Rezension über:

Iris Lauterbach / Margret Stuffmann (Hgg.): Aspekte deutscher Zeichenkunst (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte; Bd. XVI), München: Zentralinstitut für Kunstgeschichte 2006, 208 S., ISBN 978-3-9806071-2-4, EUR 19,90
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Rezension von:
Claudia Czok
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Czok: Rezension von: Iris Lauterbach / Margret Stuffmann (Hgg.): Aspekte deutscher Zeichenkunst, München: Zentralinstitut für Kunstgeschichte 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 7/8 [15.07.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/07/11945.html


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Iris Lauterbach / Margret Stuffmann (Hgg.): Aspekte deutscher Zeichenkunst

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Anlass zur Zusammenstellung des Bandes "Aspekte deutscher Zeichenkunst" gab ein Kolloquium 2004 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München zum 10-jährigen Bestehen des Wolfgang-Ratjen-Preises, der die wissenschaftliche Erforschung der deutschen Handzeichnung befördert. Das 2006 erschienene Buch vermag vor allem eines: Es widerlegt die mehrfach wiederholte Bemerkung, dass Handzeichnungsforschung nicht existiere, lediglich Kenner, Katalog- oder Corpusbearbeiter vorhanden seien. [1] Eine so strikte Trennung zwischen den aufgeführten Zweigen innerhalb kunsthistorischer Arbeit ist kaum noch anzutreffen; zudem ist es längst eine Binsenweisheit, dass Kunsttheorie und Kunstkennerschaft sowie alle dazwischen liegenden Graduierungen in ihrer Beherrschung einander bedingen, ja steigern. [2]

Zur Bestätigung dessen treten im vorliegenden Tagungsband 18 Autoren auf, von denen die meisten in Museen oder Universitäten tätig sind oder waren. Wie damit gleichzeitig sichtbar wird, findet Handzeichnungsforschung außerdem in Deutschland kontinuierlich seit wenigstens 60 Jahren statt, früher womöglich mit weniger Aufsehen und eingeschränkteren Möglichkeiten hinsichtlich der Veröffentlichung. Darüber hinaus ist, offenbar manchmal nicht wahrgenommen, Wissensgewinn auf diesem Gebiet häufig an spezielle Untersuchungen zur Druckgrafik gebunden: Im vorliegenden Band gibt Markus Bertsch mit einer konsistenten Untersuchung zu Carl Wilhelm Kolbes Landschaftsgraphik dafür ein Beispiel (115-128). Und obwohl Wissenszuwachs über die Handzeichnung durch eine manchmal fast unüberschaubare Menge an spezieller und gattungsübergreifender Literatur sowie durch neue Publikationsformen oftmals schwer zu verfolgen ist oder gar als solcher nicht ausdrücklich ausgewiesen ist: Der augenblickliche Forschungsstand zeichnet sich zumindest für den deutschsprachigen Raum sehr klar in einer Vielzahl jüngerer Publikationen ab.

Gerade vor dem eben beschriebenen Hintergrund gesehen ist es nicht richtig, wenn eingangs ausgeführt wird, dass die Handzeichnung "bisher primär hinsichtlich der individuellen Qualität ihrer künstlerischen Handschrift und ihrer jeweiligen Funktion beurteilt" wurde und hier nun erstmals die Frage aufgeworfen werde, "ob und inwieweit Zeichnung als autonome Kunst zu einer Art von Seismograph bestimmter historischer Konstellationen werden kann" (9). Das Vorwort spricht außerdem einen den Leser womöglich kurz irritierenden Punkt an, nämlich die spezifisch deutschen, konstanten Merkmale in der Zeichnung, eine Frage, die offenbar auch bei einzelnen Autoren des Bandes im Vorfeld kritisch diskutiert wurde (9). Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, dazu wenigstens stellenweise Forscher anderer (Wissens)Regionen zu Wort kommen zu lassen? Ein 'fremder' Ansatz über zeitgenössische Wahrnehmung von Zeichenkunst im literarischen 19. Jahrhundert gelingt zumindest Ernst Osterkamp (141-148), der den Zeichner im imaginären Bild des Künstlers bei Eduard Mörike, Gottfried Keller und Adalbert Stifter vorfindet und darstellt.

Das Buch gliedert sich in zwei große Abschnitte, von denen der erste die Zeichenkunst der Spätgotik von etwa 1400 bis 1700 umfasst, woraufhin der zweite mit der Betrachtung C. W. Kolbes (1759-1835) anhebt und bei Sigmar Polke (geb. 1941) und Anselm Kiefer (geb. 1945) endet. Als Überleitung zwischen den zwei Hauptkomplexen hat Andreas Tacke die Rolle der Zeichnung bei der Ausbildung deutscher Maler des 17./18. Jahrhunderts ausgelotet (105-113). Dieser Zeitraum, inhaltlich sehr weit gehend, lässt sich noch immer - auf Grund vielfältiger Entwicklungsstränge zwischen historischen Umwälzungen und komplizierter Forschungslage - nicht ohne großen Aufwand darstellen. Gerade dort harrt noch vieles, bisher Unbeachtetes der Untersuchung, ein Umstand, auf den Tacke auch ausdrücklich hinweist (110). Der Beitrag war jedenfalls unerlässlich, weil die Künstlerzeichnung neben der Druckgrafik seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert tatsächlich immer stärker ins Blickfeld rückte: Die Zeichnung, die als zeichnerische Idee zwar stets ihre bestimmte Funktion innerhalb des bildnerischen Entstehungsprozesses einnahm, wurde nun eher als autonomes Kunstwerk anerkannt und zum Objekt erhoben. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde dann die Zeichenkunst fast ebenso hoch geschätzt wie die Malerei, der allenfalls in ihrer skizzenhaften Ausführung eine vergleichbare Spontaneität und unmittelbare Äußerung künstlerischen Talents zugemessen wurde.

