Rezension über:

Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriela Signori (Hgg.): Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne (= Beiträge zur Hagiographie; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 405 S., ISBN 978-3-515-08904-3, EUR 57,00
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Rezension von:
Otfried Krafft
Institut für Mittelalterliche Geschichte, Philipps-Universität, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Otfried Krafft: Rezension von: Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriela Signori (Hgg.): Patriotische Heilige. Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/10/12197.html


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Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriela Signori (Hgg.): Patriotische Heilige

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Wenn hagiographische Quellen das Vaterland der Heiligen erwähnen, ist meist der Himmel gemeint. Der Konnex der Wundertätigkeit mit den Reliquien schuf aber auch auf Erden lokale Nähe zu den Heiligen, die in ein spezielles Verhältnis zu Dynastien, Ländern, Städten oder Personengruppen münden konnte. Dies versuchen die 16 Einzelbeiträge des vorliegenden Bandes zu beleuchten, welcher die "Beiträge zur Hagiographie" mit den Ergebnissen einer Tagung fortsetzt, die 2004 in Weingarten veranstaltet wurde. Die Aufsätze verteilen sich auf die Rubriken "Länder und Regionen", "Städte" sowie "Rückgriffe und Neubestimmungen", wobei früh- und hochmittelalterliche Beispiele eher im ersten Block vorkommen, während deutsche Belange vom Spätmittelalter bis zum 19. Jahrhundert gehäuft bei den letztgenannten erscheinen. Anders als die systematische Erfassung der politischen Heiligenverehrung in Europa, die 1994 für das Hochmittelalter angestrebt wurde [1], handelt es sich nun meist um Studien zu einzelnen Regionen oder speziellen Heiligen. Der besprochene Band besitzt einen Index, der leider die Fußnoten nicht berücksichtigt.

Der teils als Einleitung zu lesende Beitrag von Gabriela Signori belässt den "patriotischen Heiligen" mit Recht ein nachgestelltes Fragezeichen. Ihr Abriss der mittelalterlichen Patria-Terminologie wird durch Beispiele aus Breisach und Straßburg ergänzt, welche die Neuschöpfung traditioneller Stadtpatrone illustrieren, die bereits vom patriotischen Humanismus getragen war. Christoph Dartmann stellt sich dem nicht eindeutig besetzten Begriff der kollektiven Identität und referiert den Stand der jüngeren italienischen Forschung zu Stadtpatronen, bevor er sich konkreten Fällen zuwendet. In Mailand konnte identitätsstiftende Hagiographie im 11. Jahrhundert mit Ambrosius einen unbestrittenen Patron ins Zentrum rücken, in Florenz hingegen war ein Versuch, Zenobius als Stadtpatron zu profilieren, weniger ambitioniert, wurde aber eifrig rezipiert. Zwei verehrte Laien aus der Toskana (Fina von S. Gimignano, Johanna von Signa) nimmt Kristin Böse anhand kunsthistorischer Zeugnisse in den Blick, welche nicht nur legitimierende Funktion für die beiden kirchlich nicht als solche anerkannten Heiligen besaßen, sondern sie auch in enge Verbindung zu den Heimatgemeinden stellten. Mit Felix und Regula in Zürich schildert Thomas Maissen einen Fall, in dem die Reformation den Umgang mit den Heiligen veränderte, obgleich die Stadt ihre Patrone bis zur Aufklärung als Repräsentationsfiguren beibehielt und gegen katholische Kritik verteidigte. Felicitas Schmieder und Matthias Kloft widmen sich eingehend der Heiligentopographie Frankfurts am Main seit dem Frühmittelalter, die entsprechend den zahlreichen sich dort überschneidenden Interessen vielgestaltig war und für diese Stadt den patriotischen Einzelpatron verhindert haben mag.

Uta Kleine betrachtet im seltener berücksichtigten ländlichen Raum die Verehrung rheinischer Heiliger (Heribert, Anno, Matthias), wobei sie die Verdichtung bestimmter Patrozinien weniger in als neben die Herrschafts- und Einkommensbeziehungen stellt. Für das Hochmittelalter ergibt sich, dass hier eher von Patronen als von patriotischen Heiligen die Rede sein sollte. Hagiographen des 15. Jahrhunderts wurden im benachbarten Brabant im Kontext eines entstehenden Landesbewusstseins tätig und übersprangen dabei die Ebene eines spezialisierten Patrons, wie Véronique Souche-Hazebrouck herausarbeitet. Gerade Johannes Gielemans, für den die Arbeiten der Bollandisten leider unerwähnt bleiben [2], widmete sich den Heiligen Brabants als einer Gruppe, die ein genealogisches Netz untereinander und mit dem Land verband.

Den Heiligen bei den Hussiten widmet sich Achim Th. Hack, insbesondere bezogen auf Jan Hus, nach dessen Feuertod sich in Böhmen trotz fehlender Reliquien eine Art liturgische Verehrung entwickelte. Zweifel meldet er am Kult des Feldherrn Jan Žižka an, während eine Schar hussitischer und zugleich tschechischer Blutzeugen tatsächlich verehrt wurde, was sie in dieser Verbindung als patriotische Heilige qualifizierte.

