sehepunkte 9 (2009), Nr. 6

Rezension: Jacob Burckhardt als Kunsthistoriker

Von den deutschen oder deutschsprachigen Historikern des 19. Jahrhunderts ist Jacob Burckhardt (1818-1897) vielleicht der einzige, der bis heute, unabhängig von jeweiligen modischen Trends, nicht nur vollkommen präsent geblieben ist, sondern dabei auch eine fortgesetzte Steigerung seines Ansehens erfahren hat. Die besondere Qualität seines Werks steht seit jeher, jenseits aller Kontroversen um seine Deutung und Einordnung, außer Frage. Seine Hauptschriften waren und sind in vielen Auflagen verbreitet und damit jederzeit zur Hand. Von 1929 bis 1934 kam, unter der Ägide von Emil Dürr, Werner Kaegi und anderer Gelehrter, eine Gesamtausgabe in 14 Bänden heraus. Es gibt kein sinnfälligeres Zeichen für die gegenwärtige Hoch- oder Höchstschätzung Burckhardts, als dass die Jacob Burckhardt-Stiftung in Basel seit 2000 eine neue Gesamtausgabe herausbringt, an der Dutzende von Herausgebern mitwirken. Die auf 29 Bände angelegte Edition soll inhaltlich wie methodisch allen historisch-kritischen Ansprüchen genügen und damit der Burckhardt-Forschung ein bisher nicht erreichtes Fundament verschaffen. Das ambitionierte Vorhaben verdient uneingeschränkte Anerkennung.

Von den bis jetzt erschienenen Bänden dieser Ausgabe enthält die Mehrzahl Schriften zur Kunstgeschichte, darunter die beiden großen Werke "Der Cicerone" (Bde. 2 u. 3) und, von den Herausgebern so betitelt, "Die Baukunst der Renaissance in Italien" (Bd. 5), die zuerst 1855 und 1867 herausgekommen sind und, neben der erstmals 1860 publizierten "Cultur der Renaissance in Italien", den fortdauernden Ruhm des Verfassers begründet haben. Die drei hier neu anzuzeigenden Bände bringen ebenfalls Texte zur Kunstgeschichte. Die aus Burckhardts Nachlass edierten Schriften sind der Forschung nicht unbekannt, waren aber bisher weithin unveröffentlicht und kein Gegenstand einer zusammenhängenden Analyse. Sie reichen von Burckhards wissenschaftlichen Anfängen bis in dessen letztes Lebensjahr und sind nicht nur an sich oder durch sich selbst bedeutsam, sondern geben auch vielfach neue oder ergänzende und präzisierende Aufschlüsse über Burckhardts Verständnis von Kunstgeschichte überhaupt und über die Stellung, die den kunsthistorischen Interessen in Burckhardts Œuvre insgesamt zukommt.

Es empfiehlt sich, die über die drei Bände verteilten Texte, abweichend von dem nicht ganz durchsichtigen Gliederungsschema der Gesamtausgabe, in chronologischer Folge vorzustellen, um sie sodann zusammenfassend zu charakterisieren.

Die Reihe wird eröffnet durch die "Vorlesungen über Geschichte der Malerei", die Burckhardt jeweils im Winter 1844/45 und 1845/46 in Basel "vor gemischtem Publikum" gehalten hat (in Bd. 18). Grundlage ist das nachgelassene und zwar bisher immer wieder zitierte, aber im Ganzen noch ungedruckte Vorlesungsmanuskript. Burckhardt behandelt darin, ausgehend von der Spätantike, die "Schicksale" (3) der okzidentalen Malerei bis zur Gegenwart. Er fußt dabei wesentlich auf dem "Handbuch der Malerei" seines Lehrers Franz Kugler [1], eignet sich aber das Gelesene, nach eigenen Studien und Vorarbeiten wie seinem wenige Jahre zuvor erschienenen belgischen Kunstführer [2], vollkommen selbständig an; dazu gehört, dass er im Großen wie im Kleinen Änderungen vornimmt, die schon auf die von ihm bearbeitete Neuauflage des Kuglerschen Werkes von 1847 verweisen. [3] Der Text dokumentiert also eine entscheidende Phase in jenem Prozess, in dem sich die Formierung Burckhardts zum Kunsthistoriker vollzieht.

