Rezension über:

Eberhard Kolb: Bismarck (= C.H. Beck Wissen; 2476), München: C.H.Beck 2009, 138 S., ISBN 978-3-406-56276-1, EUR 7,90
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Rezension von:
Karina Urbach
Institute of Historical Research, London
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Karina Urbach: Rezension von: Eberhard Kolb: Bismarck, München: C.H.Beck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 2 [15.02.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/02/16260.html


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Eberhard Kolb: Bismarck

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'Große Männer' zu untersuchen, gilt in der deutschen Geschichtswissenschaft immer noch als ein anachronistisches Unterfangen. Ein biografiehistorischer Ansatz wird als methodisch trivial oder politisch bedenklich abgelehnt. Turnusmäßig bemüht man Pierre Bourdieu, der "ein Leben zu beschreiben als genauso absurd" empfand, wie "eine Metro-Strecke zu erklären, ohne das Streckennetz in Betracht zu ziehen." [1] Die Bourdieu-resistenten Anglo-Amerikaner bleiben daher nicht nur führend, wenn es um die Biografien ihrer eigenen Staatsmänner geht - sie schreiben auch gleich die Biografien aller anderen europäischen Staatsmänner mit.

Nur Otto von Bismarck ist immer ein komplexer Ausnahmefall gewesen. Niemand wurde von deutschen Historikern so geliebt und gehasst wie er. Wer ihn verteidigte, galt als reaktionär - wer ihn angriff, kam aus Bielefeld. Nach Jahrzehnten des politischen Missbrauchs legte Lothar Gall 1980 das Standardwerk 'Der Weiße Revolutionär' vor. Von da an konnte es keine Schwarz-Weiß-Bilder mehr geben. Auch Eberhard Kolb glaubt an eine Farbmischung.

Kolb ist ein Kenner des Bismarckthemas. In seiner 1990 erschienenen Monografie über den Krieg von 1870-71 untersuchte er eine Frage, die Militärs und Politiker bis heute beschäftigt: Wie kommt man aus einem Krieg wieder heraus? In anderen Arbeiten richtete Kolb einen europäischen Blick auf Bismarcks Arbeit und postulierte eine Abwendung von den alten ethnozentrischen Bildern. [2]

Dieses umfangreiche Wissen in einen Überblicksband von 140 Seiten zu destillieren, scheint ein gefährliches Unterfangen. Doch der Autor bleibt bei aller Fülle des Materials souverän und gerät nicht in Gefahr, Bourdieus Warnungen zu ignorieren. Da Kolbs Bismarck zu keinem Zeitpunkt der Mann mit dem 'Meisterplan' ist, bleiben die Vorgaben des Streckennetzes entscheidend.

Es war eine Mischung aus politischen Zufällen und Hilfestellungen von Freunden, die es Bismarck Ende der 1840er-Jahre ermöglichte, die indolente Gutsherrenexistenz hinter sich zu lassen. Kolb beschreibt Bismarck als einen originellen Politiker, der neue Dynamiken schnell erfasste und sie vorteilhaft nutzte - zuerst in Frankfurt mit seiner berühmt gewordenen Zermürbungstaktik und später - in einer subtileren Form von Zermürbung - auf dem europäischen Parkett: "Er war in dem Sinne ein Opportunist, daß er - orientiert am obersten Ziel einer Machtsteigerung des preußischen Staates und der Monarchie - sich bietende Gelegenheiten beim Schopfe packte und nutzte." (59) Es ist daher nicht überraschend, dass Bismarck seine prinzipientreuen Freunde sukzessive verlor, überraschend ist eher, wie lange sie bei ihm ausharrten.

