Rezension über:

Martin Schlemmer: "Los von Berlin". Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg (= Rheinisches Archiv; 152), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 863 S., ISBN 978-3-412-11106-9, EUR 74,90
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Rezension von:
Michael Kißener
Mainz
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kißener: Rezension von: Martin Schlemmer: "Los von Berlin". Die Rheinstaatbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 1 [15.01.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/01/13156.html


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Martin Schlemmer: "Los von Berlin"

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Über lange Zeit hinweg, nicht selten sogar mit deutlichen Ausläufern bis in unsere Gegenwart, ist über die "separatistischen" Bestrebungen an der Westgrenze des Reiches nach dem Ersten Weltkrieg ein scharfes historisches Verdikt gefällt worden. Eine kleine, gewaltbereite Gruppe von Absteigern und Kriminellen habe, so urteilten - cum grano salis - viele Zeitgenossen und später auch Historiker, um zweifelhafter Vergünstigungen bei der französischen Besatzungsmacht willen, Hoch- und Landesverrat begehen wollen und das Grenzgebiet an den "Erzfeind" im Westen auszuliefern gesucht. Selbst auf Politiker wie Konrad Adenauer, die auch nur zeitweilig Kontakt mit diesen Kreisen hatten, fiel immer wieder der Schatten eines Verdachts, in diese zwielichtigen Vorgänge verwickelt zu sein.

An diesem Bild ist in den vergangenen Jahrzehnten durch eingehende biografische und regionale Studien schon manch eine Korrektur vorgenommen worden, doch stand eine umfassende Untersuchung zu dem schwierigen Themenkomplex aus. Diese hat nun Martin Schlemmer mit einer 863 Druckseiten starken Doktorarbeit vorgelegt und damit ein Werk geschaffen, das wegen seiner umfassenden Quellenbasis, seiner beeindruckenden Detailfülle und seiner präzisen und differenzierenden Argumentation über lange Zeit die entscheidende Referenzstudie zum Thema sein dürfte.

Lege artis problematisiert Schlemmer zunächst den Begriff "Separatismus" und weist die inhaltliche Breite der fälschlicherweise unter diesem Begriff subsumierten historischen Erscheinungen nach. Diese "Rheinstaatsbestrebungen", so der von Schlemmer für das historische Phänomen bevorzugte Begriff, traten schon vor 1918 ansatzweise auf und waren nicht, wie oft fälschlich behauptet, von außen in das Rheinland hineingetragen worden. Sie entfalteten nicht unerhebliche politische Wirkungen vor allem in den Kulminationsphasen 1918/19 und 1923/24, weil starke Bevölkerungsteile im Rheinland sich auf diese Weise gegen sozialistische Umsturzversuche wehren wollten, die man aus dem ohnehin ungeliebten Preußen kommen sah. Zum anderen spielte die Ablehnung der evangelischen preußischen Verwaltungselite im überwiegend katholischen Rheinland eine erhebliche Rolle.

Zur Analyse des historischen Phänomens nutzt Schlemmer sozialgeschichtliche wie mentalitätsgeschichtliche Ansätze. Im ersten großen Abschnitt wird eine chronologisch angelegte Darstellung der Rheinstaatsbestrebungen praktisch über die gesamte Zeit der Weimarer Republik geboten. Hier treten die verschiedenen Richtungen deutlich hervor. Zumeist verfolgten sie, so Schlemmer, ähnlich wie der wohl bekannteste Protagonist dieser Aktion, Adam Dorten, keine Loslösung vom Reich, schon gar nicht eine Angliederung an Frankreich, sondern vielmehr die Einbindung eines selbständigen Rheinlands in eine föderalistische Struktur des Reichs. Sie stellten damit, wenn man so will, einen Beitrag zur Reichsreformdiskussion dar. Abzusetzen davon sind freilich die Ambitionen des tatsächlichen Separatistenführers Joseph Smeets (USPD) oder eines Josef Friedrich Mattes. Die politischen Gegner machten solche Unterscheidungen nicht und diffamierten alle gleichermaßen als "Separatisten". Das fiel nicht schwer, weil letztlich alle auf das Wohlwollen der französischen Besatzungsmacht angewiesen waren, die jedoch zu wenig Unterstützung leistete, um der Sache zum Durchbruch zu verhelfen. Vor diesem Hintergrund waren die Erfolgsaussichten der Bewegung von Anfang an beschränkt. Einen Nachklang zu den bekannten Ereignissen stellten die politischen Ideen des Professors für Sozialpolitik Benedikt Schmittmann und seines "Reichs- und Heimatbundes deutscher Katholiken" dar. Sie propagierten den Föderalismus, die europäische Völkerverständigung und die abendländisch-katholische Reichsidee. Auch Schmittmann war letztlich kein Erfolg beschieden: Er büßte sein ebenso als "Separatismus" diffamiertes politisches Engagement am Ende im Konzentrationslager Sachsenhausen, wo er, von Wachmannschaften misshandelt, 1939 starb.