Die nächste Zeitstufe wird bezeichnet durch das ganze Corpus von Schriften, das in Bd. 16 abgedruckt ist. Es muss dem vielleicht größten historiografischen Vorhaben zugeordnet werden, das Burckhardt während seines wissenschaftlichen Lebens verfolgt hat: nämlich dem Projekt einer allumfassenden Kulturgeschichte der Renaissance in Italien, das er mit dem berühmten Buch von 1860 auszuführen begann. "Der größten Lücke des Buches", versprach Burckhardt einleitend, "gedenken wir in einiger Zeit durch ein besonderes Werk über die 'Kunst der Renaissance' abzuhelfen." [4] Er machte sich schon bald daran, diese Lücke zu schließen, und verfertigte in den Jahren 1862/63 ein Manuskript über die "Geschichte der Renaissance in Italien", das, gemäß der ursprünglichen, bis auf Vasari zurückgehenden Bedeutung des Renaissance-Begriffs, Kunstgeschichte bot. Von den vier Abschnitten, in die es eingeteilt war, waren die über Architektur, Dekoration und Skulptur ganz, der über Malerei etwa zur Hälfte ausgearbeitet. Lediglich die beiden ersten Abschnitte gelangten 1867 zum Druck, und zwar als Fortsetzung von Franz Kuglers "Geschichte der Baukunst" (1855-60), die beim Tod des Verfassers lediglich bis zum Mittelalter gediehen war. Burckhardts Beitrag erschien, unter dem Titel "Die Renaissance in Italien", als erster Band der von Wilhelm Lübke und Cornelius Gurlitt fortgeführten Reihe "Geschichte der neueren Baukunst"; das Buch liegt, unter dem synthetischen Titel "Die Baukunst der Renaissance in Italien", als Bd. 5 der neuen Gesamtausgabe vor (s.o.). Der Rest des Manuskripts von 1862/63, mit den Abschnitten über Skulptur und Malerei, blieb unvollendet und ungedruckt. Als Burckhardt in der 2. Auflage der "Cultur der Renaissance" vom Jahre 1869 auf jenes Versprechen einer Geschichte der "Kunst der Renaissance" zurückkam, gestand er ein, dass dieser "Vorsatz [...] nur geringernteils hat ausgeführt werden können." [5] Eine weitere Publikation zur "Kunst der Renaissance" war von ihm nicht geplant. Andererseits ließ ihn das Thema nicht los. Er sah nicht nur zwischen 1865 und 1880 die Abschnitte über Skulptur und Malerei im Manuskript von 1862/63 wiederholt durch, sondern schrieb auch während der Zeit von 1887 bis 1893 eine "Fortsetzung", die "Die Malerei nach Inhalt und Aufgaben" zum Gegenstand hatte. Zwischen 1893 und 1895 verfasste er, auf der Basis dieser Niederschriften, förmliche Abhandlungen über Einzelthemen: "Beiträge zur Kunstgeschichte von Italien" mit Artikeln über "Das Altarbild", "Das Porträt in der Malerei" und "Die Sammler" sowie "Randglossen zur Sculptur der Renaissance". Von den "Beiträgen" abgesehen, die, erstmals 1898 aus dem Nachlass veröffentlicht, jetzt in Bd. 6 der neuen Gesamtausgabe vorliegen, sind, angefangen mit den Abschnitten über Malerei und Skulptur im Manuskript von 1862/63, alle diese Texte, von denen bisher nur wenige Stücke publiziert waren [6], in Bd. 16 wiedergegeben. Das Renaissance-Projekt Burckhardts steht uns damit, wenn nicht der Form, so doch dem Inhalt nach, in einiger Vollendung vor Augen.

Es schließt sich an die "Neuere Kunst seit 1550", die, nach den schon genannten "Vorlesungen" von 1844/45 und 1845/46, fast den ganzen Bd. 18 ausfüllt. Auch hier geht es um Vorlesungen, aber nicht vor "gemischtem", sondern vor akademischem Publikum. Seit 1874 hielt Burckhardt an der Universität in Basel regelmäßig kunstgeschichtliche Überblicksvorlesungen; der sich alsbald herausbildende Zyklus reichte, mit wechselnden zeitlichen Abgrenzungen und thematischen Schwerpunkten, von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Erstmals im Winter 1877/78 hielt er eine Vorlesung über okzidentale "Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts", die er bis zum Winter 1892/93 noch sechsmal wiederholte. Sie handelte fast nur von der Malerei; die Architektur blieb ausgeschlossen; auf Dekoration und Skulptur fielen allenfalls Seitenblicke. Der in Bd. 18 abgedruckte Text gehört zu dieser Vorlesung. Er stellt nicht das Vorlesungsmanuskript selbst dar, sondern versammelt die Materialien, aus denen Burckhardt die Vorlesungen bestritten hat: Exzerpte aller Art, Notizen, ausformulierte Sätze und Absätze oder etwa auch ein Vortragsmanuskript. Der Grundstock der Sammlung stammt vom Winter 1877/78; Burckhardt hat aber den Text, bis in die 1890er Jahre hinein, unablässig überarbeitet und erweitert. Die Materialien stehen für eine nicht geschriebene Gesamtdarstellung ihres Gegenstandes. Manches davon hat Burckhardt in Vorträge der 80er Jahre übernommen (jetzt in Bd. 13 der neuen Gesamtausgabe). Die Materialien selbst, als eigenständiges Manuskript, werden hier zum ersten Mal veröffentlicht.

