Rezension über:

Dieter Gosewinkel / Johannes Masing: Die Verfassungen in Europa 1789-1949. Eine wissenschaftliche Textedition, München: C.H.Beck 2006, XXIV + 2116 S., ISBN 978-3-406-55169-7, EUR 268,00
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Rezension von:
Peer Schmidt
Historisches Seminar, Universität Erfurt
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Peer Schmidt: Rezension von: Dieter Gosewinkel / Johannes Masing: Die Verfassungen in Europa 1789-1949. Eine wissenschaftliche Textedition, München: C.H.Beck 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/12186.html


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Dieter Gosewinkel / Johannes Masing: Die Verfassungen in Europa 1789-1949

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Die Transitionsprozesse der letzten drei Jahrzehnte in Südeuropa, in Lateinamerika und Ostmitteleuropa haben es deutlich gemacht: Konstitutionen und ihre historischen Vorläufer sind von ungebrochener Relevanz - nicht nur in der atlantischen Welt. Ausdruck dieses nachhaltigen und stets neu erwachenden Interesses an der Verfassungsgeschichte war und ist z. B. die historische Wahlforschung. Mit gewissen Erwartungen greift man daher zu diesem Band europäischer Verfassungen, der im Übrigen "auch" England mit einschließt aber ebenso "amerikanische" Verfassungsgeschichte in ihrer Bedeutung für Europa mit einbeziehen will. Dass unter Amerika einmal mehr "nur" die USA zu verstehen sind, ist zwar sehr gut nachvollziehbar, aber eben auch keineswegs selbstverständlich. Doch diese Relevanz Amerikas für Europa trifft nicht nur für die USA zu. Der atlantische Anrainer Portugal etwa weist eine nicht minder enge Rückkopplung an die Geschichte Brasiliens auf.

Wendet man sich dem Kern zu, so schließt die vorliegende dickleibige Edition eine empfindliche Lücke: Erstmals versucht sie "eine vollständige Sammlung aller in Kraft gesetzten europäischen Verfassungen und ihrer Änderungen vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur verfassungsrechtlichen Rekonstruktion nach dem Zweiten Weltkrieg in deutscher Sprache" (1). Mit der Benennung dieser Zäsuren werden gleichzeitig inhaltliche Abgrenzungen und Schwerpunktsetzungen begründet. Mit Hilfe der aufgenommenen Dokumente soll die Entwicklung des modernen Verfassungsstaats während etwa zwei Jahrhunderten nachgezeichnet werden: dessen Aufstieg seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, sein Fall in den Wirren der Zwischenkriegszeit sowie seine Neukonstituierung nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Dadurch möchte die Sammlung "Verfassungsvergleichung sowohl aus intertemporaler als auch aus transnationaler Perspektive", nationale Entwicklungen und zeitliche Querschnitte ermöglichen (2). Als besonderes Verdienst muss die Aufnahme sämtlicher Verfassungsänderungen gewürdigt werden, wodurch der Forschung ein bislang nicht verfügbares Arbeitsinstrument zur Verfügung steht, das insbesondere auch dem internationalen Vergleich zugute kommen dürfte.

Als Auswahlkriterium haben sich die Herausgeber für "tatsächlich in Kraft getretene Vollverfassungen [...] einschließlich sie vorbereitender staatenbündischer Verträge wie die Deutsche Bundesakte" (1) entschieden; darüber hinaus hat man - wie bereits erwähnt - gleichfalls gesamteuropäisch besonders wirksam gewordene, verfassungsrechtliche Dokumente Großbritanniens sowie der - nichteuropäischen - Vereinigten Staaten aufgenommen. Andererseits bleiben die sozialistischen Räteverfassungen unberücksichtigt, weil diesen Konstitutionen ein "anderes Legitimationskonzept zugrunde" liege (1). Neben Zwergstaaten, wie Andorra, blieben auch die Verfassungen derjenigen Staaten unberücksichtigt, die heute in größere Staatengebilde eingegliedert sind, wie etwa die der Staaten des Deutschen Bundes oder Kongresspolens; auf der einen Seite wurde die Verfassung der Helvetischen Republik 1798 einbezogen, die der Batavischen allerdings nicht - Auswahlkriterien, die den Historiker nicht ganz befriedigen können. Wenngleich die Notwendigkeit, ein bestimmtes Seitenvolumen einzuhalten, gut nachvollziehbar ist, hätte man sich hier - wie auch an anderen Stellen - eine stärkere Berücksichtigung inhaltlich-wirkungsgeschichtlicher Kriterien gewünscht. Gleiches gilt für das zweite wichtige, allerdings ebenfalls nicht unproblematische Auswahlkriterium, nämlich die weitestgehende Beschränkung auf formelles Verfassungsrecht. Ob so wichtige Vorgaben, wie etwa die Regelung des Wahlrechts, Berücksichtigung fanden, hängt demnach vom puren Zufall ab. Die Begründung der wenigen Ausnahmen vermag nicht immer ganz zu überzeugen (zumal sich diese auf die "wichtigen" "großen" Staaten konzentrieren). Auch viele Dokumente, die die Aushöhlung liberal-parlamentarischer Systeme in der Zwischenkriegszeit illustrieren, bleiben somit ausgeschlossen. Dies erklärt sich teils dadurch, dass faschistisch-autoritäre Systeme schon aus ideologischen Gründen die die Legitimation und Basis der Herrschaft modifizierenden Normen häufig nicht mit dem Begriff der "Verfassung" belegten. Diese "Verengung" wird zwar von den Herausgebern problematisiert, eine stärker wirkungsgeschichtliche Gewichtung bei der Dokumentenauswahl wäre zumindest einen Versuch wert gewesen.

