Rezension über:

Uta Kleine: Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (= Beiträge zur Hagiographie; Bd. 7), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, XIV + 481 S., ISBN 978-3-515-08468-0, EUR 72,00
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Rezension von:
Michael Rothmann
Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität, Gießen
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Rothmann: Rezension von: Uta Kleine: Gesta, Fama, Scripta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/12199.html


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Uta Kleine: Gesta, Fama, Scripta

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Spätestens seit der Aufklärung zählt der Wunderglaube zum festen Klischeerepertoire, das dem Mittelalter gerne als typisch vormodernes Erkenntnisdefizit angelastet wird. Wunder als Letztbegründung wurden jedoch bereits im Verlauf des Hochmittelalters gerne als Aberglaube gekennzeichnet, insofern sie sich nicht in den christlich- theologischen Deutungshorizont fügen ließen. Gelehrte Theologen hatten ähnliche interpretative Schwierigkeiten mit volkskulturellen Komplexitätsreduzierungen wie moderne Naturwissenschaftler mit heutigen esoterischen Erklärungsmustern. Die wesenhaften erkenntnistheoretischen Unterschiede lagen in den Formen der Letztbegründung für offene Fragen: Besaßen schwer deutbare Ereignisse und Phänomene ihre letzte Ursache, ihren ersten Beweger in Gott oder in der Natur?

Die eher despektierliche Haltung der Moderne gegenüber Wundergeschichten, verdeckt zudem in welchen Lebenssituationen Menschen Wunder als letzte Deutungsvariante verwendeten. Auf Wunder als Letztbegründung oder letzte Hoffnung wurde zumeist angesichts existenzieller Bedrohungen, Krankheiten, Tod oder in allgemeinen Grenzsituationen zugegriffen, die durch die Erwartungshaltung auf eine höhere Hilfe gemildert wurden. In diesen dunklen Zonen menschlicher Erkenntnis, in die keine Erfahrung vorgedrungen war, beruhigte die Klassifizierung unerklärlicher Phänomene als Wunder eines christlichen Gottes die menschliche Neugier und Angst. Im weniger bedrohlichen Alltag und jenseits der theologisch-christlichen Grundannahmen gestalteten sich jedoch mittelalterliche Denkweisen ähnlich individuell und schichtspezifisch sozial different wie in sogenannten modernen Gesellschaften. Eine Geschichte des Verstehens hat daher nicht nur die großen diachronen Deutungsparadigmen zu benennen, sondern zugleich ihre synchronen Anwendungsweisen zu überprüfen.

Eine ausgesprochen differenzierte, begriffsscharfe und wohl durchdachte historische Anthropologie mittelalterlicher Kognitionsprozesse in diesem Sinne hat Uta Kleine mit ihrer Studie über hochmittelalterliche Mirakel vorgelegt. Am Beispiel von 6 rheinischen Mirakelbüchern (Lantbert von Deutz, Miracula Heriberti; Berta von Vilich, Vita Adelheidis; Vita Annonis; Wunderaufzeichnungen im Kloster Brauweiler; Libelli miraculorum; Caesarius von Heisterbach, Miracula Engelberti), analysiert Kleine die Wahrnehmung und die Deutung als mirakulös wahrgenommener Ereignisse von der sozialen Praxis über die mündliche und schriftliche Erzählung bis hin zur Sinnstiftung.

Die ursprüngliche Fragestellung hat im Laufe des Dissertationsprojektes einige Veränderungen erfahren, wie die Autorin selbst anmerkt. Und dies im allerbesten Sinne. Sollte zunächst die soziale Wirkmächtigkeit von Wundern im Zentrum der Untersuchung stehen, zerlegt Kleine nun das überlieferte Material erkenntniskritisch in dessen einzelne Überlieferungsschritte, denen sie nicht einfach moderne Theoreme überstülpt, sondern die sie mit den Formen der genuin mittelalterlichen Hermeneutik vom vierfachen Schriftsinn befragt: nach ihrem historischen, allegorischen, tropologischen und anagogischen Sinn. Trotz der nur seltenen Autorenreflexionen innerhalb der Gattung gelingt dies Kleine, indem sie systematisch die manifeste Begrifflichkeit und Darstellungstechnik analysiert, um die latente Handlungs- und Verschriftlichungslogik der Texte aufzudecken. Neuere Wendungen der historischen Forschung wie linguistic turn und Erinnerungskritik werden auf diese Weise als Sub- und Paratexte historischer Erkenntnis nutzbar gemacht. Kleines Textanalysen sind wiederum eingebunden in eine Geschichte der sukzessiven Transformation mündlicher zu schriftlicher Überlieferung. Mit der Beschreibung des Wegs vom Ereignis zur Erzählung und von deren Verschriftlichung wird zugleich die soziale Praxis des Wunders herausgearbeitet.