Die letzte noch zu nennende Schrift - zugleich Burckhardts letztes Werk überhaupt - steht mit diesen Materialien in unmittelbarem Zusammenhang. Es handelt sich um eine in Bd. 11 abgedruckte Künstlermonografie: die "Erinnerungen aus Rubens". Burckhardt hat sich seit der Arbeit über "die Kunstwerke der Belgischen Städte" vom Jahre 1842 kontinuierlich mit Rubens beschäftigt. Man kann aber sagen, dass die Beschäftigung mit dem flämischen Maler im Rahmen der Vorlesung "Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts" den eigentlichen Ausgangspunkt für die Monografie bildet. Die einschlägigen Partien im Manuskript "Neuere Kunst seit 1550" stammen aus den Jahren 1877/78 und nehmen, oft bis in einzelne Formulierungen hinein, das spätere Buch vorweg (vgl. etwa Bd. 18,434 f. u. 461 mit Bd. 11,106 f. u. 36). Einzelnes davon ging in Vorträge aus den Jahren 1884 und 1887 ein, die jetzt in Bd. 13 der neuen Gesamtausgabe aufgenommen sind (s.o.). Im Jahre 1896 schrieb Burckhardt, nach diesen Vorstudien und auf der Grundlage einer vorbereitenden Fassung, das Manuskript der "Erinnerungen" nieder. Es kam einer Druckvorlage gleich; die posthume Veröffentlichung im Jahre 1898 entsprach Burckhardts letztem Willen. Der Abdruck in Bd. 11 basiert auf dem Manuskript.

Worin besteht der Wert dieser Texte? Auf diese Frage gibt es zunächst eine ganz lapidare, um nicht zu sagen: tautologische Antwort: er besteht in dem, wovon sie handeln. Man lernt aus den "Vorlesungen über Geschichte der Malerei", aus dem Renaissance-Buch, aus den Materialien über "Neuere Kunst seit 1550", aus den "Erinnerungen", welches Bild Burckhardt von der Geschichte der europäischen Malerei, von der Skulptur und Malerei der italienischen Renaissance, von Manierismus und Barock, von Rubens hatte. Man kann auch feststellen, ob oder inwieweit sich Burckhardts Anschauungen zwischen den Texten oder innerhalb eines über eine längere Zeit hinweg entstandenen Textes entwickelt haben, was gleich geblieben ist, was sich verändert hat. Man erhält weiterhin Aufschluss über Verbindungen mit anderen Burckhardtschen Schriften, etwa über die Verknüpfungspunkte zwischen der "Kunst der Renaissance" und der "Cultur der Renaissance in Italien". Alle diese Auskünfte kommen einher mit einer Fülle von einzelnen Beobachtungen, Analysen, Gedanken, die jeweils auch für sich genommen von Interesse sind. Dieser ganze Reichtum an Anschauungen, an Entwicklungen, an Bezügen, an detaillierten Mitteilungen lässt sich in einer Rezension auch nicht annähernd ausschöpfen. Genug, dass wir ihn hier konstatieren, nicht ohne zu bemerken, dass vieles von dem, was Burckhardt über die von ihm traktierten Gegenstände zu sagen hat, immer noch Bestand hat oder jedenfalls auf Kunstkenner attraktiv wirken muss.

