Rezension über:

Georg Jostkleigrewe: Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts (= Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters; Bd. 9), Berlin: Akademie Verlag 2008, 446 S., ISBN 978-3-05-004394-4, EUR 59,80
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Rezension von:
Stefan Weiß
Institut für Geschichte und historische Landesforschung, Hochschule Vechta
Redaktionelle Betreuung:
Claudia Zey
Empfohlene Zitierweise:
Stefan Weiß: Rezension von: Georg Jostkleigrewe: Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 10 [15.10.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/10/14978.html


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Georg Jostkleigrewe: Das Bild des Anderen

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Die deutsch-französischen Beziehungen im Mittelalter, die lange Zeit als Vorgeschichte der sogenannten "Erbfeindschaft" gedeutet worden sind, haben in den letzten Jahren erneut das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Wegweisend war vor allem die großangelegte Studie Carlrichard Brühls [1], der mit Recht dargelegt hat, dass Deutschland wie Frankreich der gleichen Wurzel - dem karolingischen Frankenreich - entstammen. Damit war implizit die Frage aufgeworfen, wie sich die weiteren Beziehungen der beiden entstehenden Staatswesen gestaltet haben. In diesen Kontext stellt sich die hier anzuzeigende, von Klaus Herbers und Ludger Körntgen betreute Erlanger Dissertation. Anders aber als die meisten neueren Arbeiten zu diesem Thema nimmt sie nicht die Ereignis- bzw. Diplomatiegeschichte in den Blick, sie will vielmehr klären, wie das jeweils andere Staatswesen im Mittelalter subjektiv wahrgenommen wurde. Der Autor konzentriert sich dabei auf unsere mittelalterlichen Kollegen, fragt wie in der zeitgenössischen deutschen bzw. französischen Geschichtsschreibung die jeweils andere Seite dargestellt wurde. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen dabei an französischen Quellen die Grandes Chroniques de France, verfasst in den hier interessierenden Passagen von Primat von Saint-Denis, der Recit d'un ménestrel de Reims, die Chronique rimée des Geoffroi de Paris sowie das Manuel d'histoire de Philippe de Valois. An deutschen Quellen wurden die Sächsische Weltchronik, die Oberrheinische Prosachronik, die Braunschweigische Reimchronik und Ottokars Steirische Reimchronik besonders berücksichtigt. Daneben aber wurden noch zahlreiche andere historische Quellen herangezogen; das einleitende Kapitel (46-54 "Die Quellen") kann auch als Quellenkunde für die Historiographie des Untersuchungszeitraums (ca. 1150-1350) genutzt werden. Auch literarische Quellen, insbesondere epische Texte wurden herangezogen; besonders hervorgehoben sei Jostkleigrewes Analyse des Frankreichbilds in Wolframs von Eschenbach Willehalm (170 ff.), sie kann als Muster gelten, wie man literarische Texte als historische Quelle sachgemäß zu interpretieren hat.

Doch beginnen wir am Anfang. Der Frage, ob und inwieweit die historiographischen Traditionen der beiden Länder und inwieweit derartige Texte überhaupt vergleichbar sind, ist der Autor keineswegs ausgewichen; er erörtert die methodischen und quellenkritischen Probleme seiner Vorgehensweise im einleitenden Kapitel (Die Grundlagen, 11-56). Auch werden die jeweils angeführten Quellenaussagen sorgfältig kontextualisiert. Insbesondere die Ausführungen von Jostkleigrewe darüber, wie die Tendenz der Quellenautoren von ihren Vorlagen beeinflusst wird, seien hervorgehoben (34 ff.). Bemerkenswert ist sein Hinweis auf Saint-Denis als Zentrum der französischen Geschichtsschreibung, das in vielerlei Hinsicht die Tradition der französischen Historiographie bestimmte (53 f.). Dagegen war die deutsche Geschichtsschreibung sehr viel dezentraler organisiert. Gleichwohl ist das Bild des Nachbarn auf beiden Seiten alles andere als einheitlich; man gewinnt den Eindruck, dass es um die Selbständigkeit des Urteils im Mittelalter keineswegs schlechter als heute bestellt war.

Bei der quantitativen Auswertung der jeweiligen Nennungen des Nachbarlandes kommt Jostkleigrewe zu dem Ergebnis, dass die französischen Quellen generell der deutschen Geschichte mehr Aufmerksamkeit schenken als umgekehrt. Eine jüngst erschienene Studie Jean-Marie Moeglins, die Jostkleigrewe noch nicht vorlag, konstatiert dagegen ein eher geringes Interesse französischer Geschichtsschreiber an deutschen Ereignissen. [2] Sie überschneidet sich allerdings nur teilweise mit Jostkleigrewes Untersuchungszeitraum.

Mittlerweile zu Recht vergessen ist ein unter dem Titel "Karl der Große oder Charlemagne" publizierter Sammelband, in dem deutsche Historiker im Jahre 1935 der Frage nachgingen, ob Karl der Große nun Deutscher oder Franzose gewesen sei. Schon im Mittelalter wurde diese Frage nicht einheitlich beantwortet; Jostkleigrewe zeigt, dass in der lateinischen Chronistik Deutschlands wie Frankreichs Karl von beiden Seiten vereinnahmt wurde, während er in der volkssprachlichen Literatur - soweit dieses Problem überhaupt angesprochen wird - durchweg als Franzose angesehen wurde. Hier hat offenbar die Übersetzung von "Francia" mit "Frankriche" sowie die Rezeption französischer Texte ihren Einfluss geübt (157-170). Überhaupt sei als vielleicht wichtigstes Ergebnis festgehalten, dass zwar die Anders- und Fremdartigkeit des Nachbarlandes auf beiden Seiten durchaus erkannt, aber nicht als problematisch empfunden wurde. Auch da, wo es Konflikte gab und diese ihren Niederschlag in der Geschichtsschreibung fanden, wurden diese gerade nicht als Regel, sondern als Ausnahme dargestellt, als bedauerliche Abweichung von einem prinzipiell guten und freundschaftlichen Verhältnis. Das gilt selbst für Ottokars Reimchronik, der dem Konflikt Philipps des Schönen mit Albrecht I. eine eingehende Darstellung gewidmet hat (256-270). Jostkleigrewe kann sogar nachweisen, dass die Vorstellung weitverbreitet war, Kaiser und König hätten sich gegenseitig eidlich zur Wahrung ihres jeweiligen Besitzstandes verpflichtet.