Nach eingehender Forschungsreflexion und systematischer Analyse ordnet Kleine den einzelnen Mirakelbücher jeweils spezifische Charakteristika zu. Am Beispiel Heriberts von Köln enthüllen sich nach Kleine unterschiedliche Bedürfnisse und Zugangsweisen, wie Visionen, Prozessionen, Stationsgottesdienste, Totenmemoria und Wunder als Form posthumer Armenfürsorge. Durch diese sollten die Konstituierung von Heiligkeit und die kultische Verehrung gefördert werden. Analog wurden im Fall Engelberts im Wunderkult die Treue von Freunden und Getreuen über den Tod hinaus gepflegt. Die beiden Serien der Annomirakel zeigen das Heiligenpatrozinium als Keimzelle der Verdichtung von Sozial- und Herrschaftsbeziehungen. Siedlungs- wie Herrschaftsentwicklung und Kultinitiativen gingen Hand in Hand. Die Vita Adelheidis wiederum diente der Aktualisierung des Fundatorengedenkens. Im Falle Brauweilers konzentrierten sich verschiedene Wundertäter und Wunderkulte nach Kleine in einzigartiger Weise auf einen Ort.

Diese lokalen Eigentümlichkeiten werden in einem abschließenden Kapitel zusammenfassend mit "ihrem universellen Horizont" konfrontiert. Geschickt setzt Kleine mittelalterliche hermeneutische Kategorien der Überlieferung, gesta, fama und scripta, als Leitmotive und Gliederungsprinzipien ihrer Zusammenschau, um den Wahrnehmungs- und Deutungsprozess gelenkter und ungelenkter Erinnerung an wundersame Ereignisse zu beschreiben. Unter gesta wird dabei das räumlich-dingliche Umfeld verstanden, unter fama das mündliche Ausdrucksfeld bezeichnet, als scripta das schriftliche Gebrauchsfeld markiert.

Versteht man wie Kleine Mirakel neben ihrer religiös liturgischen Dimension und Funktion auch als soziale Tatsachen (gesta), so boten sie Sinnstiftung in existenzieller Unwegsamkeit und stellten zugleich eine Verbindung von Diesseits- und Jenseits her. Als weitgehend ritualisierter Ereignistyp waren Wunder in der Lebenswelt und der Erzählung an spezifische Personengruppen, Objekte, Orte und Auslösungssituationen, an stereotype Gesten und Abläufe gebunden. Einflussreiche Impressarios gestalteten gewissermaßen als Seelenführer, so Kleine, die konkreten Erinnerungsorte, stifteten Kirchen am Grab, inszenierten die Reliquienschau. Mittels Inventionen und Translationen wurden die Übergangsriten zwischen diesseitiger Erwartung und jenseitigem Glauben öffentlich inszeniert und präsentiert. Dabei verbanden sich spirituelle und finanzielle Aspekte. Gezieltes Stiften und Fördern schuf Institutionen der Erinnerung an die Wundertäter. Kirchen, Gräber, Reliquien, Votivgaben signalisierten Treue über den Tod hinaus.

Doch nur über was zunächst geredet wurde, konnte später auch aufgeschrieben werden. Kleine kehrt hier das Dilemma der historischen Forschung, dass orale Kultur doch nur aus Texten zu erschließen ist, produktiv um. Mundpropaganda, in aller Munde zu sein, war die Bedingung der Möglichkeit für Schriftlichkeit. Unter dem Leitmotiv der fama werden Mirakel als öffentliche Rede, und ihre Verankerung in der mündlichen Kultur sowie die Formen der Rede und Formen von Gesprächssituationen vorgeführt. Dabei betont Kleine die Bedeutungsgenauigkeit des Erinnerten. In den Befragungen zur Authentifizierung der Glaubwürdigkeit von Wundergeschichten, etwa beim Kanonisierungsverfahren, prallten Laien und Klerus, gelehrte Welt und Volksglaube, diskursive, theologische und juristische Wahrheitskonzepte schließlich aufeinander. fama und opinio werden zur ausgehandelten Wahrheit. Die Übergänge vom dictum zum scriptum sind dabei fließend. Die christlich kanonische Prüfung (probatio) der publica fama, "Non solum per testes, sed per famam etiam et scripturas authenticas", gestaltete in einem Ausleseprozess die kollektive Erinnerung. Der Wunderglaube und die Wundergeschichten werden mit einem christlichen, juristischen Wahrheitsanspruch konfrontiert. Augenschein - Glaubwürdige Zeugen so wie eine juristische Semantik - bevölkerten und prägten die späteren schriftlichen Zeugnisse.

