Rezension über:

Patricia Heberer / Jürgen Matthäus (eds.): Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes, Lincoln: University of Nebraska Press 2008, 360 S., ISBN 978-0-8032-1084-4, USD 29,95
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Rezension von:
Edith Raim
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Edith Raim: Rezension von: Patricia Heberer / Jürgen Matthäus (eds.): Atrocities on Trial. Historical Perspectives on the Politics of Prosecuting War Crimes, Lincoln: University of Nebraska Press 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 9 [15.09.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/09/14859.html


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Patricia Heberer / Jürgen Matthäus (eds.): Atrocities on Trial

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Nicht erst seit Den Haag sind internationale Tribunale und die Aburteilung staatlicher Verbrechen ein zentrales Thema der Rechtshistorie. Der erste Teil dieses Sammelbandes befasst sich mit Grundlagen und Voraussetzungen der Ahndung von NS-Verbrechen durch internationale sowie amerikanische, britische, französische, sowjetische und deutsche Gerichte. Ein Vorspiel waren die von Jürgen Matthäus als misslungener Versuch gewerteten Prozesse vor dem Reichsgericht in Leipzig nach dem Ersten Weltkrieg. Patricia Heberer befasst sich mit dem amerikanischen Hadamar-Prozess, der die Ermordung von polnischen und sowjetischen Fremdarbeitern 1944/1945 betraf. Lisa Yavnai gibt einen Überblick über amerikanische Kriegsverbrecherprozesse.

Ein zweiter Teil dreht sich um den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg und weitere alliierte Verfahren. Jonathan Friedman beschreibt die Schwierigkeiten, welche die Nürnberger Nachfolgeprozesse während des Kalten Krieges hatten, Michael Marrus untersucht den Ärzteprozess, Ulf Schmidt die Ahndung medizinischer Verbrechen in Ravensbrück und Jonathan Friedman die Verbrechen von Sachsenhausen. Thema des dritten Teils: Wie gingen Deutschland und Österreich mit diesem Erbe der NS-Verbrechen um? Jürgen Matthäus skizziert in einer Fallstudie den Koblenzer Prozess gegen den ehemaligen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes von Minsk, Georg Heuser. Rebecca Wittmann übt Kritik an den deutschen NS-Prozessen am Beispiel des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, des Düsseldorfer Majdanek-Prozesses und der Ermittlungen zum Reichssicherheitshauptamt. Patricia Heberers Interesse richtet sich auf Österreichs ambivalente Rolle der Selbststilisierung als "erstes Opfer" der Nazis und den Zusammenbruch einer effektiven Verfolgung von NS-Verbrechern nach 1955. Der vierte Teil schlägt den Bogen in die Gegenwart. Richard J. Golsan schildert vier Fälle (Barbie, Touvier, Bousquet und Papon) französischer Justiz in den 80er und 90er Jahren, Donald Bloxhams Interesse gilt dem Erbe der Nürnberger Prozesse, John K. Roth schließlich analysiert die ethischen Implikationen von Strafen.

So wichtig diese Themen sind, so unerfreulich sind die Schludrigkeiten und eklatanten Fehlinterpretationen, die leider den gesamten Band durchziehen. Heuser war Chef des Landeskriminalamtes von Rheinland-Pfalz, nicht von Nordrhein-Westfalen (Heberer/Matthäus, XXVI), das Zuchthaus ist keineswegs die mildere Strafform des Freiheitsentzugs als das Gefängnis (Matthäus, 22), die übergeordneten Gerichte heißen nicht Oberland- (Friedman, 169), sondern Oberlandesgerichte, die amerikanische Besatzungszone bestand nicht aus Bayern, Baden-Württemberg und Hessen (Friedman, 76), sondern aus Bayern, Württemberg-Baden, Hessen und Bremen. Bei Wittmann (212) sind überhaupt keine Differenzierungen zwischen den einzelnen Zonen erkennbar, obwohl doch hier unterschiedliche Entnazifizierungs- und Ahndungsansätze vorhanden waren. Der Name des Sachsenhausener Lagerkommandanten war Anton, nicht August Kaindl (Friedman, 164), sein Todestag ist keineswegs nur den russischen Behörden bekannt (Friedman, 181), vielmehr kann seine Todesurkunde beim Oranienburger Standesamt abgerufen werden. Der Ravensbrücker Lagerkommandant Fritz Suhren wurde nicht von einem britischen (Schmidt, 144), sondern einem französischen Militärgericht (in Rastatt) zum Tod verurteilt. Die Behauptung ist umso unsinniger, da zum Zeitpunkt des Todesurteils (1950) weder Briten noch Amerikaner Kriegsverbrecherprozesse in Deutschland führten.

