrschten.

Ein weiterer Abschnitt des Buches widmet sich den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den Veränderungen der Kategorie "Zugehörigkeit". In England und Wales gab es viele sogenannte "Settlement"-Gesetze, die Rechte und Ideen von Zugehörigkeit transportierten. Snell untersucht, was diese gesetzlichen Vorgaben für die Gemeindemitglieder und auch für diejenigen Personen, die per Gesetz kein Bleiberecht hatten, bedeuteten.

Im nächsten Kapitel steht die Heiratspraxis in der Gemeinde im Vordergrund. Für Snell stellt die Wahl der Heiratspartner aus der Gemeinde oder von außerhalb derselben einen wichtigen Indikator für die relative Geschlossenheit der Gemeinde und die hohe Bedeutung derselben für ihre Mitglieder. Hierbei gab es starke regionale Unterschiede. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert stellt der Autor einen hohen Anteil von Hochzeiten, bei der beide Partner aus derselben Gemeinde stammen, fest. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich die Heiratsverhalten dramatisch und die Partnerwahl erfolgte nicht mehr überwiegend aus der eigenen Gemeinde.

Die Gemeinde spielte eine entscheidende Rolle in der Armenverwaltung in England und Wales. Snell untersucht den Einfluss des New Poor Law von 1834 mit den Arbeitshäusern im Zentrum der Regelungen, betont jedoch die anhaltend wichtige Rolle der Gemeinde, in der die Unterstützung außerhalb des Arbeitshauses verteilt wurde, die in England und Wales einen hohen Anteil an der Armenunterstützung ausmachte. Snell zeigt in diesem Kapitel die Kontinuität der wichtigen Rolle der Gemeinde in der Armenunterstützung auch unter dem Neuen Armengesetz auf, stellt dabei jedoch regionale Unterschiede und auch Differenzen zwischen England und Wales fest.

Aufbauend auf diesem Kapitel widmet sich der Autor anschließend den sogenannten "Parish Overseers" und der Verwaltungspraxis in der Gemeinde, ein Gebiet, welches bisher noch nicht sehr gut erforscht ist. Nach 1834 wurde die eigentliche Armenverwaltung auf die Unions übertragen, das Amt der Overseers in der Gemeinde bestand jedoch bis 1927 fort. Sie waren zuständig für die Einsammlung der Armensteuer und erfüllten eine Reihe von weiteren administrativen Aufgaben aus den Bereichen Wohlfahrt, Bildung und Gesundheit.

Daneben werden auch die zahlreichen Neugründungen von Gemeinden und die Veränderungen, die bestehende Gemeinden im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfuhren, analysiert. Snell untersucht deren räumliche Lage, den Prozess und die Gründe für die Einrichtung neuer Gemeinden oder die Veränderung von bestehenden Gemeinden. Ein besonderes Augenmerk richtet der Autor dabei auf die Rolle der protestantischen Staatskirche und die Trennung der kirchlichen und zivilen Gemeinde, die eine "ganzheitliche Identifizierung" der Mitglieder mit derselben bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts schwieriger machten, welches Snell an einem Fallbeispiel erläutert.

Ein anderes Feld, an dem Snell die Zugehörigkeit zur Gemeinde und die lokale Verbundenheit erforscht, sind die Inschriften von Grabsteinen auf lokalen Friedhöfen. Er analysiert, ob und wie die Gemeindemitglieder ihre örtliche Zugehörigkeit ausdrückten und wie sich dieses im Untersuchungszeitraum veränderte.

Snells zentrale These ist, dass die Gemeinde eine sehr wichtige Rolle für die Menschen spielte, die in ihr lebten, vielerorts bis ins 20. Jahrhundert hinein. Sie wirkte inkludierend und exkludierend und produzierte mithilfe von sozialen, kulturellen und gesetzlichen Mechanismen ein Zugehörigkeitsempfinden für ihre Mitglieder. Dieses Gefühl von Zugehörigkeit war "elective, individualised, a preference in a range of choices - whether poorly or well understood - and something that could be reconceived and changed, within and across the parish system" (25). Die abnehmende Bedeutung der Gemeinde wurde nach Snell jedoch nicht durch die Industrialisierung oder die "Modernisierung" ausgelöst, sondern begann vielfach erst zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die Periode vom 16. bis 18. Jahrhundert, die als Höhepunkt der Rolle der Gemeinde galt, müsse ausgedehnt werden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Snell präsentiert eine Reihe von neuen Erkenntnissen über die Rolle der Gemeinde, lokale Zugehörigkeit, Bleiberecht, Wohlfahrt und Armenunterstützung, Fragen der Inklusion und Exklusion und deren Veränderung in England und Wales in einem langen Untersuchungszeitraum. Der umfassende Untersuchungsgegenstand und der lange Untersuchungszeitraum bedeuten natürlich, wie Snell selber anmerkt, dass viele Aspekte, wie die wirtschaftliche Entwicklung, die Rolle der Eisenbahn oder andere lokale Zugehörigkeitsorte, wie Stadtbezirke, keine Beachtung finden konnten und weitere Forschung dazu wünschenswert wäre, die auf den Ergebnissen der wichtigen Arbeit von Snell aufbauen können.


Anmerkung:

[1] Gravestones, belonging and local attachment in England, 1700-2000, in: Past and Present, 179 (2003), 97-134; The culture of local xenophobia, in: Social History, 28 (2003), 1-16; English rural societies and geographical marital endogamy, 1700-1837, in: Economic History Review, 55,2 (2002), 262-298.

Ina Scherder