Rezension über:

Hannes Heer / Walter Manoschek / Alexander Pollak / Ruth Wodak (eds.): The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht's War of Annihilation, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, XVI + 328 S., ISBN 978-0-230-01323-0
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Rezension von:
Dirk Rupnow
Institut für die Wissenschaften vom Menschen IWM, Wien
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Rupnow: Rezension von: Hannes Heer / Walter Manoschek / Alexander Pollak / Ruth Wodak (eds.): The Discursive Construction of History. Remembering the Wehrmacht's War of Annihilation, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 4 [15.04.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/04/14151.html


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Hannes Heer / Walter Manoschek / Alexander Pollak / Ruth Wodak (eds.): The Discursive Construction of History

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Die Geschichte ist mittlerweile gut bekannt: Das Hamburger Institut für Sozialforschung erarbeitete im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Krieg und Gewalt im 20. Jahrhundert eine Ausstellung über den "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", die bei ihrer Präsentation im Jahr 1995 einige für die Nachkriegsgesellschaften der Täter durchaus zentrale Geschichtsbilder ins Wanken brachte. Es wurden nicht nur die Massenverbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung am Kriegsschauplatz im Osten in den Blick gerückt, von Demütigungen über Pogromen bis zu Massenerschießungen, sondern auch die nach 1945 konstruierte säuberliche Trennung zwischen Wehrmacht auf der einen und NS-Organisationen und antisemitisch-rassistischer Vernichtungspolitik auf der anderen Seite in Frage gestellt. Plötzlich gab es nicht mehr nur Auschwitz mit seinen Gaskammern, die keinen Einblick gewähren und den Mördern das Handwerk des Tötens leicht machten, sondern auch die "killing fields" im Osten, auf denen konventionell, doch mit System gemordet - und dabei erstaunlich viel fotografiert wurde. Die von den Wehrmachtssoldaten selbst und im allgemeinen wohl in Übereinstimmung mit den abgebildeten Vorgängen "geschossenen" Aufnahmen wurden gegen sie gewendet, in ein Instrument der Anklage und Aufklärung verwandelt.

Da die Wehrmacht mit etwa 18 Millionen Angehörigen die bei weitem personenstärkste Organisation innerhalb des "Dritten Reichs" war, musste dies einigermaßen folgenreich sein. Die Gruppe der Beteiligten an den nationalsozialistischen Verbrechen bis hin zum systematischen Völkermord wurde so wesentlich erweitert. Heftige Diskussionen und Kritik blieben dementsprechend nicht aus. Die Debatte wurde in Deutschland bis in Stadtparlamente, Landtage und den Bundestag hinein geführt. Die Gegner der Ausstellung, die das Bild der "sauberen Wehrmacht" grundsätzlich nicht in Frage gestellt wissen wollten, versuchten die These der Ausstellung vor allem mit den in ihr präsentierten Fotografien auszuhebeln. Sie standen im Mittelpunkt der Ausstellung und gaben den Tätern ein Gesicht, das den Ausstellungsbesuchern allzu bekannt vorkommen musste: es waren ihre Männer, Väter und Großväter - und teilweise noch sie selbst. Vor allem diese Fotografien waren es, die, deutsche Soldaten beim täglichen, durchaus archaischen Handwerk des Tötens abbildend, zu einer breiten Rezeption der Ausstellung, zu Schock und Skandal, ja geradezu zu einem "Bildbruch" geführt hatten.

Die Kritik an den Bildern der Wehrmachtsausstellung führte im November 1999 zur Verhängung eines Moratoriums und zur Einrichtung einer Historikerkommission, die die Ausstellung und die in ihr gezeigten Fotografien überprüfen sollte. Doch obwohl die grundlegenden Thesen im kommissionellen Bericht bestätigt und weniger als 20 von über 1.400 Fotos als problematisch identifiziert wurden, kassierte Jan Philipp Reemtsma die Ausstellung und gab bei einem anderen Team von Historikerinnen und Historikern eine Neubearbeitung in Auftrag. Die zweite Wehrmachtsausstellung mit dem Titel "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944" (2001) stellte allerdings eher eine Rücknahme ihrer Vorgängerin aus dem Geiste der Staatsräson dar als ihre Fortsetzung. Die Thesen waren nun auch für ihre Kritiker erträglich.

Ein interdisziplinäres Team um die Wiener Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak (derzeit an der Lancaster University), bestehend aus weiteren Vertretern einer kritischen Diskursanalyse, Historikern und Politologen (darunter auch zwei Mitarbeitern der ersten Wehrmachtsausstellung), hat sich in einem mehrjährigen Forschungsprojekt mit der Konstruktion von Erinnerungen an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht beschäftigt. Im nun erschienenen Band "The Discursive Construction of History" schlagen die Autorinnen und Autoren in elf Kapiteln einen weiten Bogen und liefern so eine dichte Beschreibung: von den Verbrechen der Wehrmacht und der Selbstwahrnehmung der Kriegsgeneration (Walter Manoschek, Hannes Heer) über die Nachkriegskonstruktion einer "sauberen" Wehrmacht und der Stilisierung der Soldaten zu Opfern (Günther Sandner, Manoschek, Alexander Pollak, Sabine Loitfellner) bis hin zu den beiden Wehrmachtsausstellungen und ihrem Widerhall in Deutschland und Österreich (Pollak, Wodak, Heer, Heidemarie Uhl).

