Rezension über:

Ursula Bitzegeio / Anja Kruke / Meik Woyke (Hgg.): Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik (= Politik- und Gesellschaftsgeschichte; Bd. 84), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2009, 528 S., ISBN 978-3-8012-4193-3, EUR 38,00
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Rezension von:
Swen Steinberg
Technische Universität, Dresden
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Swen Steinberg: Rezension von: Ursula Bitzegeio / Anja Kruke / Meik Woyke (Hgg.): Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert. Beiträge zu Gewerkschaften, Nationalsozialismus und Geschichtspolitik, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/17211.html


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Ursula Bitzegeio / Anja Kruke / Meik Woyke (Hgg.): Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert

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Bei dem in der Schriftenreihe des Historischen Forschungszentrums der Friedrich-Ebert-Stiftung erschienenen Band zu "Solidargemeinschaft und Erinnerungskultur im 20. Jahrhundert" handelt es sich um eine Festschrift für Michael Schneider. Dem Charakter solcher Publikationen entsprechend, bilden sich auch hier die Forschungsinteressen des Jubilars in der Struktur des Bandes ab, die vorrangig von "der Frage nach der Entstehung, dem Erhalt, den Ausprägungen und auch dem Bruch von Solidarität in einer Gesellschaft und nach der hiermit verbundenen Erinnerungskultur" (11) geleitet waren. In der Einleitung erläutern die Herausgeber Geschichte und Wirkungsgeschichte der dem Band übergeordneten Begriffe, wobei sie richtigerweise für eine Kontextualisierung und vor allem Historisierung des zentralen Terminus Solidarität plädieren. Das betonte Potential, davon ausgehend eine komparative angelegte Geschichte "sich wandelnder Solidaritätsvorstellungen" (13f.) zu schreiben, die gleichsam Motive und Auseinandersetzungen der Akteursebene berücksichtigt, scheint so einleuchtend wie vielversprechend. Zumal der Begriff Solidarität selbst aufgrund der ideengeschichtlichen Tradition beziehungsweise Wissenschaftskultur in der deutschen Geschichtswissenschaft erst spät "von der traditionellen Klassenkategorie" (15) abgelöst wurde. Dieser Ansatz mündet in einem konzeptionellen Dreischritt, der von den Gewerkschaften als Träger von Solidarität über den Nationalsozialismus als Phase des Bruchs und der Fortführung derselben hin zu Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur führt.

Im ersten Abschnitt des Bandes finden sich zehn Beiträge, die sich eingehend mit verschiedenen Facetten des Bereiches "Gewerkschaften und sozialer Wandel" auseinandersetzen. Im Vordergrund stehen dabei Genese wie auch Erfolge und Grenzen der Entwicklung von "Solidargemeinschaften der Arbeiterschaft" (20), die an Beispielen aus verschiedenen europäischen Staaten aufgezeigt werden. Thomas Welskopp und Andreas Wirsching thematisieren dabei - auch in komparatistischer Absicht - die USA und Frankreich, Friedhelm Boll geht zudem auf das Verhältnis von deutschen Gewerkschaften und polnischer Solidarność ein. Weitere Beiträge des Abschnitts widmen sich 'randständigen' Phänomen des Sammelbandthemas - nämlich solchen Gruppen, die jenseits von Solidargemeinschaften standen oder erst spät von solchen wie den Gewerkschaften 'entdeckt' wurden: Gisela Notz zeigt dies am Beispiel der Weberinnen, Rainer Fattmann stellt die Entwicklung der Interessenvertretung der Landarbeiter vor. Mit dem Beitrag von Hans-Otto Hemmer wird zudem ein Teil der personalen Eigengeschichte des DGB bearbeitet, indem die Strategien und Machtansprüche bei den Wechseln des Vorsitzes zwischen 1951 und 2002 beleuchtet werden. Prozesse, die in ihrem Verlauf auch Formen der Entsolidarisierung beziehungsweise der bewusst verweigerten Solidarität aufwiesen.