Der Edition voran stellen die Herausgeber auf etwa 60 Seiten "Grundlinien der europäischen Verfassungsentwicklung", die aber ausdrücklich nicht den Anspruch erheben, "die Grundlegung einer europäischen Verfassungsgeschichte" (9) sein zu wollen. Ein chronologisches Verzeichnis der abgedruckten Texte sowie eine Bibliografie schließt sich an. Die einzelnen Dokumente sind nach Ländern geordnet gruppiert; die Abfolge der einzelnen Staaten spiegelt jeweils chronologisch den Eintritt in die konstitutionelle Entwicklung wider. Jedem Länderartikel werden in fünf verschiedenen Rubriken nützliche Hinweise und Belege beigegeben. Die Bemerkungen zur "Textauswahl" liefern einige grundlegende Daten zur Verfassungsentwicklung, die allerdings - was ihren Informationsgehalt angeht - recht unterschiedlich ausfallen und sich häufig mehr auf formelle als auf materiell-inhaltliche Aspekte konzentrieren. Es folgen eine "Übersicht der abgedruckten Texte" sowie "Quellennachweise der übersetzten Texte", denen sich eine sehr nützliche "Dokumentation der Verfassungsentwicklung insgesamt nach den Originalquellen" anschließt. Gleichfalls sehr hilfreich ist die sich anschließende Auswahl bibliografischer Nachweise weiterer Quellentexte.

Es ist einer der großen Vorteile dieser Edition, dass alle Texte in deutscher Sprache vorgelegt werden. Für die Originaltexte - zumindest für die Jahre nach 1850 - steht größtenteils die von Horst Dippel besorgte Microfiche-Ausgabe zur Verfügung. Eine ganze Reihe von Verfassungstexten wurde erstmals für diese Edition neu übersetzt; dies gilt ganz besonders für die zahlreichen dokumentierten Änderungen. Trotz allem einige kritische Anmerkungen: Für die nicht neu übersetzten Texte wurden zeitnahe deutsche Übersetzungen verwendet. Deren Qualität ist naturgemäß sehr unterschiedlich; vor allem die den Publikationen von K. H. L. Pölitz entnommenen Texte für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind nicht selten mit groben Fehlern behaftet, die eine - oft notgedrungen flüchtige - Revision nicht vollständig beseitigen konnte. Zudem sind Veränderungen nicht immer kenntlich gemacht worden, so bei der "Verbesserung" der portugiesischen Verfassung von 1822 (1155-1189). Ob man sich dann bei der Neuübersetzung von Dokumenten an der Terminologie von Pölitz orientieren sollte und auch noch die Rechtschreibung dem Gebrauch des frühen 19. Jahrhunderts nachempfinden sollte (z. B. bei der spanischen Verfassung von 1845), mag der Beurteilung des Lesers überlassen bleiben (vgl. 486).

Titel und Anlage des Bandes machen deutlich: eine "europäische" Verfassungsgeschichte hat - nicht nur wegen der englischen Besonderheiten - eine Reihe von Dimensionen zu bedenken. Und zu diesen gehört eben auch die von der jüngeren Geschichtsschreibung zur atlantischen Geschichte hervorgehobene Tatsache, dass sich die Wirkungen von Verfassungen, die in Europa konzipiert wurden, eben keineswegs auf die "Alte Welt" beschränkten. Vielmehr wurden ab 1808 auch Spanischamerika und Brasilien von den europäischen Entwicklungen erfasst, wie ein Blick auf die Wirkungsgeschichte von Cádiz jenseits des Atlantiks deutlich macht. So werden nicht nur deutschsprachige Leser auf diesen Band zurückgreifen, die sich vornehmlich mit europäischen Entwicklungen beschäftigen. Der Band stellt auch einen wichtigen Beitrag zur in jüngster Zeit unter dem Signum "Atlantische Geschichte" firmierenden Historiografie dar.

Peer Schmidt