Ausgangspunkt ist die Frage, wie Gesellschaften mit traumatischen Erinnerungen umgehen und Bilder der Vergangenheit konstruieren. Die Autorinnen und Autoren umkreisen sie mit quellengesättigten Einzelstudien, die sich wie ein Mosaik zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Dabei beziehen sie ein breites Spektrum von Quellen ein und machen es für die Beantwortung der zentralen Fragestellung fruchtbar: die Feldpostbriefe deutscher Soldaten ebenso wie die Antworten ehemaliger österreichischer Wehrmachtssoldaten vom Anfang der 1980er Jahre aus einer Umfrage über ihre damaligen Werte und Anschauungen oder auch die Interviews von Zeitzeugen nach der Konfrontation mit der ersten Wehrmachtsausstellung in Wien 1995, die von der österreichischen Filmemacherin Ruth Beckermann aufgezeichnet wurden. Neben österreichischen Printmedien, Parlamentsdebatten und der Gesetzgebung werden auch Schulbücher, TV-Dokumentationen und sogar eine Folge der Krimiserie "Tatort" des deutschen Fernsehens analysiert, die sich um eine fiktive Fotoausstellung mit dem Titel "Verbrannte Erde" über Verbrechen der deutschen Wehrmacht dreht. Eine grundlegende Einführung von Heer und Wodak in den theoretischen Rahmen aus Gedächtnis- und Diskurstheorien, eine Darstellung der Vorgänge und Debatten um die erste Wehrmachtsausstellung sowie eine Analyse der zweiten, der Veränderungen und ihrer Rezeption vervollständigen das Bild.

Neben einer Vielzahl von wohl fundierten und interessanten Einsichten zeichnen vor allem zwei Besonderheiten den Band aus. Beide erscheinen nahe liegend, für eine angemessene Auseinandersetzung mit dem Thema sogar unabdingbar, können aber keinesfalls als selbstverständlich in der heutigen Forschung gelten. Zum einen werden die Vorgänge während des Zweiten Weltkriegs und ihre nachträgliche Rezeption und Repräsentation zusammen betrachtet. So entsteht nicht nur ein facettenreiches, sondern vor allem auch ein abgerundetes Bild, denn die Verbrechen sind aus der heutigen Warte ohne die nachfolgenden Wege von Erinnerung und Repräsentation genauso wenig zu verstehen wie die Nachkriegserinnerung ohne eine detaillierte Kenntnis der ihnen vorausgehenden Ereignisse eingeschätzt und beurteilt werden kann. Bedauerlicherweise scheinen gerade im deutschen Sprachraum die Analyse des Holocaust und der an ihn geknüpften Erinnerung und Repräsentation immer weiter auseinanderzudriften, so dass sich zunehmend zwei völlig voneinander getrennte Forschungsbereiche etabliert haben, die kaum miteinander ins Gespräch kommen. Der vorliegende Band steuert erfreulicherweise genau in die entgegengesetzte Richtung und weist den Weg zu einer Engführung der ereignisgeschichtlichen Perspektive mit einer kulturwissenschaftlichen Analyse.

Zum anderen verfolgen Wodak und ihre Mitautorinnen und -autoren implizit weit gefasste und integrative Begriffe von Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, die die Geschichtswissenschaft ebenso einschließen wie den Schulunterricht oder massenmediale Darstellungen. Auf der einen Seite wird die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit häufig immer noch von nicht-wissenschaftlichen Repräsentations- und Rezeptionsformen abgegrenzt. Während die Geschichtswissenschaft fraglos besonderen Regeln gehorcht und spezifische Funktionen erfüllt, so ist sie dennoch Teil der Erinnerungskultur einer Gesellschaft und keineswegs grundsätzlich von ihr unterschieden oder getrennt. Sie ist zwar nicht mit Gedenken zu verwechseln, aber damit noch lange kein Widerpart von Gedächtnis und Erinnerung, sondern vielmehr eine spezifische Form von beidem. Auf der anderen Seite wird der Blick oft auf öffentliche Rituale, Ausstellungen, Museen, Denkmälern und Gedenkstätten - also ein sehr spezifisches Feld absichts- und großteils auch weihevoller Erinnerungskonstruktionen - verengt, während andere Bereiche wie etwa die Populärkultur häufig unbeachtet bleiben, obwohl diese möglicherweise viel nachhaltiger das Bild breiter Bevölkerungsschichten von der Vergangenheit beeinflussen. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird auch deutlich, wie gewinnbringend die interdisziplinäre Zusammenarbeit für dieses Themenfeld ist.

Mit dem Band liegt die Übersetzung einer 2003 im Wiener Czernin-Verlag erschienenen Originalausgabe vor. Er gewährt nun auch einem englischsprachigen Publikum Einblicke in die geschichtspolitischen Debatten und erinnerungskulturellen Entwicklungen rund um die zwei Wehrmachtsausstellungen. Dies ist um so mehr zu begrüßen, als damit auch ein differenzierter Blick auf die Besonderheiten der österreichischen Nachkriegserinnerung präsentiert wird, die allzu häufig hinter der dominierenden deutschen Erinnerungskultur verschwindet oder leichtfertig unter ihr subsumiert wird. Geboten wird nicht nur ein exzellenter Überblick über diesen wichtigen Teil der Geschichte und Nachgeschichte des Holocaust, sondern durch den besonderen Zuschnitt und Aufbau auch ein Vorbild für vergleichbare Studien und Projekte. Der Band wird in Zukunft ein wichtiger Referenzpunkt für deutsch- und englischsprachige Forschungen sein.

Dirk Rupnow