Etwas genauer, wenn auch notwendigerweise immer noch sehr im Allgemeinen und mit Konzentration auf das Durchgehende oder Verbindende, sei der Frage nachgegangen, welches das Konzept von Kunstgeschichte ist, nach dem Burckhardt in diesen Texten verfährt. Ein Blick auf seinen Gegenstand oder die Art seiner Gegenstände bietet dazu den besten Einstieg. Wer die Texte auch nur oberflächlich durchsieht, bemerkt sofort, dass es die Kunstwerke sind, an die sich Burckhardt hauptsächlich hält. Das beginnt in den "Vorlesungen über Geschichte der Malerei", und das steigert sich in demselben Maße, in dem Burckhardt immer mehr Kunstwerke kennt. Die Materialien über "Neuere Kunst seit 1550" laufen stellenweise auf einen Katalog einzelner Bilder hinaus; die "Erinnerungen aus Rubens" erwecken einen ähnlichen Eindruck. Burckhardt verfügt über die Kunstwerke in verschiedener Weise: aus eigener Anschauung, durch Museumskataloge, bald auch durch Fotografien. Wenn es nicht anders geht, zitiert er Beschreibungen aus literarischen Quellen, die oft genug verlorengegangene Kunstwerke ersetzen müssen. Grundsätzlich gilt ihm: "Die allgemeine Richtung einer Kunstzeit ist vor Allem aus den vorhandenen Denkmälern derselben zu erkennen" (Bd. 16, 447). Dahinter steht die Überzeugung, dass die Kunst allein im jeweiligen Kunstwerk existiert und daher nur in ihm ansichtig wird. Sie lässt sich nicht auf abstrakte ästhetische Regeln fixieren, sondern wird immer wieder neu hervorgebracht nach Regeln, die in diesem schöpferischen Akt selbst liegen. Die Kunst erscheint als Inbegriff dieses autonomen Aktes, dem ein ebensolcher Sinn des jeweiligen Betrachters entspricht. Burckhardt kann insoweit geradezu von dem unaussprechlichen "Geheimniß" der Kunst sprechen: "fände die Ästhetik einmal wirklich das Zauberwort, welches sie schon oft glaubte gefunden zu haben, so würde sie selbst Kunst [...] werden" (Bd. 18,41). Er verwirft, in diesem Sinne, "Philosopheme" und "Theorien" über Raffael (Bd. 18,52). Den Rembrandt-Enthusiasten seiner Zeit, die aus ihrem Meister ein Dogma machen wollen, hält er entgegen: "Hierüber ist besser gar nicht weiter zu reden; wir würden an eine der verschloßnen Pforten gelangen, an welcher geschrieben steht: Du sollst das Verhältniß zwischen dir und der Kunst nie ergründen" (Bd. 18,553). Zu "reden" ist, wenn auch nur sekundär oder indirekt, allein über das jeweils konkrete Kunstwerk: über die selbstbestimmte Tat des Künstlers und ihre Wirkung auf den Betrachter.

Wie geht die Burckhardtsche Kunstgeschichte mit der Autonomie des Kunstwerks um? Zunächst ergibt sich aus der Natur der Sache, dass das autonome Kunstwerk selbst nichts als Geschichte ist. Jedes Kunstwerk stellt eine eigene Schöpfung dar, beruht ganz auf sich selbst, ist unverwechselbar und unübertragbar: eine individuelle Leistung, die dem Moment ihres Vollzugs zugehört und nur von ihm her zu deuten ist. Kunstwerke sind also historische Phänomene, die historisches Verständnis erfordern. Ja, die Geschichte ist der einzige Weg, um ihrer habhaft zu werden. Sie ermöglicht, wozu die Kunsttheorie nicht fähig ist; die Ästhetik weicht da vor der Kunstgeschichte zurück oder geht in ihr auf. Die Texte sind durchzogen von Äußerungen, in denen sich Burckhardt dagegen verwahrt, Kunstwerke aus vergangenen Epochen an den Maßstäben der Gegenwart zu messen, statt sie aus sich selbst heraus zu verstehen. Es sei "überhaupt nicht die Aufgabe der Kunstgeschichte, die Künstler und ihre Werke zu richten, sondern vielmehr sie als Zeugen ihrer Zeit zu begreifen, nach ihrem tiefsten historischen Sinne zu ergründen" (Bd.18,29). Er wendet sich gegen die "Schule der Nazarener", die "die Kunst völlig in den Dienst der Kirche zu bannen strebte und von diesem Standpunkte aus ganzen Jahrhunderten der Kunstgeschichte den Prozeß machte": "Mit dieser Art von Maßstab haben wir nichts zu thun", sondern wir werden "ruhig fortfahren die individuelle Macht, Tiefe und Fülle des Einzelnen [...] zu betrachten" (ebd.). Wiederum gegen die Rembrandt-Enthusiasten heißt es:" Wir unsererseits dürfen uns überhaupt ausbitten, zu gewissen Zeiten anders als holländisch, nämlich italienisch, spanisch, mittelalterlich, antik zu empfinden" (Bd. 18,535), d. h. den verschiedenen historischen Ausprägungen europäischer Kunst gerecht zu werden.