Schlemmers zusammenfassender Überblick greift viele bekannte Zusammenhänge auf, ordnet sie aber neu ein und formuliert eine stringente Neubewertung der Rheinstaatsbestrebungen. Parallele Erscheinungen in der Pfalz etwa, die seine Sicht weiter untermauern würden (Hanns Haberer, Landauer Notablenversammlung), rücken allerdings kaum ins Blickfeld.

Neue Wege in der Separatismusforschung betritt sodann der zweite Hauptteil der Arbeit. Unter dem Begriff der "Sozialen Stratifikation" werden dort die sozialen Grundlagen der Rheinstaatsbestrebungen behandelt. Schlemmer untersucht die Rolle von Katholiken und Protestanten sowie deren Organisationen in den Rheinstaatsbewegungen, er eruiert die Beteiligung von Winzern und Bauern, von Beamten und Arbeitern und vieler weiterer sozialer und politischer Gruppierungen. Hier wird z. B. deutlich, wie bemerkenswert klar sich die meisten katholischen Bischöfe im Rheinland von den Rheinstaatsbestrebungen abgewandt und streng nationale Positionen vertreten haben. Demgegenüber war die Beteiligung des niederen katholischen Klerus geradezu zentral, stellten katholische Ortspfarreien nicht selten aktive Unterstützungszentren etwa für Dortens Anstrengungen dar. Durch die Einbeziehung bislang unbekannter oder ungenutzter lokaler Quellen wie etwa dem Tagebuch des Andernacher Lehrers und Stadtarchivars Stephan Weidenbach oder aber der "Dorten Collection" in den Hoover Institution Archives, Stanford University, gelingt es, eine sehr anschauliche Vorstellung von der Breite und Energie der Rheinstaatsbestrebungen zu vermitteln.

Der dritte Hauptteil der Arbeit versucht schließlich "Mentalitäten und Motive" der Rheinstaatsbewegung zu erfassen. Frankophile Haltungen und Traditionen werden dabei als bemerkenswert unerheblich für das Geschehen identifiziert. Vielmehr sieht der Autor in antipreußischen Affekten, die geradezu eine "conditio sine qua non" der ganzen Bewegung waren, in dem Wunsch nach Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechtes und in der krisenhaften Zuspitzung der Lage Anfang der 1920er-Jahre die wesentlichsten Antriebe für das Geschehen. Dabei differenziert Schlemmer auch hier wieder regional und vergleicht sorgsam die Motivlagen, so dass schließlich ein hoch differenziertes, aber nach wie vor anschauliches Bild der Lage entsteht.

Am Ende steht die klare Erkenntnis, dass die Rheinstaatsbefürworter nicht als "willfährige Marionetten Frankreichs" anzusehen sind (736), dass viele historische Urteile (vor allem in den Arbeiten Henning Köhlers) der Revision bedürfen. Den Rheinstaatsbestrebungen wohnte wohl vielmehr eine politische Kraft inne, die bei einem Erfolg die Geschichte der Weimarer Republik in eine andere Richtung hätte lenken können.

Schlemmers Arbeit ist mit 741 Textseiten alles andere als leicht zu "konsumieren". Die umfänglichen Fußnoten können nur dem sehr interessierten Wissenschaftler, der die Belege für die vielen angeführten Details neugierig sichtet, Freude bereiten. Auch scheint oftmals viel zu viel in die Fußnoten "gepackt", so dass manche Seiten "Bleiwüsten" ähneln. Und doch ist die Lektüre des Buches ebenso erhellend wie spannend, hilft der angenehme Schreibstil dem Leser durch das Werk. Deshalb ist der Arbeit weite Verbreitung zu wünschen.

Michael Kißener