Rezension über:

Johannes Burkhardt: Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit (= C.H. Beck Wissen; 2462), München: C.H.Beck 2009, 136 S., ISBN 978-3-406-56262-4, EUR 7,90
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Rezension von:
Wolfgang Behringer
Historisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Stellungnahmen zu dieser Rezension:
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Behringer: Rezension von: Johannes Burkhardt: Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 12 [15.12.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/12/15847.html


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Johannes Burkhardt: Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit

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Wenn ein scheidender Lehrstuhlinhaber einen Epochenüberblick verfasst, dann ist dies ein Ereignis, zumal in einer so jungen Disziplin wie der Geschichte der Frühen Neuzeit. Johannes Burkhardt, der von 1991-2008 den Lehrstuhl für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Augsburg repräsentierte, hat bereits 1985 einen Epochenüberblick für Studenten publiziert. Mit Publikationen zum "Reformationsjahrhundert" (2002), zum Dreißigjährigen Krieg (1992) und dem Gebhardt-Handbuch für den Zeitraum von 1648-1763 (2006) hat er zudem weite Teile der Frühen Neuzeit systematisch beackert, stets mit dem Fokus auf dem "Heiligen Römischen Reich deutscher Nation", das hier dem Publikum zuliebe auf "Deutschland" reduziert wird. Freilich ist es vertretbar, auch die Vorgeschichte noch nicht existierender Staaten zu schreiben, zumal in Europa die Bevölkerungen ortsbeständig sind, sofern man sie lässt.

Der Blick auf das Literaturverzeichnis (130-132) macht schnell deutlich, dass es aber gar nicht um eine Geschichte der Menschen in Mitteleuropa geht, sondern um eine Geschichte des "Alten Reiches". Nur ausnahmsweise finden sich einzelne Buchtitel zu anderen Themen, etwa zu den Komplexen Reformation, Bauernkrieg, Konfession und Buchdruck. An theoretischer Literatur wird Norbert Elias erwähnt (92), allerdings nicht dessen Zivilisationstheorie, sondern die "höfische Gesellschaft" (1969), sowie ein Aufsatz von Stefan Brakensiek zur "akzeptanzorientierten Herrschaft" in der Frühen Neuzeit (2009). Diese Abstinenz erstaunt ein wenig, denn die Periode ist seit Werner Sombart geradezu zu einem Experimentierfeld von Theorien und Methoden geworden, erwähnt seien nur die Modernisierungstheorie, die These vom europäischen Weltsystem oder die Mikrogeschichte als extreme Beispiele. Von Theorien und Epistemen erfährt der Leser aber nichts, Burkhardt hält es lieber mit katholischen Feldherren als mit amerikanischen Soziologen: Statt Charles Tilly Johann von Tilly, statt Immanuel Wallerstein Albrecht von Wallenstein.

Diese Einschränkungen vorausgeschickt, darf man zu den Stärken des Buches kommen: Wie von Johannes Burkhardt gewöhnt, ist es hervorragend geschrieben, mit vielen gelungenen Formulierungen und kleinen Kabinettstücken sowie mit klarer Argumentation: Er wendet sich gegen die "Schauerlegende" von der deutschen Kleinstaaterei, das Negativbild vom Niedergang des Alten Reiches, welches im 19. Jahrhundert "als Kontrastfolie den unaufhaltsamen Aufstieg Preußens historisch legitimieren" sollte (7). Gegen die nationalistische Meistererzählung wendet Burkhardt nicht nur die Friedensfähigkeit des Reiches, sondern auch seine "Föderalismusfähigkeit" (8) ein.

In zehn Kapiteln führt uns Burkhardt auf hohem Reflexionsniveau und in ansprechender Form durch die Reichsgeschichte. Nach Reichsreform, Reformation und Konfessionalisierung gibt es eigene Kapitel zum Augsburger Religionsfrieden (1555) und zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), den der Autor als "Staatsbildungskrieg" interpretiert. Mit dem Westfälischen Frieden (1648) als anderem Reichsgrundgesetz wappnet er den Leser für den "zweiten Dreißigjährigen Krieg" (1667-1697), die Kriege des 18. Jahrhunderts, die angeblich in einem "Triumph des Reiches" mündeten (102-119), und das nach diesem Triumph doch etwas abrupte Ende des Alten Reiches. Einzig das Kapitel VIII. "Kultur wird Ländersache - oder doch nicht?" (88-101) fällt etwas aus diesem Rahmen. Aber auch hier geht es um ein Loblied der Kleinstaaterei, die mit vielen kleinen Höfen viele kleine Hoforchester und damit ein Aufblühen der Musikkultur ermöglichte.