Allerdings ist diese Historisierung für Burckhardt keineswegs gleichbedeutend mit Relativierung. Kunstwerke werden in einem bestimmten historischen Moment hervorgebracht, aber ihre Geltung reicht darüber hinaus. Indem jede autonome künstlerische Schöpfung den Begriff der Kunst erfüllt, geht sie sozusagen die ganze Menschheit an. Das Individuelle ist da die Verwirklichung eines Universalen. Sofern diese Verwirklichung misslingt, übt Burckhardt Kritik; sie richtet sich mithin nicht gegen dieses oder jenes Kunstwerk aus dieser oder jener Zeit, sondern gegen Werke, die zwar Kunstwerke zu sein vorgeben, aber in Wahrheit gar keine sind, weil sie den autonomen Anspruch der Kunst verfehlen. Im Grunde hat nur wenig vor Burckhardts ästhetischem Urteil Bestand. An der obersten Stelle steht ihm die Kunst der italienischen Renaissance, und zwar in der "Zeit der wahren Renaissance, von Anfang des 15. Jahrhunderts bis etwa zu Rafaels Tode" (Bd. 16,323): eine "große und herrliche Kunstblüthe" (Bd. 18,41). Später reiht er Rubens unter jene ein, die "glücklich erfinden und vortrefflich malen können" (Bd. 11,92). Aber nach der Renaissance setzt in Italien mit dem Manierismus der "Verfall" ein (Bd. 16,142), und gegen Rubens stellt sich Rembrandt, der mit seiner Verabsolutierung eines einzigen Kunstmittels "das Ganze der Kunst" vernichtet hat: "Die Malerei wird hier vor unsren Augen aus ihren bisherigen Fugen gehoben" (Bd. 18,570). Andererseits belässt es Burckhardt im Angesicht solcher Phänomene gewöhnlich nicht beim bloßen Verdikt. Er sieht in der "Manier" ein universales Phänomen der Kunstgeschichte (Bd. 18,133) und widmet ihm subtile Argumente, die bis zur Rechtfertigung des Epigonentums in der Kunst gehen: "Ob die Natur etwas erschöpft sei und sich sammeln müsse? Oder ob dieselbe Zahl von ebenso außerordentlichen Begabungen auf der Welt oder innerhalb einer Nation vorhanden sei und sich nur unter dem Druck der großen und nahen Vorbilder nicht mit voller Kraft entwickeln könne? Jedenfalls stehen Meister ersten Ranges, besonders wenn sie zusammen zeitlich einen Kranz bilden, ihrer nächsten Nachfolge im Wege, welche diese auch sei" (Bd. 18,141). Was Rembrandt betrifft, so zögert er nicht, ihn gegen missverständliches Lob der Gegenwart gewissermaßen in Schutz zu nehmen (Bd. 18,561). Mitunter scheint es geradezu, als sei die Autonomie des Kunstwerks für ihn so etwas wie eine regulative Idee, die einen Prozess in Gang setzt und hält, der niemals definitiv an ein äußeres Ende kommt. Die Unterscheidung zwischen gelungenen und misslungenen Kunstwerken beginnt hier hinter der Vorstellung größerer oder geringerer Annäherung an die gemeinsame Grundaufgabe zurückzutreten.

