Rezension über:

Christoph Schulte / Andreas Kennecke / Grazyna Jurewicz (Hgg.): Moses Mendelssohn. Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Band 1: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik 1755-1771. Band 2: Schriften zu Aufklärung und Judentum 1770-1786, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, 436 S. + 382 S., ISBN 978-3-534-15872-0, EUR 99,90
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Rezension von:
Anne Pollok
Stanford University
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Anne Pollok: Rezension von: Christoph Schulte / Andreas Kennecke / Grazyna Jurewicz (Hgg.): Moses Mendelssohn. Ausgewählte Werke. Studienausgabe. Band 1: Schriften zur Metaphysik und Ästhetik 1755-1771. Band 2: Schriften zu Aufklärung und Judentum 1770-1786, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 6 [15.06.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/06/15816.html


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Christoph Schulte / Andreas Kennecke / Grazyna Jurewicz (Hgg.): Moses Mendelssohn. Ausgewählte Werke. Studienausgabe

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Wer über Moses Mendelssohn arbeitet, kann sich kaum der irenischen Ausstrahlung dieses jüdischen Denkers der Aufklärungszeit entziehen. Eine gesunde Skepsis gegen himmelstürmende Neuigkeiten war ihm ebenso eigen wie ein - halbwegs zuverlässiger - Instinkt für echte Innovationen. So hat er früh das Potential eines Burke, Rousseau oder Hume wie auch die Fruchtbarkeit einer dynamischen, von der Wolffschen Schulphilosophie abweichenden Interpretation der Philosophie Leibniz' erkannt. Im aufkommenden Kantischen Kritizismus hingegen sah er nur zerstörerische Kraft ohne konstruktive Tendenz; eine Richtung also, der er nicht zu folgen beschloss. Deshalb war der Denker Mendelssohn lange Zeit vergessen; in der Rezeption überwog das Bild des rückwärtsgewandten "Vollkommenheitsmanns" (Schiller). Die umfassende Aufarbeitung und Edierung von Mendelssohns Werk seit Ende des vergangenen Jahrhunderts hingegen lädt zu einer gerechteren Reflexion ein und räumt mit vorschnellen Urteilen gründlich auf. Die vorliegende Studienausgabe, die einige der wichtigsten Schriften des jüdischen Aufklärers präsentiert, ist dafür beispielhaft.

Es mag nun gerade angesichts der herausragenden Arbeit an der bald abgeschlossenen Jubiläumsausgabe der Gesammelten Werke Mendelssohns, aber auch aufgrund der jüngst erschienenen, spezifischen Bereichen wie der Ästhetik oder Metaphysik gewidmeten Editionen im Felix-Meiner-Verlag bezweifelt werden, ob die vorliegende Ausgabe dem selbstgesetzten Anspruch, "sämtliche wichtige Werke neu zu präsentieren" (Umschlagsrückseite) gerecht wird. Doch das etwas bescheidenere Ziel, sie für den "Gebrauch in Schulen und Universitäten sowie in öffentlichen und privaten Bibliotheken" (Bd. 1, 7) zu erschließen, ist ebenfalls begrüßenswert.

Den Herausgebern der Studienausgabe ist in jedem Falle ein fachlich ausgereiftes und zutreffendes Urteil zuzutrauen. So firmiert Christoph Schulte - Autor des Standardwerks Die jüdische Aufklärung (München 2002) und Professor für Philosophie und Jüdische Studien an der Universität Potsdam - als Hauptherausgeber und Verfasser der einleitenden Texte. Ihm zur Seite zeichnen Andreas Kennecke und Grazyna Jurewicz, wissenschaftlicher Mitarbeiter beziehungsweise Doktorandin am selbigen Institut, verantwortlich für die editorische Arbeit. Insgesamt, so informiert die kurze Einleitung, ist die Ausgabe am Seminar entstanden; einmal mehr konnte Mendelssohn posthum als Aufklärer tätig und durch ihn die Studenten an die so wichtige editorische Aufbereitung der Quellen ihrer Studien herangeführt werden.

