Rezension über:

Ulrike Jureit: Generationenforschung (= Grundkurs Neue Geschichte), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 144 S., ISBN 978-3-8252-2856-9, EUR 12,90
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Rezension von:
Till Manning
DFG-Graduiertenkolleg "Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert", Georg-August-Universität, Göttingen
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Till Manning: Rezension von: Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 10 [15.10.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/10/12380.html


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Generationenforschung

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In jüngster Zeit tobt in den wissenschaftlichen und feuilletonistischen Debatten ein "Generationen"-Kampf. Es ist der Streit um ein Wort und seine Bedeutung, um begriffliche Deutungshoheit, und um die Frage: Was ist eine Generation? Erfreulich unprätentiös erscheit da die Antwort, die Ulrike Jureit in ihrem Band "Generationenforschung" parat hat: "Generation ist ein zeitlicher Ordnungsbegriff." (7). Jureit belässt es aber keinesfalls bei dieser neutralen Feststellung, sondern gibt einen umfassenden, kritischen Überblick über die interdisziplinäre Generationenforschung der vergangenen 80 Jahre.

Bereits in der Einleitung zeigt Jureit die beiden wesentlichen Perspektiven im Umgang mit dem Begriff auf. Generation sei zum einen eine Kategorie zur Selbstverortung im historischen Geschehen, zum anderen Analysewerkzeug zur Deutung desselben. Gleichzeitig weist sie auf die doppelte Anwendbarkeit des Begriffs hin, der sich synchron auf die "gefühlte Verbundenheit" (7) von in ähnlicher Weise sozialisierter Alterskohorten beziehe, aber auch die diachrone, familiale Perspektive umfassen könne. Zwar stellt Jureit angesichts der vielen konzeptuellen Ansätze zutreffend fest, dass es hier keinen Königsweg gebe. Jedoch führt sie mit "Identität" und "Kollektivität" (11), "Handlung" (12), "Erfahrung" (13) sowie "Verarbeitung" (14) die wesentlichen übergeordneten Grundsätze zur Konstruktion von Generationen auf. Allerdings fehlt in dieser Aufzählung ein Gestaltungsprinzip, dem Jureit selbst unter der Überschrift "Kollektive Verständigung" ein ganzes Kapitel widmet: Kommunikation. Dass Jureit den Ordnungsbegriff Generation als kommunikativen Aushandlungsprozess begreift und ernst nimmt, ist eines ihrer großen Verdienste. Denn sie stimmt nicht in den nörgelnden Chor derer mit ein, die die jüngsten generationellen Etikettierungen wie "Generation Golf" und "Generation Reform" als "literarische Kunstprodukte" [1] diskreditieren und ihnen die soziale Relevanz absprechen.

Im ersten von drei Kapiteln stellt Jureit mit Karl Mannheims Generationenkonzept den "Klassiker" (20) des modernen generationellen Deutungsmodells vor. [2] Mannheim habe Generation als "Unterbrechungskategorie" (23) interpretiert, die gesellschaftlichen Wandel durch kollektives Handeln einer bürgerlich-elitären, heroischen Gruppe erklären solle. Jureit zeichnet gut nachvollziehbar Mannheims dreigeteiltes Generationenmodell aus Generationslagerung, -zusammenhang und -einheit nach. Dabei betont sie zu Recht, dass hierin kein Automatismus, sondern lediglich eine Potenzialität zur Generationenwerdung zu sehen sei. Jureit kritisiert jedoch den statischen Fokus auf die Jugend als generationeller Prägephase zur identitären Verortung. Dieser könne heute nicht mehr überzeugen, da Identitätskonzepte "lebenslang zu bearbeitende Konstrukte" (27) seien.

Der konzeptuelle Dualismus von Generation als "Selbstthematisierungsformel" (40) sowie als analytisches Periodisierungswerkzeug ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Indem sie die Studien von Ulrich Herbert [3] und Michael Wildt [4] als Beispiele für generationell aufgeladene, politische Selbstermächtigung aufführt, zeigt Jureit auch die Grenzen des Konzepts auf: fragliche Repräsentativität, unterstellte Homogenisierung sowie ausgeblendete Kontingenzerfahrung. Mit Blick auf die Selbstbeschreibung der zwischen 1933 und 1945 Geborenen als "Kriegskinder" (50) fordert Jureit auf, nach den verborgenen Interessen hinter der Generationenzuschreibung zu fragen. Denn schließlich handele es sich bei den Kriegskindern doch um dieselben Geburtsjahrgänge, die sich ehedem als 68er stilisiert hätten. Grundsätzlich warnt Jureit vor oftmals wenig überzeugenden "zirkulären Argumentationen" (56), wenn es um die Einteilung von Geschichte entlang von Generationen geht. Diese verleiteten dazu, einer "gewisse[n] Beliebigkeit" (60) bei der generationellen Grenzziehung zu Gunsten des historiografischen Modells zu verfallen. [5]