Die Geschichtlichkeit des Kunstwerks schließt ein, dass es nicht einer abgehobenen Sphäre, sondern jeweils einer konkreten historischen Situation angehört. Der geschichtliche Moment, dem das Kunstwerk entstammt, ist nicht zu denken ohne die Bestimmungen, die ihm von daher zukommen. Burckhardt sucht diese Situation in seinen Texten von Mal zu Mal mit möglichster Präzision zu erfassen: den allgemeinen politisch-gesellschaftlichen Rahmen; das ökonomische Potential; die Interessen der Besteller und die daraus resultierenden Aufgaben für die Künstler; künstlerische Traditionen; die Werkstoffe, die dem Künstler zu Gebote stehen, und die Techniken, über die er verfügt; die Person des Künstlers selbst mit ihren von Herkunft und Bildung herrührenden Prägungen. Mit aller Systematik ist, bis ins Kleinste hinein, diese Situationsanalyse im Renaissance-Buch durchgeführt. Burckhardt spricht solchen Umständen oder Faktoren nicht selten, im Positiven wie im Negativen, eine entscheidende Wirkung zu. So sieht er einen direkten Zusammenhang zwischen der Reformation und dem Niedergang der deutschen Malerei im Laufe des 16. Jahrhunderts: "die großen, überwiegenden Interessen eines neuen Geisteslebens der Nation haben sie überflügelt" (Bd. 18,33); vollends der "Bildersturm" bewirkt "eine stille, wortlos gebliebene Abwendung von Kunst überhaupt" (Bd. 18,331). Ein analoger Zusammenhang scheint ihm zu bestehen zwischen dem manieristischen "Verfall der Malerei" in Italien und "der entschiedenen Knechtschaft in Italien in Verbindung mit der beginnenden Gegenreformation" (Bd. 16,142). Von Rubens sagt er, er habe "viel Glück" gehabt, dass er gerade an seinem Ort und in seiner Zeit gelebt habe: "Man darf ohne Schrecken nicht daran denken was geworden wäre, wenn Rubens unter dem Hochdruck Ludwigs XIV. hätte aufwachsen und dessen Lebrun hätte werden müssen. Er konnte ja auch in Frankreich und ein paar Jahrzehnte später geboren werden" (Bd. 11,20 f.) Andererseits liefert Burckhardt zu derartigen Beobachtungen immer auch Gegenproben. Die Reformation und die Gegenreformation, denen er den Niedergang der Malerei in Deutschland und Italien anlastet, haben einen neuerlichen Aufschwung der niederländischen Malerei nicht verhindert: "Belgien und Holland offenbaren eine ganz unläugbar abnorme Kraft" (Bd. 18,384). Einmal meint er, es sei "Behutsamkeit nöthig; nicht alles zu nahe zu beziehen" (Bd. 18,71); es gibt Zeiten, in denen die Kunst, von außen unbeeinflusst, ihre eigenen Bahnen zieht. Hier ist auf den Punkt gebracht, was Burckhardt grundsätzlich annimmt: dass zwischen der historischen Situation und den Schöpfungen der Künstler kein kausales Verhältnis besteht. Die Situation bietet ihnen Gelegenheiten oder stellt sie vor Hemmnisse; aber es liegt an ihnen, ob sie die Gelegenheiten nutzen oder wie sie den Hemmnissen begegnen. Die Situation enthebt sie nicht ihrer Verantwortung, für die der autonome Anspruch der Kunst den unverrückbaren Maßstab bildet.

Zwei besonders signifikante Beispiele sollen diese Sicht der Dinge verdeutlichen.

Im ersten Fall geht es um das Verhältnis der Künstler zu den jeweiligen Machthabern, das Burckhardt als Grundtatsache und Grundproblem der Kunstgeschichte ansieht. Gleich die Entstehung der Kunst scheint ihm untrennbar damit verknüpft: "Es giebt keine Kunst 'von freien Stücken', denn sobald nur irgend Wunsch und Fähigkeit des Bildens erwacht, wird dieß Vermögen in's Heiligthum oder an irgend eine andere Stätte der Macht gerufen und bringt dann dort ihre ganze Jugend zu" (Bd. 16,262). Die Kunst hat damit von vornherein "einer weit außer ihr liegenden Kraft zu gehorchen" (ebd., 263), und wenn das in ihrer "Jugend" hingehen mag, weil sie damals auf diese "Kraft" angewiesen ist, um sich überhaupt zu entfalten, so muss sie das in ihrem weiteren Lebenslauf als immer unerträglicher empfinden. Ein idealer Zustand scheint Burckhardt erreicht im Italien der Renaissance: da erhebt sich erstmals, "unabhängig von jeder (kirchlichen, politischen etc.) Aufgabe im engeren Sinne", ein gesellschaftliches Bedürfnis nach "Kunst um ihrer selbst willen" (Bd. 16,534). Aber dieser Zustand weicht bald anderen Verhältnissen. Die Kunst gerät in neuerer und neuester Zeit vor allem unter den Druck der Politik, die von ihr Tendenzbilder verlangt; Malerei und Skulptur sollen sich zu "amtlichen Darstellerinnen" von "plumpen Verherrlichungsprogrammen" machen (Bd.18,434). Burckhardt räumt ein, dass sich die Künstler derartigen Zumutungen nicht völlig entziehen können, erwartet aber von ihnen, dass sie auch in dieser Lage ihrer originären Bestimmung gerecht werden. Nur so können sie vor der Nachwelt bestehen, die "das vergangene Machtpathos" nicht mehr beeindruckt: "Diesen folgenden Zeiten muß die Kunst darüber Rechenschaft geben, in wie weit sie einst auch in tiefster Sachknechtschaft noch Kunst geblieben und ob sie noch unsterblichen Geschlechtes ist" (Bd. 18,435). Als positives Exempel dient ihm Rubens (Bd. 11,106 f.), als negatives der Malerkreis am Hof Ludwigs XIV. (Bd. 18,74).

