Rezension über:

Christoph Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971) (= Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; Bd. 14), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2007, 896 S., ISBN 978-3-8012-5034-8, EUR 68,00
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Rezension von:
Dierk Hoffmann
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Dierk Hoffmann: Rezension von: Christoph Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/12902.html


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Christoph Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR

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Wissenschaftliche Großunternehmen haben es schwer in der heutigen Zeit. Zum einen brauchen sie einen langen Atem: Erst in diesem Jahr hat beispielsweise das Militärgeschichtliche Forschungsamt das renommierte Projekt "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" nach fast dreißigjähriger Bearbeitung abgeschlossen. Zum anderen wandeln sich aber auch die Forschungstrends und -interessen, sodass manches Vorhaben im Rückblick leicht verstaubt erscheint. Dies gilt angesichts der neuen Moden auch für den fünften Band von Hans-Ulrich Wehlers großer Gesellschaftsgeschichte, der wie ein Dinosaurier aus grauer Vorzeit erscheint. Auch im Bereich der DDR-Geschichte werden neue Perspektiven angemahnt. Europäisierung und transnationale Betrachtungsweisen sind die neuen Zauberformeln. Nur so könne eine "Verinselung" (Thomas Lindenberger / Martin Sabrow) der Fachrichtung verhindert werden. Nun hat der ehemalige Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, Christoph Kleßmann, den ersten Band zur Geschichte der Arbeiter im ersten "Arbeiter-und-Bauern-Staat" auf deutschem Boden vorgelegt, der die bekannte, von Gerhard A. Ritter seit 1984 herausgegebene Reihe fortsetzt. Der vorliegende Band ist alles andere als altbacken und beweist, dass sich die Arbeitergeschichte nicht an ihrem von vielen bereits herbeigeredeten Ende befindet, sondern noch einiges vor sich hat.

Kleßmann hat seine umfangreiche und im Übrigen sehr gut lesbare Untersuchung in sechs große Kapitel unterteilt, die primär der Chronologie folgen und von denen zwei in Teilen schon an anderer Stelle publiziert wurden. [1] In der Einleitung ordnet er den Untersuchungsgegenstand zu Recht in drei "Bezugsfelder" (14) ein: Die deutschen Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung vor 1933, das sowjetische Vorbild sowie das westdeutsche Konkurrenz- und Referenzmodell. Diese Faktoren tauchen in der Darstellung immer wieder auf, ohne dass sie durchgehend systematisch analysiert werden. Darüber hinaus beschäftigt sich Kleßmann eingehend mit der Frage, wie sich die ostdeutsche Arbeiterschaft begrifflich und empirisch fassen lässt, da die SED das Definitionsmonopol besaß und alles daran setzte, die eigene Herrschaftsbasis auch in den Statistiken und Akten festzuschreiben. Auf diese Weise wurden etwa die Angestellten der Arbeiterklasse zugeordnet. Der Klassenbegriff war somit politisch geprägt und unter sozialhistorischen Gesichtspunkten weitgehend unbrauchbar. Letztlich gelangt der Autor zu einer pragmatischen Schlussfolgerung, denn er hält den Begriff "Arbeiterklasse" für unverzichtbar, "weil er zunächst einmal den Gesamtrahmen wiedergibt, in dem jede Darstellung dieses 'Sonderfalls' von Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte steht." (14) In seiner Studie hinterfragt Kleßmann jedoch immer wieder kritisch die offiziöse Definition und kann so widersprüchliche und gegenläufige Entwicklungen im Zuge des Aufbaus einer "sozialistischen Gesellschaft" aufdecken. Im Zentrum der Untersuchung steht die Industriearbeiterschaft. Kleßmann begründet diese vorab getroffene Entscheidung mit zwei nachvollziehbaren Argumenten: Zum einen wurde dieser Teil der DDR-Arbeiterschaft durch die SED-Wirtschaftspolitik "künstlich konserviert" (18) und konnte sich im Vergleich zu westeuropäischen Industrienationen länger halten. Zum anderen bildete diese Gruppe den Kern der politisch-ideologischen Legitimationsstrategien der ostdeutschen Hegemonialpartei. Damit ist allerdings noch eine weitere Vorentscheidung verbunden, da Kleßmann in seiner Studie immer wieder die Betriebszentrierung in der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft hervorhebt, die ein zentrales Kennzeichen der DDR war. So gelingt es ihm, den Forschungsgegenstand in einen breiten Kontext einzubetten und auch Aussagen über das politische System zu treffen. Deutlich wird dies etwa bei der Erörterung der Ursachen und Folgen des Volksaufstandes am 17. Juni 1953.

