Rezension über:

Giancarlo Andenna / Mirko Breitenstein / Gert Melville (Hgg.): Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des "Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte" (= Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter; Bd. 26), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, XX + 495 S., ISBN 978-3-8258-8765-0, EUR 49,90
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Rezension von:
Klaus Herbers
Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität, Erlangen-Nürnberg
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Herbers: Rezension von: Giancarlo Andenna / Mirko Breitenstein / Gert Melville (Hgg.): Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des "Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte", Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 4 [15.04.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/04/10296.html


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Giancarlo Andenna / Mirko Breitenstein / Gert Melville (Hgg.): Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter

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Der vorzustellende Band setzt sich vor allen Dingen mit den Konzepten Max Webers zum Charisma auseinander, indem in drei einführenden Grundlagenbeiträgen zunächst einmal dieses Konzept diskutiert wird, das dann durch entsprechende Einzelstudien konkretisiert und differenziert wird.

Die Herrschaftssoziologie Max Webers versteht unter Charisma eine außeralltägliche Qualität, die eine Person befähigt, Herrschaft aus der Perspektive der Gefolgsleute legitim und erfolgreich auszuüben. Insofern kann Charisma bestehende Ordnungen überwinden. Zugleich unterliegt Charisma jedoch auch dem Zwang zur stets neuen Institutionalisierung. Dieses Spannungsgeflecht diskutieren die drei einführenden Beiträge von Karl-Siegbert Rehberg (Rationalisierungsschicksal und Charisma-Sehnsucht. Anmerkungen zur 'Außeralltäglichkeit' im Rahmen der institutionellen Analyse, 3-23), Klaus Tanner (Die Macht des Unverfügbaren. Charisma als Gnadengabe in der Thematisierung von Institutionalisierungsprozessen im Christentum, 25-44) und Annette Kehnel (Alter-Stigma-Charisma, 45-52). Während Rehberg sich vor allen Dingen auf die Feststellung besonderer Eigenschaften der charismatischen Person beschränkt, unterstreicht Klaus Tanner mit Rückgriff auf die protestantische Theologie das paulinische Konzept einer Gnadengabe. Annette Kehnel bringt in diese Diskussionen Aspekte der historischen Altersforschung ein, einen Komplex, den Max Weber im Zusammenhang der Genese von Charisma wenig beachtet hat. Stigmatisierung bietet in diesem Zusammenhang einen wichtigen Mechanismus für die Entstehung von Charisma.

