Rezension über:

Giovanni Moro: Anni Settanta, Torino: Giulio Einaudi Editore 2008, 152 S., ISBN 978-88-06-18208-3, EUR 9,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Fiammetta Balestracci
Istituto storico italo-germanico, Trient
Empfohlene Zitierweise:
Fiammetta Balestracci: Rezension von: Giovanni Moro: Anni Settanta, Torino: Giulio Einaudi Editore 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 2 [15.02.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/02/15116.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Giovanni Moro: Anni Settanta

Textgröße: A A A

Anders als es der Titel erwarten lässt, bietet das Buch von Giovanni Moro keine Bilanz der siebziger Jahre. Der Autor versucht dagegen mit Erfolg, dem Leser einen Schlüssel zum Verständnis dieser Dekade in die Hand zu geben und diese zugleich in der italienischen Zeitgeschichte zu verorten. Moro konstatiert beim Umgang mit den siebziger Jahren ein Paradox, dem man bis heute nicht entgehen konnte. Weil sich das Erbe dieses Dezenniums als bis in die Gegenwart prägend erwiesen hat, ist es schwierig, sich unbeeinflusst von eben diesem Erbe und ohne emotionale Regungen damit auseinanderzusetzen. Die siebziger Jahre unterliegen noch immer einem Phänomen, das Moro als "Pathologie der Erinnerung" bezeichnet - geprägt von Schweigen, Scham oder Wehmut -, sodass zumindest ein Teil der Intellektuellen diesem Thema ausweicht, anstatt echtes Interesse dafür zu entwickeln. In der Tat gibt es nicht eben viele Studien, die unser Wissen über dieses Jahrzehnt auf einer sicheren methodologisch-heuristischen Basis erweitert haben, die es erlaubt, von den intellektuellen Parametern des Untersuchungszeitraums zu abstrahieren. Darunter befinden sich mit Marica Tolomellis Terrorismo e società und Marco Grispignis 1977zwei Bücher, die in diesem Zusammenhang besondere Erwähnung verdienen.

Moro geht von ungelösten Problemen der Gegenwart aus und stellt fest, dass es keine allgemein akzeptierte Erinnerung an eine Phase italienischer Geschichte gibt, die durch charakteristische Entwicklungen gekennzeichnet war: Zum einen durch terroristische Gewalt, vom Attentat auf der Piazza Fontana am 12. Dezember 1969 bis zum Anschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980; zum zweiten durch den Verschleiß der Mitte-Links-Regierungen und das Ende des Frühlings des Partito Comunista Italiano (PCI), dem die konfliktreiche Kooperation mit der Democrazia Cristiana (DC) auf Dauer mehr schadete als nützte. Zum dritten durch massive Arbeitskämpfe, die mit einer schweren Niederlage der Gewerkschaften und gleichsam dem Verschwinden der Arbeiterklasse endeten, und schließlich durch Schlüsselereignisse der internationalen Politik wie den Wahlsieg eines Linksbündnisses in Chile und der islamischen Revolution im Iran, die als Ausgangspunkt für eine neue Phase religiöser Konflikte gelten kann.

Jedes der genannten Ereignisse, verstanden als symbolischer Erinnerungsort, wäre geeignet, aus diesem Jahrzehnt eine abgeschlossene Epoche mit einer spezifischen Signatur zu machen. Mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat man mit einigem Recht von den "langen 70er Jahren" gesprochen und darauf hingewiesen, dass sich zwischen 1969 und 1982 die politische Hegemonie der Sozialdemokratie verbraucht habe. [1] In Italien war diese Phase durch die Zusammenarbeit von DC und PCI geprägt, die zu einer Schwächung der oppositionellen Kräfte im politischen System des Landes führte. Dadurch entstand eine Art Vakuum, das demokratischen Basisorganisationen außerhalb der etablierten Strukturen zugutekam, aber auch dem Terrorismus Vorschub leistete. Für Moro gibt es eine Reihe von Schlüsselbegriffen zum Verständnis der siebziger Jahre: Reform, Partizipation, Subjekt, Freiheit, Kommunikation, Überzeugung, Gewalt und Krise. Die italienischen Historiker haben insbesondere auf das Leitmotiv Krise gesetzt, um die spezifische Signatur dieser Dekade herauszuarbeiten [2], und sind damit einig mit ihren deutschen Kollegen, die Krise und Strukturwandel in einem Atemzug nennen, wenn sie von den siebziger Jahren sprechen. Dabei hat Konrad Jarausch aber auch die "Koinzidenz von Krisenrhetorik und Aufbruchsstimmung" hervorgehoben [3], die sich mit Giovanni Moro auch in der widersprüchlichen Dynamik des Verschwindens zahlreicher Traditionen und des Durchbruchs neuer Lebensstile erkennen lässt. Neue Formen politischer Partizipation waren in den siebziger Jahren ebenso zu erkennen wie größere Spielräume etwa für Frauen und junge Menschen, ihr eigenes Leben zu leben, oder eine Beschleunigung der Kommunikation. Vor allem aber, so Moro, bemühten sich die Reformkräfte in der Zivilgesellschaft in den siebziger Jahren darum, die Blockaden der italienischen Demokratie aufzubrechen, in der ein Wechsel unmöglich schien. Die Tatsache, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllte und eine echte Veränderung erst mit großer Verzögerung nach 1989 einsetzte, forderte nach Meinung des Autors "einen ausnehmend hohen Preis in der Form ausgebliebener Modernisierung, einer tiefen Vertrauenskrise zwischen Bürgern und politischer Führung sowie einer Erstarrung der Eliten und ihrer Kultur".