Heilige Könige erscheinen hier mit nur einem Vertreter, nämlich Stephan von Ungarn, behandelt von Gabor Tüskés und Éva Knapp: Seine Rolle bei der späten Christianisierung der Ungarn begründete eine zunächst nicht exklusive Stellung unter den Patronen des Landes, bis er sich in der Neuzeit unter äußerem Druck als Nationalheiliger etablierte.

Cordula Scholz schildert mit Demetrios einen Märtyrer der römischen Christenverfolgungen, der seinem Leidensort Thessalonike verbunden blieb. Die Abgrenzung gegenüber Konstantinopel und sein Eingreifen für die bedrängte Heimatstadt führten schon Ende des 7. Jahrhunderts zur Aufwertung des Heiligen, dessen Verehrung allen Brüchen der byzantinischen Geschichte standhielt; selbst als nach 1204 Reliquien in den Westen gelangten und nach der osmanischen Eroberung 1430. Die ägyptische Hagiographie, die in Abgrenzung zur byzantinischen und zum Islam entstand, wird von Heike Behlmer systematisch mit Blick auf das Leitthema untersucht. Dabei kam es zu zahlreichen, teils überraschenden Adaptionen, welche später durch die moderne Nationalbewegung, aber auch von amerikanischen Vertretern des Afrozentrismus fortgesetzt wurden.

Klaus Herbers untersucht iberische Beispiele unter den Bedingungen des arabischen Vordringens. Nach den Hinrichtungen mozarabischer Mohammedkritiker Mitte des 9. Jahrhunderts in Córdoba wurde ihr Martyrium auch unter Christen kontrovers gesehen, war die Strafe doch provoziert und nicht durch Heiden verhängt. Ihre Verehrung ist aber im christlichen Norden Spaniens und dann im Frankenreich zu beobachten, was ähnlich für Pelagius gilt, das angebliche Opfer eines pädophilen Kalifen. Bei den Christen unter islamischer Herrschaft und auch außerhalb davon wurden diese Heiligen aber nicht gemeinschaftstiftend wirksam.

Den Begriff des Patriotismus macht Klaus Schreiner zum Ausgangspunkt seiner eingehenden, auch Ausdrucksformen des Kultes berücksichtigenden Betrachtungen zu Maria, einer universellen Figur, die dennoch als Spezialpatronin fungierte. Nach frühen Ansätzen wiederum in Byzanz und hochmittelalterlichen Adaptionen in Siena kam dies im frühmodernen Europa häufiger vor. Praktisch als Fallbeispiel hierzu behandelt Silke Hensel die Virgen de Guadalupe in Mexiko, die von einer Heiligen der spanischen Eroberer zunächst zur Patronin der Kreolen avancierte, bevor ihr Erfolg seit dem 18. Jahrhundert merklich wuchs und sie nach der Unabhängigkeit zur Landesheiligen wurde. Im 19. Jahrhundert trat Patriotismus bei der Heiligenverehrung auch in Deutschland unverhüllt auf. Neben der durch den protestantischen Großherzog geförderten, territorial verwurzelten Verehrung Bernhards von Baden (Christine Schmitt) ist Bonifatius zu nennen, der primär als deutsche Gründerfigur seine Wiederentdeckung erlebte. Ihre Phasen spiegeln sich in den von 1820 bis 1903 entstandenen Oratorien, die Linda Maria Koldau untersucht.

Insgesamt wird der irdische, keineswegs zwingend vorhandene Patriotismus der Heiligen in seinen Facetten und seiner auffällig unterschiedlichen Intensität beleuchtet, während das Problem der Konstruktion von Identitäten nicht überall verfolgt wird. Die Einbeziehung von Randbereichen und -zeiten hat ihren Reiz darin, dass sich Vorläufer moderner Erscheinungen greifen lassen; zudem summieren sich die Eindrücke einer Vorreiterrolle von Byzanz. Vollständig kann dieses Bild nicht sein, allein schon da die Zahl der möglichen Vergleichsbeispiele gewaltig ist. Von den wichtigeren wären etwa Frankreich mit Ludwig IX. oder Polen mit Stanislaus zu nennen, dazu das Reich selbst, das nie den Spezialpatron fand. Doch gerade im Hinblick auf die Aspekte städtischer Heiligenverehrung und entsprechend für die Regionen um das Mittelmeer wird der besprochene Band von allen Disziplinen, die sich solchen Fragen widmen, künftig fraglos heranzuziehen sein.


Anmerkungen:

[1] Jürgen Petersohn (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter (Vorträge und Forschungen, 42), Sigmaringen 1994.

[2] De codicibus hagiographicis Iohannis Gielemans canonici regularis in Rubea Valle prope Bruxellas, in: Analecta Bollandiana 14 (1895), 5-88; ergänzte Fassung als: Subsidia Hagiographica 3, Bruxelles 1895.

Otfried Krafft