Rezension über:

Gerald Schwedler: Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen - Rituale - Wirkungen (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 21), Ostfildern: Thorbecke 2007, 568 S., ISBN 978-3-7995-4272-2, EUR 79,00
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Rezension von:
Michail A. Bojcov
Historische Fakultät der Lomonossov-Universität (MGU), Moskau
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Michail A. Bojcov: Rezension von: Gerald Schwedler: Herrschertreffen des Spätmittelalters. Formen - Rituale - Wirkungen, Ostfildern: Thorbecke 2007, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 [15.01.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/01/14112.html


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Gerald Schwedler: Herrschertreffen des Spätmittelalters

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Die 568 Seiten dicke Heidelberger Dissertation von Gerald Schwedler ist nicht der erste Versuch, Zusammenkünfte mittelalterlicher Herrscher in der Geschichtsforschung zu problematisieren. Sie kann aber gewiss als die anspruchsvollste von allen bisher unternommenen Studien betrachtet werden. Das äußert sich schon in der großzügigen Abgrenzung des Forschungsfelds, denn das "Repertorium der Herrschertreffen im Spätmittelalter" (415-466) erschließt für die Zeit zwischen 1270 und 1440 mehr als 200 (!) Einträge, die allerdings nicht nur die tatsächlich stattgefundenen, sondern auch die nur geplanten Herrschertreffen aufzählen. Der Verfasser hält zwar dieses Verzeichnis nicht für vollständig, gibt aber zugleich zu, dass die Fülle seines Materials "schnell unübersichtlich und schon rein bibliographisch undurchdringlich" (415) wird - und das, nachdem er von vornherein wesentliche Einschränkungen unternommen hatte. Allein dadurch, dass Schwedler nur gekrönte Herrscher berücksichtigt, schließt er eine ganze Reihe wichtiger Kategorien europäischer Potentaten (Päpste, Bischöfe, Magister der geistlichen Orden, weltliche Fürsten wie auch königliche Thronfolger) aus seiner Betrachtung aus. Dafür behielt er aber das gesamte lateinische Europa in seinem Blickfeld: Von Schottland bis Neapel, von Skandinavien (mit Ausnahme Norwegens) bis zur Iberischen Halbinsel (mit Ausnahme Portugals), von Frankreich und England im Westen bis Böhmen, Polen und Ungarn im Osten. (Es taucht unter den Protagonisten sogar ein besonders exotischer "Osteuropäer", der Heide Kynstute, 1351 auf, obwohl ausgerechnet er den vorbestimmten Kriterien kaum entspricht: nicht nur ungekrönt, sondern vor 1381 noch nicht mal Großfürst). Nicht vergessen werden Herrscher entfernterer Länder - der König von Zypern, Peter von Lusignan, einerseits und drei byzantinische Kaiser andererseits -, die politisch motivierte Reisen durch das lateinische Europa unternahmen und dadurch die Statistik der Herrschertreffen für die entsprechenden Jahre auffällig hinauftreiben (vgl. das Diagramm auf Seite 480). Entsprechend umfangreich ist das Quellen- und Literaturverzeichnis, in welchem auch spanische, tschechische und polnische Publikationen berücksichtigt sind. Der Autor benutzt ferner Archivalien aus London, München, Paris und Warschau.

Es liegt auf der Hand, dass ein so breit (in Bezug sowohl auf die Raum- als auch Zeitdimension) definierter Forschungsgegenstand alles andere als homogen sein kann. Man ist ja zur Vermutung berechtigt, dass einige "Herrschertreffen" mit den anderen gar nicht viel an Ähnlichkeit haben können, denn gerade solche politischen Aktionen waren doch grundsätzlich sehr individuell und von einmaligen politischen Konstellationen bestimmt. Die immense Vielseitigkeit des zu erforschenden Phänomens hat nicht zuletzt zu einer recht komplizierten Struktur des rezensierten Buches geführt. Der umfangreiche erste Teil der Monografie wird aus acht eingehenden Studien der signifikanten Einzelfälle zusammengebaut. Diese acht historischen Episoden sind mit der Absicht ausgewählt, dass jede von ihnen einerseits stellvertretend für eine bestimmte Gruppe weiterer königlicher Begegnungen, andererseits aber als Ausgangspunkt für eine allgemeinere, und zwar methodisch relevante Fragestellung, interpretiert werden kann. So ist das Treffen Ludwigs IV. von Wittelsbach und Eduards III. 1338 für das Problem "Text und Ritual" einleuchtend; am Beispiel der Zusammenkunft Albrechts I. und Philipps IV. von Frankreich 1299 werden "Verhandlungen und Formen der Konsensbildung" problematisiert; die Reise Kaiser Sigismunds nach England 1416 erlaubt, die "Vertragsschlüsse und Eide unter Königen" zu diskutieren. Der Lehnseid Přemysl Otakars an Rudolf von Habsburg 1276 wird für "Belehnungsakte zwischen Königen" repräsentativ, wobei die englische Gefangenschaft (1356-1360 und 1364) Johannes' II. von Frankreich ähnlich exemplarisch für "Treffen mit gefangenen Königen" ist. Das Doppelkönigtum Ludwigs IV. und Friedrichs des Schönen vertritt den Problemkreis "Zwei Könige desselben Reiches" ähnlich wie der Vertrag von Troyes 1420 das Thema "Waffenstillstand und Friedensschluss". Der Besuch Kaiser Karls IV. und König Wenzels in Paris 1378 dient als case study für "Zeremoniell und Inszenierung".