Die einzelnen historischen Beiträge und Fallbeispiele greifen diese Diskussion auf und vertiefen sie um weitere Aspekte. Franz Neiske (Charismatischer Abt oder charismatische Gemeinschaft? Die frühen Äbte Clunys, 55-72) setzt sich mit den frühen Äbten Clunys auseinander und fragt nach dem Konzept einer charismatischen Gemeinschaft, die er im Falle Clunys nicht feststellen kann. Francesco Panarelli (Carisma in discussione: riformatori monastici e comunità nel Mezzogiorno italiano tra XI e XII secolo, 73-84) untersucht monastische Gemeinschaften in Süditalien im 11. und 12. Jahrhundert und kann bei ausgewählten Beispielen Institutionalisierung im Anschluss an eine charismatische Phase feststellen. Gert Melville (Stephan von Obazine: Begründung und Überwindung charismatischer Führung, 85-101) stellt Stephan von Obazine vor und rückt ebenfalls Fragen der Institutionalisierung einer Gemeinschaft im Anschluss an die charismatische Phase in den Vordergrund. Dabei kann er feststellen, dass Stephan von Obazine sogar über ein Charisma zur "Entcharismatisierung" verfügte. Norbert von Xanten, dem Begründer prämonstratensischer Lebensweise, widmet Franz Felten (Zwischen Berufung und Amt. Norbert von Xanten und seinesgleichen im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts, 103-149) seinen Beitrag. Auch hier geht es um das Spannungsfeld von Charisma und Institution. Anne Müller (Entcharismatisierung als Geltungsgrund? Gilbert von Sempringham und der frühe Gilbertinerorden, 151-172) kann im Falle des Gilbertinerordens ebenfalls Aspekte einer Entcharismatisierung feststellen. Elke Goez ([...]erit communis et nobis - Verstetigung des Vergänglichen. Zur Perpetuierung des Charismas Bernhards von Clairvaux im Zisterzienserorden, 173-215) zeichnet ein vielfältiges Bild Bernhards von Clairvaux, der sein eigenes Charisma durch Verteilung eigener Texte und andere Maßnahmen selbst mit beförderte. Die Gemeinschaft hat allerdings diese Versuche teilweise zu neutralisieren versucht. Hubert Houben (Ein Orden ohne Charismatiker. Bemerkungen zum Deutschen [Ritter-]Orden im Mittelalter, 217-225) bietet mit seinem Beitrag zu den Deutschordensrittern ein Beispiel, wie religiöse Gemeinschaften entstehen konnten, ohne dass ein personalcharismatisches Moment greifbar wird. Normative Ordnungen griffen hier auf benediktinische und augustinische Konzepte zurück. Auch im Falle des heiligen Dominikus sind bezüglich des Charismas Differenzierungen vorzunehmen, wie Achim Wesjohann (Flüchtigkeit und Bewahrung des Charisma. Oder: War der heilige Dominikus etwa auch ein Charismatiker?, 227-260) deutlich machen kann. Ob Charisma und Institution immer gegenüberzustellen sind, wird an diesem Beispiel besonders deutlich. Roberto Rusconi (Moneo atque exhorter...Firmiter praecipio. Carisma individuale e potere normativo in Francesco d' Assissi, 261-279) beschäftigt sich mit Franz von Assisi und untersucht vor allen Dingen der Werke. Jean François Godet-Calogeras (Francis of Assisi's Resignation: An Historical and Philological Probe, 281-300) hat ebenfalls wie Pietro Messa (Il carisma d'interpretare il carisma di san Francesco d'Assisi, 301-318) die Bedeutung des heiligen Franz von Asissi im Blickpunkt. In beiden Beiträgen stehen Fragen der Wirkung und der Wahrnehmungen im Vordergrund. Verschiedene Deutungen einer Charismatikerin vergleicht Maria Pia Alberzoni (Chiara d' Assisi. Il carisma controverso, 319-342). Ebenfalls mit Umdeutungen charismatischer Fähigkeiten setzt sich Michael F. Cusato (Esse ergo mitem et humilem corde, hoc est esse vere fratem minorem: Bonaventura of Bagnoregio and the Reformulation of the Franciscan Charism, 343-382) auseinander und unterstreicht dabei, dass Bonaventura vielleicht weniger ein "zweiter Gründer" der Franziskaner war, sondern vielmehr der Motor für ein zweites Charisma der Franziskaner, das nun auf einer stärker theologischen Ebene angesiedelt war. Mirko Breitenstein (Im Blick der Anderen, oder: Ist Charisma erlernbar? Aspekte zum Franziskanertum der zweiten Generation, 382-413) setzt sich mit dem franziskanischen Noviziat auseinander, das er als eine Phase charismatischer Erziehung diskutiert. Giancarlo Andenna (Il carisma negato: Gerardo Segarelli, 415-442) widmet sich mit seiner Studie zu Gerardo Segarelli einer klassischen charismatischen Gemeinschaft und diskutiert hierbei den Befund, dass kaum der Wunsch nach einer normativen Definition in der Gemeinschaft vorgeherrscht habe. Giuseppe Picasso (La spiritualità dell'antico monachesimo alle origini di Monte Oliveto, 443-461) untersucht die Olivetaner und damit eine Gemeinschaft, die weniger als charismatisch, sondern eher als traditionell-monastisch beschrieben werden kann. Cosimo Damiano Fonseca (Il carisma percepito: Bartolomeo da Roma e Teofilo Micheil, 453-461) stellt in seinem Beitrag eine Gemeinschaft vor, die vor allen Dingen personelle Aspekte in den Vordergrund rückte, weniger Formen der Institutionalisierung. Pavlina Rychterova (Charisma als Passion im Leben und Werk spätmittelalterlicher Visionärinnen, 463-476) steuert in ihrem abschließenden Beitrag noch einmal weitere Überlegungen zum Weber´schen Charismakonzept bei. Mit Hinweis auf den Apostel Paulus und dem von ihm verwendeten Begriff der Gnade schlägt sie vor, statt Charisma eher den Begriff der Liminalität, den Viktor Turner geprägt hat, als Beschreibungskategorie zu verwenden.

Vor dem Hintergrund der Diskussionen über Prozesse der Charismatisierung erschließen die Beiträge vielfältige Aspekte. Insbesondere ist mit dem abschließenden Beitrag zu unterstreichen, dass Webers Begriff des Charisma sehr eng an moderne Konzepte von Herrschaft, Individualität und Institution angelehnt ist. In Bezug auf das Mittelalter bedeutet dies, dass gerade die Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungshorizonten der jeweiligen Gesellschaft im Mittelalter und den heutigen Konzepten gut auseinander zu halten sind.

Klaus Herbers