Dem folgen im zweiten Abschnitt des Bandes fünf Beiträge zum Thema "Anpassung und Widerstand in der nationalsozialistischen Diktatur", wobei auch hier Fragen der Struktur- beziehungsweise Organisationsgeschichte behandelt werden - so beispielweise durch Rüdiger Hachtmann, der sich den Spitzenfunktionären der Deutschen Arbeitsfront zuwendet oder Karl Christian Führer, der die nationalsozialistische Lohnpolitik im Baugewerbe vorstellt. Beide Autoren können dabei auch die Rolle des 'kulturellen Überhangs' innerhalb der Arbeiterschaft nachweisen, der für bestimmte Zwangsmaßnahmen der nationalsozialistischen Lohn- und Arbeitsmarktpolitik entscheidend war und beispielsweise auf eine gezielte Entsolidarisierung der Arbeiter untereinander abzielte. Die drei folgenden Beiträge dieses Abschnittes thematisieren verschiedene Zugänge zum Nationalsozialismus - so den Zustand der evangelischen Kirche als Solidargemeinschaft in Hamburg (Rainer Hering) und die frühen intellektuellen Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Ideologie, die Peter Steinbach am Beispiel des weitgehend unbekannten niederländischen Historikers Johan Huizinga vorstellt. Mit Wilhelm Leuschner wird dagegen durch Johannes Tuchel eine bekannte Persönlichkeit des gewerkschaftlichen Widerstandes thematisiert, welche in der nationalsozialistischen Darstellung innerhalb des Prozesses vor dem Volksgerichtshof im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 durch ein individualisiert-ehrgeiziges Bild bewusst aus der widerständigen Solidargemeinschaft herausgelöst werden sollte.

Der Band wird durch den Abschnitt "Historiografie und Geschichtspolitik nach 1945" beschlossen, der elf Beiträge umfasst. Darin werden drei thematische Schwerpunkte gesetzt, die gleichsam als für die Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur und deren mittlerweile Platz greifende Historisierung stehend angesehen werden können. Es sind dies einmal die gesellschaftlichen Debatten um die Deutung von Vergangenheit und deutscher Verantwortung, wie sie beispielsweise in den Beiträgen von Heinrich Potthoff über die Entschädigung von NS-Opfern oder den von Brigitte Seebacher vor allem analysierten "Historikerstreit" vorgestellt werden. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt des Abschnittes befasst sich mit Mythen und Geschichtsbildern, die sich zumeist nur aus ihrem Entstehungskontext heraus erläutern lassen. Klaus Schönhoven widmet sich dabei den vermeintlichen Kontinuitäten, welche - so Götz Aly 2005 - der bundesdeutsche Sozialstaat bruchlos vom Nationalsozialismus übernommen habe. Darüber hinaus setzt sich Helga Grebing mit dem Begriff der "Volksgemeinschaft" auseinander, Karsten Rudolph zeigt die geschichtspolitischen Dimensionen und Deutungen der Revolution 1918/19 mit Blick auf das Bild der SPD auf. In einem dritten Schwerpunkt beschäftigen sich mehrere Beiträge mit aktuellen beziehungsweise wenige Jahre zurückliegenden Debatten um die deutsche Erinnerungslandschaft. Christoph Classen befasst sich dabei mit dem Antifaschismus und den Folgen der Auseinandersetzung für die Frage der Legitimität der DDR, Peter Brandt geht auf Debatte und Nutzen eines "nationalen Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin" ein. Beschlossen wird der Band von Jürgen Kocka, der einem grundsätzlichen Blick auf die Thematik Erinnerungskultur und Geschichtspolitik nach 1989 wirft.

Der Charakter einer Festschrift hat den Herausgebern ohne Frage thematische Grenzen gesetzt, welche - dies sei abschließend kritisch angemerkt - auch die Desiderata der Forschung deutlich machen. Schließlich findet sich, Christoph Classens Aufsatz ausgenommen, in dem Band kein Beitrag zu einem ostdeutschen Thema, so beispielsweise zu personalen Kontinuitäten wie auch doppelten Verfolgungsbiographien im gewerkschaftlichen wie sozialdemokratischen Spektrum nach 1945. Gleichsam wird der Zusammenhang von Eigengeschichte und erinnerungskultureller Konstruktionen der deutschen Gewerkschaften in beiden deutschen Staaten nicht thematisiert. Hier wäre eine stärkere konzeptionelle Engführung der Hauptbegriffe des Bandes wünschenswert gewesen, der die drei Teilbereiche der Beiträge möglicherweise besser verzahnt hätte. Auffällig ist jedenfalls, dass die ersten beiden Komplexe - Gewerkschaften und Nationalsozialismus - zum Teil sehr detailliert exemplifiziert werden, der dritte Bereich der Geschichtspolitik hiervon aber abgekoppelt steht und weitgehend nur auf 'Metadiskurse' abhebt. Fragen der Vermittlung und Modifikation bleiben damit aber ebenso ausgeklammert, wie Medien und generell Themen gewerkschaftlicher Erinnerungskultur beziehungsweise Geschichtspolitik.

Dennoch, dies soll abschließend ausdrücklich hervorgehoben werden, Ursula Bitzegeio, Anja Kruke und Meik Woyke haben einen vielseitigen und wissenschaftlich exzellenten Band vorgelegt, der vor allem in den Detailstudien und den komparativ angelegten Aufsätzen neue Perspektiven der deutschen wie internationalen Sozialgeschichte aufzuzeigen in der Lage ist. Und dessen Lektüre zweifelsohne nicht nur dem Jubilar Freude bereiten wird.

Swen Steinberg