Die Frühe Neuzeit als Epoche wird in Burkhardts Augen weniger durch Renaissance, Reformation und Globalisierung, als durch die um 1500 einsetzende Medienrevolution (9) gekennzeichnet. Die kommunikationsgeschichtliche Periodisierung wirkt allerdings aufgepappt, denn am Ende der Epoche steht keine Umwälzung im Kommunikationswesen, obwohl sich solche mit der Erfindung der Telegraphie, der Eisenbahn und des Dampfschiffs, des Unterseekabels oder der Schnellpresse leicht hätten finden lassen, sondern die Frage nach dem Untergang des Alten Reiches im Jahr 1806 (126-129). Wie so oft gibt Burkhardt auch hier der Diskussion eine überraschende Wende mit dem Bonmot, "dass das Reich gar nicht untergegangen ist" (127). Eine solche Formulierung mag Zeithistorikern jähe Schrecken einjagen, doch Burkhardt bezieht sich wieder nur auf das "Heilige Römische Reich deutscher Nation", dessen Zug zum Föderalismus auf Basis der Länder er in den freiheitlichen Verfassungen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland wiederfindet. Rückbezogen wird dies auf die Reichsreform von 1495, die den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Darstellung bildet.

Wir haben es also mit einem 'Etikettenschwindel' zu tun: Dieses Buch befasst sich - anders als der erwähnte Überblick von 1985 - nur mit der Geschichte des Alten Reiches, die für den heutigen Leser zur Vorgeschichte des Föderalismus und der politischen Freiheit umgedeutet wird. Vielleicht ist selbst dem Verlag entgangen, dass Burkhardt gar keine "Geschichte der Frühen Neuzeit" schreiben wollte, sondern nur eine von vielen möglichen Partikulargeschichten "in der Frühen Neuzeit". Trotz der feinen Semantik bleibt Enttäuschung. Der Leser findet wenig von dem, was die Fachwelt in den vergangenen dreißig Jahren bewegt hat. Selbst elementare Informationen fehlen, etwa brauchbare Daten zu Wirtschafts- und Sozialgeschichte, etwa Bevölkerungszahlen, die Entwicklung des Sozialprodukts oder des Lebensstandards. Mentalitäten und Lebensverhältnisse, die internationale Vernetzung bzw. Globalisierung der Märkte und der Ideen, die Entwicklung von Recht und Medizin, das epochale Ereignis der Wissenschaftsrevolution, die Entwicklung von barbarischer Strafjustiz und religiösem Fundamentalismus zu Folterverbot und weltanschaulicher Toleranz finden in diesem Buch nicht statt. Die als "Karl V." vorgestellte Persönlichkeit war zwar auch Kaiser (17-19), doch kann man seine Politik ohne die Information verstehen, dass er zuerst und vor allem Herzog von Burgund und (als Karl I.) König von Spanien war, und damit Herrscher über weite Teile Südeuropas und Amerikas sowie einiger Gebiete in Afrika und Asien? Nicht einmal die Entwicklungssprünge der Medialität, etwa die Veränderung der Raum- und Zeitwahrnehmung nach Einführung der periodischen Presse, werden untersucht.

Die Reduzierung des Themas auf die Reichsgeschichte führt zu der grundverkehrten pauschalen Schlussfolgerung: "Niemand wollte zu Beginn der Neuzeit etwas Neues" (20). Wie groß die Sehnsucht nach Neuem war, kann man aber an den Plädoyers zur Verstellung in einer unfreien Gesellschaft sehen, an der Entstehung der zahlreichen Untergrundkirchen gerade auch im deutschen Sprachraum, an unzähligen Rebellionen, an Dissidenten- und Grenzgängertum: Manche Individuen flohen sogar ins Osmanische Reich, viele wanderten in die "Neue Welt" aus. Künstler waren nur erwähnenswert, wenn sie etwas Neues boten, wie man bei Vasari nachlesen kann. Dürer steht für dieses Konzept. Der Aufbruch in die "Neue Welt" war ebenso programmatisch wie das Eintreten für eine "New Philosophy", welche Erfindungen und Entdeckungen systematisch herbeiführen und das Alte beiseiteschieben wollte. In dieser "Neuen Zeit" wurde "Neugier" (curiositas) immer weniger als Sünde betrachtet und "Neuigkeiten" wurden gezielt gesucht. Meinungszeitschriften mit neuen Ansichten und zuletzt tägliche Zeitungsdrucke befeuerten eine kritische Öffentlichkeit. Natürlich gab es "in der Frühen Neuzeit" auch Anhänglichkeit für das Alte. Mit seiner Fokussierung auf das "Alte Reich" versperrt Johannes Burkhardt aber dem Leser das Verständnis der "Neuen Zeit": der Epoche der Frühen Neuzeit.

Wolfgang Behringer