Noch problematischer aber ist, dass einigen Autorinnen und Autoren das einfachste Grundlagenwissen abhandenzukommen scheint. Die Verkündung des Kontrollratsgesetzes (KRG) Nr. 10 im Dezember 1945 (Heberer, 37; Friedman, 169) war für die deutsche Justiz der amerikanischen Zone ohne praktische Bedeutung, da die amerikanische Militärregierung beschloss, das KRG 10 nicht von deutschen Gerichten anwenden zu lassen. Vielmehr waren nationalsozialistische Gewaltverbrechen durch die deutsche Justiz bereits im September 1945 in Hessen gemäß Strafgesetzbuch abgeurteilt worden, wie aus der Urteilssammlung "Justiz und NS-Verbrechen" [1] (Bd. I) hervorgeht. Die Behauptung (Friedman, 169), deutsche Gerichte hätten wahlweise sowohl das KRG 10 als auch deutsches Strafrecht anwenden können, ist für die amerikanische Zone schlichtweg falsch. Die Anwendung des KRG 10 durch deutsche Gerichte (in der britischen und französischen Zone) endete nicht 1955 (Friedman, 169), sondern bereits 1951, indem den deutschen Gerichten durch die ehemaligen Besatzungsmächte die Ermächtigung entzogen wurde. Lediglich formal blieb das Gesetz bis zur Souveränität der Bundesrepublik 1955 bestehen. Marrus (106, 111) beklagt, dass die massenhaften Sterilisationen (an deutschen Opfern) nicht Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses waren. Allerdings stand bereits vor Eröffnung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg fest, dass Verbrechen von Deutschen an anderen Deutschen (und Staatenlosen) durch deutsche Gerichte zu ahnden seien. ("Individual offenses of German against German [...] will remain for trial in the German criminal courts as they are re-established." [2]) Es ging also kaum darum, Aufmerksamkeit von den Verbrechen an deutschen Opfern abzulenken (Marrus, 112) - die amerikanische Seite fühlte schlicht und einfach, dass sie keine Jurisdiktion in dieser Sache hatte. Auch deswegen mussten die nicht deutschen Opfer der "Euthanasie" besonders herausgestellt werden (Marrus, 114), legitimierten sie doch die alliierte (in diesem Fall: amerikanische) Einmischung in der Aburteilung der "Euthanasie".

Der Vorwurf (Heberer, 40), im Tübinger Grafeneck-Verfahren sei zwar gegen 27 Personen ermittelt worden, schließlich seien aber nur 8 angeklagt und 3 verurteilt worden, geht an der Sache völlig vorbei, denn das Personal von Grafeneck und Hadamar war in wesentlichen Teilen identisch (nach der Einstellung der Vergasungen in Grafeneck war das Personal nach Hadamar überwiesen worden) und die amerikanische Besatzungsmacht hatte eine Auslieferung dieser Personen für den deutschen Prozess in Tübingen (französische Besatzungszone) ausdrücklich verweigert. Die Tötungsärzte Dr. Ernst Baumhard und Dr. Günther Hennecke waren beide bereits 1943 gefallen, was schwerlich dem Tübinger Gericht angelastet werden kann, Dr. Horst Schumann - aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft unbehelligt entlassen und in der britischen Zone wohnhaft - war damals nicht ermittelbar. Friedmans Behauptung (170), es habe in der Besatzungszeit lediglich einen (Westberliner) Sachsenhausen-Prozess gegeben, ist falsch. [3] Dieser aus der Urteilssammlung "Justiz und NS-Verbrechen" abgeleitete Schluss ist unzulässig, da dort lediglich Urteile mit Todesfolge während der Kriegszeit veröffentlicht werden. Damit entgehen Friedman sämtliche Urteile, die das KZ Sachsenhausen vor 1939 betreffen und alle, die lediglich Körperverletzung oder andere Straftatbestände zum Gegenstand hatten.

