Rezension über:

Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900 (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; Bd. 73), Tübingen: Mohr Siebeck 2009, 329 S., ISBN 978-3-16-150094-7, EUR 64,00
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Rezension von:
Klaus Hödl
Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Maren Lorenz
Empfohlene Zitierweise:
Klaus Hödl: Rezension von: Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900, Tübingen: Mohr Siebeck 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 3 [15.03.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/03/17115.html


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Daniel Wildmann: Der veränderbare Körper

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Daniel Wildmann legt mit seinem Buch "Der veränderbare Körper", das aus einer Dissertation bei Heiko Haumann und Saul Friedländer hervorgegangen ist, eine umfassende Studie über Juden in der deutschen Turn- und Sportbewegung im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert vor. Obwohl in verschiedenen Veröffentlichungen über die Entstehung des Zionismus oder das jüdische Organisationswesen, die in den letzten Jahren erschienen sind, immer wieder auch die Turnbewegung angeschnitten worden ist, hat bisher doch eine tiefschürfende Untersuchung darüber gefehlt. Wildmann kann mit seiner Arbeit eine Forschungslücke schließen. Damit ist jetzt schon klar, dass "Der veränderbare Körper" ein Standardwerk darstellen wird, auf das bei einer Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur um die Wende zum 20. Jahrhundert nicht mehr verzichtet werden kann.

Wildmann geht es nicht allein um die Skizzierung der verschiedenen Turnvereine und ihrer Ziele, sondern, wie der Titel seines Buches bereits verrät, auch um das Bild des jüdischen Körpers, mit dem sie arbeiteten. In diesem Punkt konnte sich der Autor bei seinen Forschungen auf eine Reihe von Untersuchungen stützen, die seit den 1980er Jahren entstanden sind. Ihre Verfasser, zu denen u.a. George L. Mosse, Sander L. Gilman, David Biale und John M. Efron gehören, haben dabei vom allgemeinen wissenschaftlichen Interesse an der 'politischen Verfügbarmachung' des Körpers profitiert und verbreitete methodische Ansätze im zeitgenössischen Körperdiskurs speziell auf Juden angewandt. Der allergrößte Teil der zum jüdischen Körper vorgestellten Arbeiten wurde in den USA verfasst. Im deutschen Sprachraum sind nur ganz vereinzelt entsprechende Studien entstanden.

Seit einigen Jahren hat das Interesse am jüdischen Körper deutlich nachgelassen. Die Gründe dafür sind zahlreich. Ein wesentlicher Faktor dürfte in einer verstärkten Evidenzorientierung der Forschung liegen, die konstruktivistische Ansätze in den Hintergrund treten lässt und Kulturwissenschaften ganz allgemein in die Defensive drängt. Auf den jüdischen Körper bezogen, den es nur als Imagination und in seiner diskursiven Verankerung gibt, heißt das, dass die wissenschaftliche Aufmerksamkeit an ihm schwindet. Wenn der jüdische Körper trotzdem behandelt wird, dann bildet er kaum mehr den Schwerpunkt einer Untersuchung. Eine Studie über jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten in den Jahren 1886 bis 1937, die von Miriam Rürup verfasst worden ist, kann als exemplarischer Beleg für diese Entwicklung dienen: Sie spart den jüdischen Körper in ihren Darstellungen zwar nicht aus. Aber das Hauptaugenmerk gilt der Organisationsgeschichte der verschiedenen Vereine. [1]

Wildmanns Arbeit spiegelt die neue Tendenz zumindest partiell wider. Zwar spielt der jüdische Körper im Buch eine wichtige Rolle, aber der Fokus wird auf den Aufbau und die Struktur der Turnvereine gerichtet. Sie bilden den ersten Abschnitt der über 300 Seiten umfassenden Publikation. Für manche Rezipientinnen und Rezipienten mag das Kapitel etwas zu langatmig geraten sein. Aber dafür wird ein profunder Überblick über die Institutionsgeschichte und die vielfältigen Kämpfe um die ideologische Ausrichtung der Turnvereine geboten. Wildmann zeichnet auf der Grundlage eines akribisch analysierten Zeitschriftenmaterials detailliert nach, wie die Turnbewegung um Mitglieder warb, wie sie sich in eine Turn- und Sportbewegung aufspaltete und immer stärker in ein zionistisches Fahrwasser geriet.

Im Anschluss an diese organisationsgeschichtlich orientierten Ausführungen beschäftigt sich Wildmann mit dem Bild des jüdischen Körpers, das in der Turnbewegung vorherrschte und das ihre Aktivitäten bestimmte. Die jüdischen Turn- und Sportvereine sahen die durchschnittliche jüdische Physis, und damit auch die jüdische Psyche, als 'abnormal', d.h. von einem normativen Typus abweichend. Die Organisationen wollten deswegen Juden 'normalisieren', die Entstellungen des jüdischen Körpers korrigieren und gleichzeitig auch von Krankheiten, die unter Juden stärker als unter Nichtjuden vorkämen, befreien. Besonders in Osteuropa sollen körperliche und geistige Defekte unter Juden häufig gewesen sein. Sie wurden insbesondere auf das religiöse Schulsystem, den ganztätigen Unterricht im Cheder ohne körperliche Betätigung und das religiöse Studium zurückgeführt. Bei Letzterem wurde das Schokeln, also das Vor- und Zurückwippen beim Lesen, für Verkrümmungen der Wirbelsäure und im Weiteren für den schiefen Gang der Juden verantwortlich gemacht. Beim Turnen, so wurde behauptet, könne eine stramme Körperhaltung erlernt werden.

In diesem Kontext war es nicht weiter erstaunlich, dass immer wieder einzelne Juden, die sich zu besonderen 'Kraftmenschen' entwickelten oder sich in kampfbetonten Sportarten auszeichneten, besonders geschätzt wurden. Sie galten als lebender Beweis für die Unrichtigkeit antisemitischer Vorurteile, wonach Juden gleichsam einen rassisch bedingten 'abnormalen' und schwachen Körper hätten.

Zu diesem Thema sind in den letzten Jahren einige interessante Studien erschienen. Sie betreffen beispielsweise den in Polen geborenen Siegmund Breitbart, der seine Kraft öffentlich zur Schau stellte und mit seinen Performances durch Europa reiste, oder den Entfesselungskünstler Houdini. In der Zwischenzeit ist auch die Geschichte der jüdischen Boxer sowie der jüdischen Gangster, die ebenfalls zum Symbol des durchsetzungsstarken Juden wurden, detailliert nachgezeichnet worden. Wildmann selbst beschäftigt sich in diesem Kontext mit Stanislaus "Zbysko" Czyganiewicz, der 1906 Weltmeister der Berufsringer im Schwergewicht wurde. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Czyganiewicz einen ostjüdischen - herkuleischen - Körpertypus darstellte, der auch proletarisch genannt werden konnte, während unter den Westjuden eher der bürgerlich-harmonische Körpertypus des schlanken Athleten geschätzt wurde. Daran ersieht man, dass die verbreitete Unterscheidung zwischen Ost- und Westjuden selbst im zeitgenössischen Körperdiskurs zu finden war.

Im Abschlusskapitel beschäftigt sich Wildmann mit dem weiblichen Turnen und Sport. Damit betritt er weitgehend Neuland. Der Abschnitt rundet die gesamte Publikation, die als außerordentlich gelungen bezeichnet werden kann, ab.


Anmerkung:

[1] Mirjam Rürup: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886-1937 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden XXXIII), hg. von Stefanie Schüler-Springorum / Andreas Brämer, Göttingen: Wallstein Verlag 2008.

Klaus Hödl