Neben dem historisch-soziologischen, horizontalen Generationenverständnis stellt Jureit im zweiten Kapitel zudem den diachronen Zugang der pädagogisch-psychologischen Forschung dar. Der Blick in die intergenerationellen Beziehungsmuster fungiere dabei als "Scharnier" (66) zwischen individueller und gesellschaftlicher Ebene. Synchrone und diachrone Dimension des Generationenbegriffs seien mithin auf engste miteinander verwoben. Unter dem Stichwort der "Transgenerationalität" (70) argumentiert Jureit zu Recht, dass keine von beiden eine analytische Ausschließlichkeit für sich beanspruchen könne, zumal die genealogisch weitergegebene Erfahrung Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der nachfolgenden Generation strukturiere. Dabei spielt der Erfahrungsbegriff nach Reinhart Koselleck [6] eine wichtige Rolle und wird von Jureit weit ausgeführt, denn in dem Ansatz, Generationen als "Erfahrungsgemeinschaften" (13) zu deuten, sieht sie eine vielversprechend Perspektive für weitere Forschungen.

Zuletzt unterzieht Jureit im dritten Kapitel die jüngsten Generationenmodelle, die wie das der "Generation Golf" [7] auf einem gemeinsam imaginierten Lebensstil als Identifikationsangebot beruhen würden, einer eingehenden Analyse. Indem sie diesen Formen des "generation building" (87) vorurteilsfrei begegnet, liegt sie ganz auf der Linie der aktuellen Forschung, die nicht danach fragt, "ob es so etwas wie Generation und Generationen gibt [...], sondern in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird." [8]. Dabei verweist Jureit auf das Konzept des "Generationenobjekts" [9], das sie als emotionales Vergemeinschaftungssymbol deutet: Generationen werden damit zu "gefühlte[n] Gemeinschaften" [10]. Jureit öffnet den Generationenbegriff so für ästhetische Stilelemente, ohne allerdings Stil als weiteres Konstruktionsprinzip von Generation stärker herauszuarbeiten.

Auch die Debatte um die Krise des Wohlfahrtsstaats bezieht Jureit in ihre Analyse ein und kann daran überzeugend eine strategische Verwendung der generationellen Rhetorik aufzeigen: So verdecke die Rede von "Generationenvertrag" und "Generationengerechtigkeit" (111), dass es dabei allein um soziale Verteilungskämpfe und nicht um Vergemeinschaftung gehe.

Jureit charakterisiert den Generationenbegriff als eine Kollektivbeschreibung "mittlerer Reichweite" (124), der lebensnah auch für die neuerlichen Erfahrungsgemeinschaften und Lebensstilkollektive Identifikationspotenzial biete und Distinktionsbedürfnissen Rechnung trage. Damit kann sie angemessen auf die aktuelle Begriffskonjunktur reagieren und regt zu weiteren Forschungsfragen an, von denen hier einige genannt seien: Wenn Erfahrungen konstitutiv für Generationenkonstruktionen sind, lassen sich dann kollektive Erfahrungsmuster, die nicht im öffentlichen Raum thematisiert werden, als Basis sogenannter "silent generations" [11] interpretieren? Welche Bedeutung kommt einer gemeinsam geteilten Erlebnismatrix zu, die nicht verbalisiert, sondern allein praktiziert wird? Lässt sich Generation als Analysekategorie so weit abstrahieren, dass wir von Stilgenerationen sprechen können, die eine situative generationelle Zuordnung ermöglichen?

Ulrike Jureit hat einen hervorragenden Wegweiser für das unübersichtliche Feld der Generationenforschung geliefert. Mit der sinnvoll strukturierten und kommentierten Bibliografie und dem im Internet verfügbaren Lehrmaterial [12] wird sie dem Anspruch auf Übersichtlichkeit der Reihe "Grundkurs Neue Geschichte" mehr als gerecht. Gleichzeitig ist es ihr gelungen, ein weiteres Nachdenken über Generationen anzuregen.


Anmerkungen:

[1] Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Fünfter Band: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008, 191.

[2] Karl Mannheim: Das Problem der Generation (1928), in: Karl Mannheim (Hg.): Wissenssoziologie, hrsg. von Kurt H Wolff, Berlin/Neuwied 1964, 509-565.

[3] Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1996.

[4] Michael Wildt: Generation des Unbedingten. das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.

[5] Beispielhaft das Vier-Generationen-Modell bei Detlev J.K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987.

[6] Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2003, 34-41.

[7] Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion, München 2000.

[8] Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008, 20.

[9] Christopher Bollas: Genese der Persönlichkeit. Psychoanalyse und Selbsterfahrung, Stuttgart 2000, 235-242.

[10] Habbo Knoch: Gefühlte Gemeinschaften. Bild und Generation in der Moderne, in: Ulrike Jureit (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, 295-319.

[11] Bernd Weisbrod: Cultures of Change: Generations in the Politics and Memory of Modern Germany, in: Stephen Lovell (Hg.): Generations in Twentieth-Century Europe, Basingstoke 2007, 19-35, hier: 31.

[12] URL: http://www.grundkurs-neue-geschichte.de

Till Manning