Seit dem 11. Jahrhundert wurde schließlich sowohl die pragmatische als auch die kultische Schriftproduktion gesteigert, und in Folge das Kultschriftum pragmatisiert. Das Ineinandergreifen von Sprech- und Schreibakten bezeichnet Kleine treffend als öffentlichkeitsbezogenen Teilvorgang. Das Aufzeichnen selbst fand jedoch im Verborgenen statt. Dabei wurde die Vielstimmigkeit des ursprünglichen Wundergeschehens zur Einstimmigkeit der schriftlichen Wundererzählung. Kleine behandelt sodann Profile, Stile und Ziele der Verschriftlichung: Wann, wo und durch wen werden welche Heilige zu welchem Zweck mit Schriftgut erinnert.

In den vorstellten Mirakelbüchern beschränkt sich der Kreis der Wundertäter auf zwei Grundtypen: Bischof und Fundator. Im Kölner Bischofskult etwa fördern Auftraggeber die Amtsheiligkeit des Bischofs. Stilistisch prägt die Mirakelsammlungen zunächst die Übertragung von der Volkssprache in eine Kunstsprache, ins Lateinische. Die Verschriftlichung erfolgte in mehreren Etappen und über einen längeren Zeitraum: von der Stoffsammlung bis zur endgültigen Niederschrift. Die Intentionen der Verschriftlichung sind, so Kleine, eher schwierig zu bestimmen, denn nach der Verschriftlichung verstummte in der Regel die Überlieferung. Für eine tatsächliche, wie auch immer geartete Benutzung der Bücher finden sich kaum Spuren. Sie scheinen wohl nicht für die Kultpropaganda genutzt worden zu sein. Ihre Funktion lag jenseits von Pragmatik und Performanz. Mirakelbücher waren nach Kleine nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern Glaubens- und Jenseits- relevant. Sie waren an den spezifisch theologischen Wahrheitsdiskurs angebunden; die Erfahrungswelt der Laien wurde eingebettet in den geistlichen Horizont des Klerus. Das gesprochene Wort wurde materiell verfügbar. Die soziale Magie der Schrift verwies unmittelbar auf Vergangenes und umging im Bewusstsein der Zeitgenossen die Schwächen des menschlichen Gedächtnisses. Zugleich stifteten die Mirakelbücher Memoria und erfüllten so eine soziale Aufgabe. Schriftlichkeit verdauerte die vergängliche Rede über Wunder und wurde somit Kern der Erinnerungskompetenz. Sie schuf zudem die materielle Präsenz für die weitere Überlieferung und Präsentation der Erzählung.

Die Fragestellungen von Uta Kleines Untersuchung reichen, dies dürfte bereits die Rezension deutlich gemacht haben, weit über den eigentlichen Gegenstand hinaus. Kleine versucht neben der Einzelanalyse der sechs Mirakelbücher und an deren exemplarischem Beispiel nichts weniger als die Entschlüsselung des Transformationsprozesses von Rede und Schrift, eine "Archäologie" der nichtliterarischen Kommunikation und das Entwirren des historischen Geschehens aus den Netzen der philologischen Semantik. Das schwierige Unterfangen gelingt Kleine in einem außerordentlich hohen Maße mittels einer ungemein genauen, an nahezu sämtlichen wissenschaftlichen Turns der letzten Jahrzehnte geschliffenen Begrifflichkeit, die jedoch immer auf den Quellenbegriff reflektiert und möglichst nahe am Material bleibt, sowie einer ebenso präzisen, systematischen Analyse. Kleines ambitioniertes Ziel mündet in einem nicht minder großen Erkenntnisgewinn.

Michael Rothmann