Im Übrigen konzentriert sich Moros Analyse auf die verbreiteten intellektuellen Deutungen der siebziger Jahre, wobei er offensichtlich die Absicht verfolgt, die interessierten Gelehrten einzuladen, sich ein für alle Mal bestimmter Scheuklappen zu entledigen. Unter den "Gespenstern", die noch immer im öffentlichen Leben der Nation herumgeistern und der Forschung Grenzen setzen, ist etwa jenes von Aldo Moro. Der 1978 entführte und ermordete Vater des Autors ist einerseits immer wieder Gegenstand verschwörungstheoretischer Literatur, die verborgene Intrigen aus dem Staatsapparat zu enthüllen sucht und die Ermordung des Politikers als Versuch erscheinen lässt, die Stabilität Italiens zu untergraben. Andererseits gibt es aber auch "revisionistische" Stimmen, die genau entgegengesetzt argumentieren und jede Spur eines Mysteriums in der Geschichte jener Jahre leugnen. Die Schwierigkeit, diese eingefahrenen Interpretationsmuster abzulegen, hängt mit dem Problem zusammen, das ideologisch aufgeheizte Klima des Kalten Krieges hinter sich zu lassen, das in Italien vor allem in der Debatte um die siebziger Jahre noch immer seine Wirkung tut. Damit wird aber eine Dynamik befördert, die vor allem auf Glaubenssätze achtet und weniger Wert auf die nüchterne Analyse von Ereignissen, Strukturen und Prozessen legt. So erklärt sich auch die große Aufmerksamkeit für das facettenreiche, im Gegensatz zur katholischen Welt stehende kommunistische Milieu und die Vernachlässigung anderer Trends wie der beginnenden Renaissance des (Neo-)Liberalismus, deren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft bis heute zu spüren sind.

Nicht wenige historische Studien sind von einer Sichtweise geprägt, die auf der Dynamik von Gegensätzen beruht. Bis heute hat die italienische Öffentlichkeit beispielsweise die Opfer des Terrorismus weitgehend sich selbst überlassen - wie man es in der Nachkriegszeit lange mit den Opfern der Deportationen und des Bürgerkriegs gemacht hat -, weil man aus Furcht vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Beweggründen der oft rehabilitierten und sogar mit Beifall bedachten Täter den Vorzug gegeben hat. Diese Tatsache, so Moro, erklärt auch, warum der Terrorismus Italien immer wieder heimsucht. Auch sollte man nicht damit fortfahren, "1968" als Wiege allen Übels für das kommende Jahrzehnt zu betrachten, sondern hier vielmehr "den Beginn einer großen Bewegung zur Demokratisierung des täglichen Lebens (öffentlich wie privat)" zu sehen, "die es dem Land in den siebziger Jahren ermöglicht hat, die Befreiung von überholten Strukturen, autoritären Verhaltensweisen, kulturellem Provinzialismus etc. einzuleiten". Man müsse, betont Moro abschließend, heute neu über die siebziger Jahre nachdenken und Erinnerungen durch die Aufarbeitung der Vergangenheit ersetzen, um einer Dekade gerecht zu werden, die als wichtige Übergangsphase oder - um mit Jarausch zu sprechen - als direkte Vorgeschichte unserer Gegenwart verstanden werden kann.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Konrad H. Jarausch: Krise oder Aufbruch? Historische Annäherungen an die 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen 3 (2006), 334-341; und ders.: Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: ders. (Hg.): Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, 9-26.

[2] Vgl. Luca Baldissara (a cura di): Le radici della crisi. L'Italia tra gli anni Sessanta e Settanta, Rom 2001; und ders. (a cura di): Tempi di conflitti, tempi di crisi. Contesti e pratiche del conflitto sociale a Reggio Emilia nel lunghi anni settanta, Neapel 2008.

[2] Jarausch: Verkannter Strukturwandel, 15.

Aus dem Italienischen übersetzt von Thomas Schlemmer.

Fiammetta Balestracci