Im zweiten Fall geht es um das Verhältnis des Künstlers zur bisherigen Kunst. Das große Paradigma ist hier die Renaissance-Kunst in Italien in ihrem Verhältnis zur antiken Kunst, die sie sich in wachsendem Maße aneignet. Burckhardt sucht in immer neuen Wendungen deutlich zu machen, dass die Renaissance-Künstler ihre antiken Vorbilder nicht einfach nachgeahmt hätten, im Gegenteil: die Renaissance-Kunst setzt für ihn in dem Moment ein, als sie die im Mittelalter noch ungebrochen fortlebenden "antiken Elemente" überwindet (Bd. 18,6), und rekurriert erst dann wiederum auf die Antike, als sie sich zu voller Selbständigkeit ausgebildet hat und damit fähig geworden ist, ihr von einer eigenen Warte aus zu begegnen. Es handelt sich um "eine stark innerliche Bereicherung" (Bd. 16,35), die schließlich einen "Wetteifer" auslöst (Bd. 16,100). Gemessen an diesem Modell, hat die italienische Renaissance auf andere Länder vielfach durchaus anders gewirkt. Ein extremes Gegenbeispiel ist für Burckhardt die Schule von Fontainebleau in der Zeit von Franz I.: "Der eitle Mensch wollte eine Kunstthätigkeit haben und ließ sich ein complettes Kunstleben aus Italien kommen", das keinerlei Zusammenhang mit dem einheimischen Kunstleben hatte; "sie stob wieder auseinander ohne irgend bedeutende Wirkung" (Bd. 18,104). Burckhardt kennt allerdings auch die schiere Überwältigung: die Ausbreitung des Manierismus nennt er "eine allgemeine, unwiderstehliche Infection, welche überall die localen Style auffraß" (Bd. 18,133); er habe sich "mit der Kraft einer neusten Mode" durchgesetzt (Bd. 18,29); oft ist "nun einmal das Ausländische [...] das Vornehme geworden" ( Bd. 18,786). Zug um Zug entsteht damit ein komplexes Bild von Beziehungs- und Rezeptionsgeschichten.

Man hat oft den Kunsthistoriker vom Kulturhistoriker Burckhardt getrennt und beide gegeneinander ausgespielt, und zwar mit durchaus entgegengesetzter Bewertung. Benedetto Croce bescheinigt dem Kunsthistoriker "wahre und eigentliche historische Probleme", während er dem Kulturhistoriker ein "eigentlich historisches Problem" abspricht. [7] Gegenwärtig hebt man eher den "unhistorischen" Kunsthistoriker von dem "historischen" Kulturhistoriker ab. [8] Die hier vorliegenden Texte können dazu beitragen, solche Entgegensetzungen zu überwinden. Sie demonstrieren nämlich aufs eindrücklichste, dass Kunstgeschichte und Kulturgeschichte bei Burckhardt, thematisch wie methodisch, zusammengehören. Man kann auch sagen: die Burckhardtsche Kunstgeschichte ist eine Abteilung der Burckhardtschen Kulturgeschichte, und beide sind "historisch". [9] Bei dem Renaissance-Buch ist dieser Sachverhalt unmittelbar klar: es ergänzt die "Cultur der Renaissance" und bildet daher mit ihr, ebenso wie die "Baukunst" vom Jahre 1867, eine Einheit, unbeschadet dessen, dass die endgültige historiografische Ausgestaltung unterblieben oder nicht gelungen ist. Das Renaissance-Projekt insgesamt kann insoweit durchaus mit der "Zeit Constantin's des Großen" und der "Griechischen Kulturgeschichte" (Bde. 19-21 der neuen Gesamtausgabe) verglichen werden, also mit der ältesten und der jüngsten kulturgeschichtlichen Darstellung Burckhardts, die beide jeweils Kapitel zur Kunstgeschichte enthalten. Alle anderen Texte behandeln zwar allein Kunstgeschichte, ohne Anbindung an ein übergreifendes kulturgeschichtliches Werk oder Projekt, aber doch unter einer doppelten kulturhistorischen Perspektive: einmal, indem sie die Kunst in einen allgemeinen kulturhistorischen Kontext stellen, und zum andern, weil sie die Kunst selbst als ein kulturhistorisches Phänomen auffassen. Allenthalben waltet dabei ein Geschichtsverständnis vor, das auf Historizität im strikten Sinne, d.h. historische Immanenz gerichtet ist. Die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (jetzt in Bd. 10 der neuen Gesamtausgabe) liefern dazu eine begleitende Reflexion.