Selbst Ansprüche, die aus heutiger Sicht konfliktträchtig hätten sein müssen, wurden von den mittelalterlichen Autoren mit bemerkenswerter Nonchalance behandelt. Die in der Forschung gern aufgeworfene Frage etwa, ob und inwieweit das Kaisertum einen Vorrang vor dem französischen Königtum beanspruchen konnte bzw. gar wirklich beansprucht hat, ist von den Chronisten nicht ignoriert, aber immer nur am Rande thematisiert worden; allem Anschein nach haben die Zeitgenossen diese Frage weit weniger ernst als spätere Historiker genommen.

Soweit ein deutsch-französischer Gegensatz in der mittelalterlichen Chronistik überhaupt bemerkbar ist, so ist dieser an einer Stelle zu finden, wo nur wenige moderne Historiker ihn gesucht haben, in Neapel-Sizilien nämlich. Die Konkurrenz zweier Dynastien, der Staufer und der Anjou, ist in der französischen Historiographie mitunter als deutsch-französischer Konflikt interpretiert worden (328 ff.). Man sollte dies nicht als Fehldeutung abtun, vielmehr bedenken, dass Außenpolitik im Mittelalter eben im Wesentlichen dynastisch orientiert war, die politisch-militärischen Erfolge einer Seitenlinie der Kapetinger - eben der Anjous - somit vielfach als solche Frankreichs aufgefasst wurden, zumal diese Erfolge sich zwanglos in das alte französische Paradigma eines Kreuzzuges gegen Feinde der Kirche bzw. des Papsttums einordnen ließen. Letzteres wurde allerdings aufgegeben, als sich der Streit Philipps des Schönen mit Bonifaz VIII. zuspitzte. Gerade dieser französisch-päpstliche Konflikt scheint indirekt dazu beigetragen zu haben, dass deutsch-französische Verhältnis positiv zu sehen, stand doch auf einmal der französische König dem Gegner gegenüber, mit dem sich bisher vornehmlich sein deutscher Kollege hatte beschäftigen müssen.

Es ist schade, dass Jostkleigrewe seine Untersuchung nicht über die Mitte des 14. Jahrhunderts hinausgeführt hat; in Bezug auf Kaiser Karl IV. (1346-1378) und König Karl V. (1364-1380) habe ich vor kurzem gezeigt, dass sie ihre Politik eng aufeinander abgestimmt, dass sie somit die deutsch-französische Partnerschaft mit neuem Inhalt gefüllt haben. [3] Man wüsste gern, inwieweit die zeitgenössische Geschichtsschreibung dies rezipiert hat.

Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die mittelalterlichen Chronisten von dem vielberufenen "deutsch-französischen Gegensatz", dem die Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts mit Argusaugen nachspürten, schlechterdings nichts bemerkt haben. Wir lernen daraus, dass man mittelalterliche Historiker nicht nur als wenig zuverlässige Lieferanten von Daten und Fakten behandeln sollte, dass man vielmehr auch die von ihnen entwickelten Deutungsparadigmen ernst nehmen sollte. Diese müssen nicht, können aber durchaus zutreffender sein als manches, was Jahrhunderte später mit großem Fußnotenaufwand publiziert wurde.


Anmerkungen:

[1] Carlrichard Brühl: Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker, Köln 1990, 21995.

[2] Jean-Marie Moeglin: Novelles d'Allemagne en France aux XIVe -XVe siècles. L'empereur Louis de Bavière dans l'historiographie royale française, in: Regnum et imperium. Die französisch-deutschen Beziehungen im 14. und 15. Jahrhundert, hg. von Stefan Weiß (Pariser Historische Studien 83), München 2008, 9-40.

[3] Vgl. Stefan Weiß: Onkel und Neffe. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich unter Kaiser Karl IV. und König Karl V. und der Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas, in: Regnum et Imperium. Die französisch-deutschen Beziehungen im 14. und 15. Jahrhundert, hg. von Stefan Weiß (Pariser Historische Studien 83), München 2008, 101-164; ders., Prag - Paris - Rom: Der Ausbruch des Großen Abendländischen Schismas im Kontext der deutsch-französisch-päpstlichen Beziehungen, in: Vom Zentrum zum Netzwerk. Kirchliche Kommunikation und Raumstrukturen im Mittelalter, hg. von Gisela Drossbach / Hans-Joachim Schmidt (Scrinium Friburgense 22), Berlin / New York 2008, 183-246; ders., Das Papsttum, Frankreich und das Reich. Zwischenhöfisches im Zeitalter der Goldenen Bulle, in: Die Goldene Bulle. Politik - Wahrnehmung - Rezeption, Bd. 2, hg. von Ulrike Hohensee / Mathias Lawo / Michael Lindner / Michael Menzel / Olaf B. Rader (Berichte und Abhandlungen. Sonderband 12), Berlin 2009, 917-930. An meiner Deutung halte ich trotz der Bedenken von Heribert Müller, HZ 288 (2009) 440-442, fest.

Stefan Weiß