Die Aussage Wittmanns (215), westdeutsche Staatsanwälte hätten erst in den frühen 50er Jahren mit der Ermittlung von NS-Verbrechen begonnen, entbehrt jeder Grundlage. Wittmann will in ihrem Beitrag beweisen, dass zwischen 1960 und 1980 die jungen Staatsanwälte von den alten "Nazirichtern" sabotiert worden seien, die - um sich selbst zu schützen - jede Menge Hürden in das Rechtswesen zur Verfolgung von NS-Verbrechen eingebaut hätten, sodass die meisten NS-Täter der Bestrafung entgangen seien. In die Niederungen gemeiner Forschung - etwa die Überprüfung der These anhand von Personalakten der beteiligten Staatsanwälte und Richter auf eventuelle Zugehörigkeit zur NSDAP oder NS-Justizverwaltung oder die Analyse der Strafkammerzusammensetzung aus Berufs- und Laienrichtern - begibt sich die Autorin vorsichtshalber schon gar nicht. Justizexterne Einflussfaktoren wie etwa die unrühmliche Rolle ärztlicher Gutachter, die auch kerngesunde Angeklagte für verhandlungsunfähig erklärten, bleiben ebenso unbeachtet. Der Umstand, dass es selbst bei jüdischen Vorsitzenden Richtern zu milden Urteilen gegen NS-Verbrecher kam [4], gehört ebenfalls nicht in den Gesichtskreis der Autorin. Alles Nazis?

Auch weiß die Autorin nicht, dass Staatsanwälte - im Gegensatz zu den unabhängigen Richtern - weisungsgebunden arbeiten, dass die Justiz in Deutschland Ländersache ist und dass die Gesetze von der Legislative und nicht von der Judikative gemacht werden ("West German jurists - often former Nazi jurists - were loath to institute laws", 215). Ob man sich mit so zweifelhaftem Wissen schon als Expertin für "German legal history" bezeichnen darf, sei dahingestellt.

Niemand bestreitet, wie schwer es vor Gericht war, den Genozid in irgendeiner Weise adäquat darzustellen, geschweige denn seinen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Trotzdem beharrten Rechtsexperten - so etwa der amerikanische Chefankläger in Nürnberg, Telford Taylor - auf der Notwendigkeit der Gerichtsförmigkeit. Diese Aufgabe ist im Wesentlichen den (West-)Deutschen zugefallen, nachdem Briten und Amerikaner ihre eigenen Kriegsverbrecherverfolgung 1948/1949 einstellten (um allerdings in späteren Jahren wieder einschlägige Kommissionen wie etwas das amerikanische Office of Special Investigation einrichten zu müssen). So stimmen zwar viele Verfasser des vorliegenden Bandes das grundsätzlich zwar richtige, aber doch etwas langweilig gewordene Klagelied über das Versagen der deutschen und österreichischen Justiz hinsichtlich der Ahndung von NS-Verbrechen an. "Langweilig" schon deshalb, weil auch Folgendes festgehalten werden muss: In Deutschland ist seit 1945 kein Jahr vergangen, in dem nicht gegen NS-Verbrecher ermittelt wurde. So verhasst zeitweise die "Siegerjustiz" in der Bevölkerung gewesen sein mag, so vehement Politiker sich gegen die "Nazi-Riecherei" (Adenauer) gestemmt haben mögen, so sehr der Kalte Krieg das außenpolitische Klima veränderte - in den späten 40er Jahren drangen Amerikaner und Briten bei den deutschen Justizverwaltungen immer wieder auf die Beendigung der Verfahren! - und so unbeliebt die Ermittlungen bei deutschen Justizbehörden gewesen sein mögen: Sie bilden von 1945 bis heute eine Konstante der deutschen Nachkriegsgeschichte. Diese Lektion aus dem Nürnberger Prozess haben die Deutschen verstanden. Man sollte dies als nicht geringen Erfolg werten.


Anmerkungen:

[1] Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, hg. von C. F. Rüter, Amsterdam 1968 ff. Gegenwärtig liegen 38 Bde. vor.

[2] Memorandum for the Theater Judge Advocate, erstellt von Colonel Charles Fairman, Chief, International Law Section, 16.10.1945, OMGUS 17/53-1/5.

[3] Zu Sachsenhausen vgl. etwa Aurich 2 Ks 6/49, Staatsarchiv Aurich, Rep. 109 E 112/1-12.

[4] Siehe etwa Mannheim 1 KMs 1/47, abgedruckt bei "Justiz und NS-Verbrechen", Bd. II, unter Vorsitz von Dr. Max Silberstein, einem 1933 "aus rassischen Gründen" entlassenen und in der Nachkriegszeit reaktivierten Richter.

Edith Raim