Der erste Band versammelt die wichtigsten Werke aus Mendelssohns erster Schaffensphase von 1755 bis 1771, der zweite Band beleuchtet die Zeit bis zur letzten Veröffentlichung 1786. Eine intelligente Aufteilung: so ist das Frühwerk vornehmlich mit Studien zur Ästhetik und Metaphysik befasst - und wäre es nach Mendelssohn gegangen, so hätte sich daran auch in den späteren Lebensjahren nichts Nennenswertes geändert. Was also geschah in den frühen 1770er Jahren? Der Sache nach fand seine Theorie der "vermischten Empfindungen" ihre erste Formulierung; Mendelssohn vollzog damit die Wende von einer reinen Vollkommenheitsästhetik zu einer mehr subjektzentrierten Auffassung. Doch ist unbestreitbar, dass das Vollkommenheitsparadigma bis 1786 erhalten blieb (und auch einen Grund darstellte, warum Mendelssohn Kant ablehnen musste). Nein, es war ein politisches, persönlich höchst unwillkommenes Ereignis, das Mendelssohn 1770 zu einer Neuorientierung zwang. In dieser Zeit begann die öffentliche und für den lediglich den Status eines "außerordentlichen Schutzjuden" genießenden Berliner "Bürger" gefährliche Auseinandersetzung mit Johann Caspar Lavater, dessen Part später von anderen, prominent Friedrich Heinrich Jacobi übernommen und variiert wurde. Alexander Altmann bezeichnet Lavaters Herausforderung in seiner bis heute unerreichten Biographie Mendelssohns (1972) als "turning point" in dessen Leben; und auch Dominique Bourel in seiner umfangreichen Biographie (deutsch 2007) reflektiert auf diesen Dreh- und Angelpunkt des Mendelssohnschen Oeuvres.

Von nun an musste Mendelssohn, der 1763 mit dem Preis der Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet und damit berühmt wurde, öffentlich Stellung nehmen zu einem Thema, das er für gefährlich und gar unphilosophisch hielt: seinen Glauben. Er müsse, so Lavaters Forderung, entweder die Superiorität des Judentums beweisen oder - öffentlichkeitswirksam - zum Christentum übertreten. Der "deutsche Moses" war freilich weder zu letzterem bereit noch sah er sich grundsätzlich zu ersterem in der Lage und verbrachte den Rest seines Lebens damit, seine Weigerung eines solchen Beweises philosophisch zu rechtfertigen. Besonders eindrucksvoll geschieht dies im Jerusalem (1783), der Immanuel Kant zu einer berührenden Lobrede veranlasste, in dem Wunsch gipfelnd, die Christenheit möge auch über einen so eloquenten wie philosophisch versierten Verteidiger verfügen. Zwar konnte Mendelssohns rationalistische Reduktion des Judentums in der Folgezeit nicht überzeugen; doch als Vater der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ist seine Bedeutung nicht zu unterschätzen. Begrüßenswerterweise umfasst Band 2 der Studienausgabe einige Arbeiten zu diesem Thema, die Mendelssohns unermüdliches Bemühen um seine Glaubensbrüder - aber auch seine Forderungen an sie - dokumentieren. Dabei werden nicht - wie im ersten Band - lediglich veröffentlichte Werke von Buch(oder "Büchlein"-)Länge berücksichtigt, sondern mithilfe von Notizen, Briefen und kurzen Texten wird ein Überblick über die Tiefen dieser Auseinandersetzung gegeben.