Allerdings beschränken sich diese acht thematischen Einzelstudien nicht auf die eingehende, fast mikrohistorische Anatomie der ausgewählten Paradeepisoden: Sie werden jedes Mal von einer diachronen thematischen Längsschnittanalyse über den gesamten untersuchten Zeitraum ergänzt. Gerade in diesen Abschnitten kommt die beneidenswerte Erudition des Autors besonders deutlich zum Ausdruck.

Das achtteilige Schema wird vom Verfasser nicht apodiktisch formuliert und beansprucht nicht, die einzig mögliche Klassifikation der spätmittelalterlichen Herrschertreffen zu sein. Man könnte etwa den Pariser Besuch der beiden Luxemburger 1378 genauso gut unter der Überschrift "Text und Ritual" präsentieren (oder besser "Text, Bild und Ritual" - wegen der einmaligen Miniaturen, welche Erinnerungen an die Ereignisse dieses "Staatsbesuches" visualisierten). Ein Fortsetzer der Forschungen Schwedlers könnte sich frei fühlen, das reiche Material des Buches nach eigenen Kriterien neu zu gruppieren. So bietet es sich an, eine Gruppe der "reisenden" Könige abzusondern, die eine ganze Reihe Herrscher nacheinander in der Hoffnung besuchten, sie alle zu gemeinsamen politischen Aktionen zu bewegen. Die Morphologie der Herrschertreffen scheint in solchen Fällen anders zu sein als in den Situationen, wenn etwa zwei Potentaten zusammenkamen, um gemeinsame Probleme unter vier Augen zu lösen.

Es erstaunt nicht, dass der erste - "empirische" - Teil des Buches viermal so groß ist wie der zweite, der "idealtypische". Der Autor vernachlässigt nie die politischen Dimensionen der analysierten Erscheinungen, betont aber vor allem ihre rituellen und zeremoniellen Seiten, präsentiert die Herrschertreffen als kompliziert organisierte "vielschichtige Kommunikationsereignisse" (407). Er betont immer wieder - und völlig zu Recht -, wie reich und flexibel die Ausdrucksmöglichkeiten waren, welche bei Herrscherbegegnungen (aber auch bei nachfolgenden Beschreibungen solcher Begegnungen) aktualisiert werden konnten, um selbst subtile Nuancierungen der persönlichen und politischen Verhältnisse in der Sprache des Zeremoniells adäquat wiederzugeben. Diese Ausdrucksmittel hatten ihren Ursprung in unterschiedlichen Bereichen des höfischen, liturgischen oder rechtlichen Lebens.

Zugleich diagnostiziert der Verfasser einige langfristig wirkende Trends: Die Benutzung der Insignien bei Herrschertreffen ging genauso wie rituelle Küsse der Potentaten allmählich zurück, die Pracht der Kleidungen hingegen nahm zu. Nur die Relevanz der Gastmähler blieb konstant, denn ohne Bildung der Mahlgemeinschaft erschien das erwünschte Niveau der gegenseitigen Verständigung offensichtlich unerreichbar. Wichtiger ist allerdings der generelle Wandel: Während die Könige noch im 13. und 14. Jahrhundert sich mehrfach und zu ernsten Angelegenheiten persönlich gegenübertraten, nahm die Häufigkeit solcher Treffen im 15. Jahrhundert unzweideutig ab. Das sei die Folge der vorangehenden Bürokratisierung und Verrechtlichung der Verwaltung und Politik.

Insgesamt kann das Buch als wichtiger Beitrag zur modernen Ritual- und Kulturforschung eingeschätzt werden. Schade nur, dass seine Reichhaltigkeit nicht den vollständigen Niederschlag im Register fand. Außerdem stößt man gelegentlich auf Druckfehler und Spuren der Unachtsamkeit, wie dort, wo Heinrich VI. plötzlich Karl VII. genannt wird (366). Bedauernswerter ist aber der Gedankengang, bei welchem man sich "den orthodoxen Osten" nur "außerhalb des europäischen Kulturkreises" vorstellt (413), weil da gerade diejenige - leider verbreitete - mentale Prämisse zum Ausdruck kommt, die zur wesentlichen Verengung und Verzerrung des Forschungshorizonts führt - und zwar nicht allein bei der Erforschung spätmittelalterlicher Herrschertreffen.

Michail A. Bojcov