Das Layout des Bandes zeichnet sich durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Text und Bild von etwa 1:1 aus, im Wort gegebene Bildanalysen sind zumeist nachprüfbar. Hervorzuheben sind zudem die harmonische Gestaltung der Doppelseiten, die dezent Höhepunkte setzende Einfügung von ganzseitigen Abbildungen und die zumeist wohltuende Beschränkung auf tatsächlich notwendige Fußnoten. Allerdings hätte man dem Buch ein anderes, kostbareres Gewand gewünscht. Keineswegs ist damit die heute herrschende Inflation farbiger Abbildungen gemeint, sondern eine adäquate Darbietung solcher Blätter, auf denen beispielsweise farbige Zeichenmaterialien und Bildgründe bildkonstituierend sind.

Vier Beiträge im Buch widmen sich Albrecht Dürer; es geht um Teilbereiche seines gesamten grafischen Schaffens, um dessen Zuordnung zu Entwicklungssträngen der zeitgenössischen Kunst und zum künstlerisch-personellen Umfeld oder auch um die Dürer-Rezeption (39-72). So wie Dürers Zeichenkunst einen Schwerpunkt des Buches bildet, hätte daraufhin eigentlich Adolph Menzel gewürdigt werden müssen. Sein zeichnerisches Universum überragt nun einmal das 19. Jahrhundert in Deutschland, repräsentiert es geradezu. Wenngleich die Ausführungen über Carl Friedrich von Rumohr (129-140), Wilhelm Leibl und Hans Marées (161-173) verdienstvoll sind - als Zeichner bleiben diese Künstler im Vergleich zu Philipp Otto Runge oder den Nazarenern, zu Carl Blechen, Menzel oder Max Klinger eher unbedeutend. Dieses Ungleichgewicht kann der vorliegende Menzel-Essay nicht ausbalancieren (149-160). Diese zumeist Bekanntes neu komponierende Gesamtschau über Menzels Zeichenkunst, von Claude Keisch sprachlich brillant vorgetragen, mag man allenfalls als Ouvertüre verstehen - zu den hier bedauerlicherweise nicht vorhandenen Beiträgen namhafter Menzel-Forscher, die, kontinuierlich seit Jahrzehnten und gerade in den letzten Jahren, Teilbereiche des etwa 10.000 Blätter umfassenden Oeuvres erschließen konnten.

Demgegenüber ist das 20. Jahrhundert mit vielen seiner maßgeblichen Zeichner ausgewogener präsentiert. In Alexander Dückers' Beitrag über Max Beckmann und Otto Dix tritt das Allgemeine im Besonderen eindringlich zu Tage, wenn er das von zwei Weltkriegen geprägte Selbstverständnis deutscher Intellektueller aus deren Zeichnungen filtriert (175-184). Eugen Blume widmet sich dem Universalisten Joseph Beuys und erläutert, wie dieser als Zeichner ins 21. Jahrhundert weisende neue philosophische Dimensionen eröffnete (193-198). Letztgenannter Text zeigt sehr schön - wie übrigens auch der Beitrag über Dürers Zeichnung nach seiner Mutter (51-57), dass gerade die knappe, sich bewusst beschränkende literarische Form überzeugend neue Erkenntnisse darbieten oder neuartige Fragestellungen aufgeben kann. Und damit dürften solche Texte am besten ihrem Gegenstand, der Zeichenkunst, angemessen sein - denn schließlich ist die immer als intellektuellste Kunstform gerühmte Handzeichnung oft nichts anderes als konkretes Denken in zeichenhaft trefflicher Abbreviation.


Anmerkungen:

[1] Werner Busch: Versuch einer Typologie der deutschen Zeichnung des 19. Jahrhunderts, in: Zeitenspiegelung. Zur Bedeutung von Traditionen in Kunst und Kunstwissenschaft. Festschrift für Konrad Hoffmann, Berlin 1998, 181-192, 181; erneut abgedruckt in: Jahrbuch der Berliner Museen, 1999, Beiheft, N.F. 41. Bd., 13-18, 13; sowie wiederum zitiert von Robert Suckale: Ein sächsischer Künstler um 1500 mistet seine Zeichnungssammlung aus, in: Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch, hrsg. von Margit Kern/ Thomas Kirchner/ Hubertus Kohle, Berlin 2004, 11-18, 11.

[2] Hildegard Bauereisen/ Martin Sonnabend (Hg.): Correspondances. Festschrift für Margret Stuffmann zum 24. November 1996, Mainz 1996, 8.

Claudia Czok