Kolb ist ein Connaisseur bismarckscher Außenpolitik und hier liegen die besonderen Stärken des Buches. Bei Forschungskontroversen bezieht er klar Stellung. Unter anderem widerspricht er Otto Pflanzes Urteil, es habe sich in der Zeit von 1868 bis 70 um eine ernsthafte Stagnation der Deutschlandpolitik gehandelt, aus der nur ein Krieg den Ausweg weisen konnte. Kolb folgt hier Galls Argumentation, dass kein Zeitdruck vorhanden war und kein Kriegsgrund konstruiert werden musste (83). Er sieht folglich auch die vielen Verschwörungstheorien um die Hohenzollernkandidatur als unbegründet an. Bismarck habe Preußen einen politischen Vorteil verschaffen wollen, aber er habe nicht damit rechnen können, dass dies in einen Krieg mit Frankreich ausarten würde. Es war bereits bekannt, wie krank Napoleon III. war und langfristig rechnete man mit einem Regimewechsel in Frankreich. Die aggressive französische Reaktion auf die Thronkandidatur kam daher als eine freudige Überraschung über Bismarck.

Kolb nimmt für die Zeit nach 1870 auch ausführlich zu den innenpolitischen Problemen des Reiches Stellung. Bismarcks "Nervenbankrott" - seine physische und psychische Erschöpfung nach drei Kriegen - hatte sicher Einfluss auf einige seiner erratischeren Handlungen. Kolb nimmt diesen Aspekt ernst, reduziert Bismarcks Kulturkampf jedoch nicht auf die "krankhafte Reizbarkeit" des Reichskanzlers (95). Er sieht für den Ausbruch des Kulturkampfes eine Teilschuld beim Zentrum (vor allem aufgrund der Zentrums-Forderungen, das Deutsche Reich solle sich gegen das Königreich Italien engagieren). Dass Bismarck mit dem Kulturkampf die Liberalen stärker an sich band, wird von Kolb nur als nützlicher Nebeneffekt gesehen. Hauptgrund für die Kulturkampfpolitik war, seiner Meinung nach, auch nicht eine antiklerikale Ideologie, sondern eine Art Nestbauinstinkt: "Ein Präventivkrieg zur Sicherung des Reiches, weil nach [Bismarcks] Auffassung das Zentrum Reichsaufbau und Systemstabilisierung gefährdete." (107)

In die gleiche Kategorie fiel für den Reichskanzler die Sozialdemokratie. Interessant wäre hier noch gewesen, Bismarcks Politik gegen die zwei "Reichsfeinde" in den europäischen Kontext zu setzen. Zusammenfassend kommt Kolb zu dem Schluss, dass Bismarck (trotz der Schaffung eines revolutionären Systems sozialer Sicherung) in der Innenpolitik seine Ziele letztendlich nicht erreicht habe.

In Schutz nimmt er den kurzen Flirt des Reichskanzlers mit der Kolonialpolitik. Thesen über die bismarcksche "Herrschaftssicherung durch sozialimperialistische Manipulation der öffentlichen Meinung" überzeugen ihn nicht. Kolb argumentiert, dass Bismarck einfach eine günstige außenpolitische Konstellation für seinen kolonialen Versuchsballon nutzte und das Experiment sofort abbrach, als sich die politische Situation in Europa geänderte hatte.

Der Pragmatiker Kolb lehnt es ab, Bismarcks Vorgehensweise in Modelle zu zwängen. Darüber hinaus mahnt er an, sich endgültig von ideologischen Interpretationen zu verabschieden und den klinischen Blick zu pflegen. Seine Kurzbiografie ist damit ein gelungener Ausbau des Bismarck-Streckennetzes geworden.


Anmerkungen:

[1] Pierre Bourdieu: L'Illusion Biographique, in: Actes de la recherche en science sociale 62/63 (1986), 69.

[2] Eberhard Kolb: Der Weg aus dem Krieg. Bismarcks Politik im Krieg und die Friedensanbahnung 1870/71, München 1990; Ders. (Hg.): Europa vor dem Krieg von 1870. Mächtekonstellation, Konfliktfelder, Kriegsausbruch, München 1987; Klaus Hildebrand / Eberhard Kolb (Hg.): Otto von Bismarck im Spiegel Europas, Paderborn 2006.

Karina Urbach