Bemerkenswert ist freilich, dass sich Burckhardt, im Rahmen seiner Gesamtvorstellung von Kulturgeschichte, nun einmal besonders für Kunstgeschichte interessiert hat. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine Grund folgt aus der Logik der Kulturgeschichte selbst: die Kunst gilt ihm traditionsgemäß als die höchste Form menschlicher Kultur; als Kunsthistoriker schreibt er also Kulturgeschichte in höchster Potenz. Der zweite Grund verweist auf ein sehr persönliches Erkenntnisinteresse: das ist sein Rückzug auf die Kunst aus den Unbilden der Gegenwart heraus, unter die er auch den Kunstbetrieb seiner Zeit rechnet; unsere Texte sind voll von einschlägigen Äußerungen, die mitunter, wie in den Bemerkungen zu Rembrandt (Bd. 18,549 ff.), zu einer Generalabrechnung mit der Gegenwart gesteigert sind. Beide Gründe klingen im Schlusswort der "Vorlesungen über Geschichte der Malerei" zusammen und können als Motto über seinem gesamten kunsthistorischen Oeuvre stehen: "Mein Zweck wäre vollkommen erreicht, wenn es mir gelungen ist, die Kunst als nothwendige Begleiterin alles höhern Erdendaseins nachzuweisen, als einen der Genien unseres Lebens, [...] der auch die Menschheit tröstend und veredelnd begleiten möge bis ans Ende der Tage" (Bd. 18,123).

Es sei noch hinzugefügt, dass die drei Bände nicht nur die Texte bieten, sondern auch textkritische Anmerkungen sowie einen ebenso konzisen wie informativen Sachkommentar, der vor allem direkte und indirekte Zitate nachweist und die genannten Kunstwerke, soweit das die Herausgeber als notwendig erachten, identifiziert; außerdem ist die von Burckhardt benutzte Literatur verzeichnet. Auf eigentliche Interpretation wird bewusst verzichtet; auch das editorische Nachwort lässt sich darauf nicht ein. Hier soll alles der Forschung überlassen bleiben. Sie kann aus diesen Bänden reichen Nutzen ziehen.


Anmerkungen:

[1] Franz Kugler: Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Grossen bis auf die neuere Zeit, 2 Bde., Berlin 1837.

[2] Jacob Burckhardt: Die Kunstwerke der Belgischen Städte, Düsseldorf 1842.

[3] Franz Kugler: Handbuch der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Grossen. Zweite Auflage unter Mitwirkung des Verfassers umgearbeitet und vermehrt von Jacob Burckhardt, 2 Bde., Berlin 1847.

[4] Jacob Burckhardt: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, 2; zitiert in: Bd. 16 (s.o.), Editorisches Nachwort, 942.

[5] Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. von Horst Günther, Frankfurt am Main 1989, 11 f.

[6] Die alte Gesamtausgabe teilte die "Leitsätze" mit, nach denen Burckhardt die Abschnitte über Malerei und Skulptur im Manuskript von 1862/63 strukturiert hatte (in Bd. 6, Stuttgart 1932), sowie, aber mit nicht unbeträchtlichen Kürzungen, die "Randglossen" (in Bd. 13, Basel 1934).

[7] Benedetto Croce: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Hamburg 1944, 93 ff.

[8] Vgl. Irmgard Siebert: Einleitung, in: Jacob Burckhardt: Aesthetik der bildenden Kunst. Der Text der Vorlesung "Zur Einleitung in die Aesthetik der bildenden Kunst", hg. von Irmgard Siebert, Darmstadt 1992, 1-34, hier 19 ff.

[9] "Die Kunstgeschichte hat in den neueren Zeiten [...] sich [...] aufgeschwungen [...] zu einer historischen Wissenschaft, zu einem der edelsten Theile der Culturgeschichte" (Bd. 18,63).

Rezension über:

Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Band 11. Erinnerungen aus Rubens. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Edith Struchholz und Martin Warnke, München: C.H.Beck 2006, 275 S., ISBN 978-3-406-55036-2, EUR 68,00

Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 16. Die Kunst der Renaissance, Band 1. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Maurizio Ghelardi, Susanne Müller und Max Seidel, München: C.H.Beck 2006, 1007 S., ISBN 978-3-406-55038-6, EUR 198,00

Jacob Burckhardt: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 18. Neuere Kunst seit 1550. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Eva Mongi-Vollmer und Wilhelm Schlink, München: C.H.Beck 2006, 1363 S., ISBN 978-3-406-53134-7, EUR 248,00

Rezension von:
Ulrich Muhlack
Historisches Seminar, Goethe-Universität, Frankfurt/M.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Muhlack: Jacob Burckhardt als Kunsthistoriker (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de/2009/06/11222.html


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