Das erste Kapitel skizziert nicht nur die sozioökonomische Ausgangslage in der sowjetischen Besatzungszone, sondern beschreibt auch die Entwicklung in den ersten beiden Nachkriegsjahren. Dabei geht Kleßmann ausführlich auf die Zwangsvereinigung von SPD und KPD sowie die beginnende Transformation der Gewerkschaften zu einem Herrschaftsinstrument der SED ein. Weitere Themenfelder sind unter anderem die Betriebsrätebewegung sowie der SMAD-Befehl Nr. 234 vom 9. Oktober 1947, der die Produktivitätssteigerung in den Betrieben zum Ziel hatte. Mit dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges und den innenpolitischen Weichenstellungen des Jahres 1948 setzt das nachfolgende Kapitel ein, in dem der Aufbau des SED-Regimes in Anlehnung an das sowjetische Modell und die Anfangseuphorie des ersten Fünfjahrplanes (1951-1955) eingehend erörtert wird. Dabei untersucht Kleßmann ausgiebig die Entwicklung der Aktivisten- und Brigadebewegung sowie den Umbau des Schulsystems. Insgesamt boten sich dabei Arbeitern ungeahnte Aufstiegsmöglichkeiten, die jedoch einhergingen mit der sozialen Deklassierung anderer Bevölkerungsgruppen. Außerdem verfolgte die SED unnachgiebig nonkonforme Funktionäre und Mitglieder in den eigenen Reihen, indem sie den "Kampf gegen den Sozialdemokratismus" ausrief, an dessen Spitze sich ausgerechnet der ehemalige Vorsitzende des SPD-Zentralausschusses Otto Grotewohl stellte. Kleßmann verdeutlicht die ambivalenten Seiten der gewaltsamen Neuordnung des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems in der frühen DDR. Mit der Verschärfung des "Aufbaus des Sozialismus" und dem beginnenden Wirtschaftswunder im Westen Deutschlands spitzten sich die Problemlagen in der DDR zu und mündeten schließlich in den Aufstand von 1953, der im dritten Kapitel differenziert beschrieben wird. Dieses Ereignis war ein Menetekel für die SED-Führung, deren Herrschaft nur durch das Eingreifen der sowjetischen Truppen gerettet werden konnte. Die dabei gewonnen Erfahrungen von Ulbricht, Pieck und Grotewohl vergleicht Kleßmann zutreffend mit den Befürchtungen der NS-Spitze während des Zweiten Weltkriegs vor einer Wiederholung der Novemberrevolution von 1918, die zum Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands geführt hatte. Der blutig niedergeschlagene Volksaufstand war ein wesentlicher Beweggrund für die Ausweitung und Intensivierung der DDR-Sozialpoltik. Während sich das vierte Kapitel mit der Phase bis zum Mauerbau am 13. August 1961 beschäftigt, stehen im fünften Kapitel die sechziger Jahre im Zentrum der Untersuchung.

Diese chronologische Vorgehensweise wird aufgelockert durch einen Exkurs über den Aufbau von "Stalinstadt", mit dem einzelne sozialpolitische Themenfelder beispielhaft für andere Industrieschwerpunkte angesprochen werden. Dabei geht es nicht nur um die schwierige Allokation der Produktionsmittel für die Errichtung des dortigen Stahlwerkes, sondern auch um Fragen der Wohnverhältnisse und Freizeitkultur. Im letzten Kapitel greift Kleßmann einige Fragen auf, die er unter systematischen Gesichtspunkten eingehender untersucht, um das Bild der keineswegs homogenen DDR-Arbeiterschaft bestimmen zu können. In diesem Zusammenhang befasst er sich beispielsweise mit den Löhnen und Haushaltseinkommen, den Wohnverhältnissen der ostdeutschen Arbeiter sowie den Familien- und Geschlechterbeziehungen. Hinzu kommen interessante Beobachtungen zum Freizeitverhalten der DDR-Arbeiterschaft. Was die Einstellungen der ostdeutschen Arbeiter zur SED-Obrigkeit betrifft, wird eine große Spannbreite sichtbar, die von Loyalität und Anpassung bis hin zu spontanen Arbeitsniederlegungen auch nach dem 17. Juni 1953 reichte. Mithilfe der Informationsberichte des SPD-Ostbüros sowie der MfS-Stimmungsberichte kann Kleßmann das nonkonforme Verhalten von Arbeitern in einzelnen Betrieben gegenüber Parteisekretären und Vertretern der Planbürokratie plastisch herausarbeiten, ohne dass er den Anspruch auf Repräsentativität erhebt. Insbesondere das Schlusskapitel bietet eine Fülle von Anregungen für weitere Studien zur Arbeiterschaft im anderen Teil Deutschlands. Das Werk ist letztlich eine beeindruckende Synthese der bisher geleisteten Forschung und zeigt die nach wie vor bestehenden Desiderata auf. Die Tatsache, dass über die Hälfte der Studie der Frühphase bis 1953 gewidmet ist, hängt mit dem derzeitigen Forschungsstand zusammen, den es in Zukunft weiter zu verbessern gilt.


Anmerkung:

[1] Christoph Kleßmann: Die stilisierte Klasse - Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Entstehungsphase der DDR (1945 bis 1948), in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), 19-71; ders.: Politische Rahmenbedingungen, in: ders. (Hg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 9: DDR 1961-1971. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung, Baden-Baden 2006, 1-76.

Dierk Hoffmann