Der Abdruck aller Schriften erfolgt in chronologischer Ordnung, die lediglich für die sequenzielle Wiedergabe der "Rhapsodie" unterbrochen wird, die zuerst 1761, überarbeitet 1771 in den Philosophischen Schriften erschien und die Modifikationen in Mendelssohns ästhetischer Theorie in nuce aufweist. Die Herausgeber haben sich für den Abdruck der jeweiligen Erstausgaben entschieden, was leider die dynamische Entwicklung derjenigen Arbeiten, die Mendelssohn in den Philosophischen Schriften zusammenfasste und dafür zweimal überarbeitete, nicht adäquat abbilden kann. Der Nachteil dieser Wahl wird zum Beispiel in den "Philosophischen Gesprächen" (zuerst 1755) deutlich: das dritte Gespräch wurde 1761/71 stark verändert und als eine Erwiderung zu Voltaires Leibniz-Parodie im Candide (1756) neu konzipiert. Mehr als diese Information des Einleitungstexts erhält der Leser leider nicht. Auch werden die tiefgreifenden Umarbeitungen in den "Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften" (zuerst 1757), die den Einfluss Baumgartens erst sichtbar werden lassen (und auch vermutlich auf die nach 1757 intensivierte Baumgarten-Lektüre hinweisen) nicht verzeichnet; noch erfährt der geneigte Leser von der Änderung des Titels in "Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften".

Die vorliegende Studienausgabe gibt keine hochgelehrte und ermüdende Gesamteinleitung, sondern den jeweiligen Texten voranstehende Einführungen; sie enthalten eine Einordnung zu Kontext und Wirkungsgeschichte und/oder eine knappe Textanalyse. Wichtige Bezugspunkte werden genannt und stellen Mendelssohn in den Kontext seiner Zeit - seinem Widerstand gegen die französisch dominierte Berliner Akademie der Wissenschaften wird ebenso Beachtung geschenkt wie den politisch-religiösen Verwirrungen der späten Jahre. Der große Bogen wird angedeutet (wie zum Beispiel der Wandel von Vollkommenheitsästhetik zu stärkerer Psychologisierung: Bd. 1, 44 und 218), muss aber dennoch in der Zusammenschau der jeweils zusammenhängenden Werke vom Leser selbst vollzogen werden. Dies ist kein Nachteil, da es zur eigenständigen Synthese einlädt - und Mendelssohn sich ohnehin nicht auf die einzig gültige Zusammenstellung und Interpretation reduzieren lässt.

Insgesamt ist die Kürze der Einleitungen vorteilhaft, doch gerät die Darstellung in manchen Aspekten leider arg knapp. So findet beispielsweise die berühmte Trauerspieldebatte mit Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing keine Erwähnung, obwohl sie die Diskussion über den bühnenwirksamen Selbstmord einiges an Klarheit gewinnen lässt. Auch wird in der Einleitung der "Evidenzschrift" nicht deutlich, wie wichtig der Preis für die Anerkennung des mit keiner Universität oder Akademie offiziell affiliierten Autodidakten und Juden war; ebenso wenig findet die Begründung von Mendelssohns Ruhm als popularphilosophischer Schriftsteller durch den Phädon (1767) Erwähnung.

Neben einer allgemeinen Bibliographie am Ende des zweiten Bandes enthält auch jede Einleitung einen kurzen Verweis (zumeist nicht mehr als ein bis zwei Titel) auf weiterführende Literatur zu einzelnen Werken. Als größtes Manko ist hier eine eindeutige Verengung auf den deutschsprachigen Raum zu beklagen. In den letzten Jahren hat sich die Mendelssohn-Rezeption auch jenseits des Atlantiks deutlich ausgeweitet - einige der besten Studien zu Mendelssohns Haltung hinsichtlich der Haskala, aber auch zu seiner Rolle innerhalb der Aufklärung finden sich bei David Sorkin (ein älteres Werk von 1987 wird in der allgemeinen Bibliographie erwähnt), Allan Arkush, Lorne Falkenstein und Corey Dyck, um nur wenige Beispiele zu nennen. Auch hätte man sich für die großen Schriften wie Jerusalem und die Morgenstunden aktuellere und umfassendere Angaben gewünscht.

Wen der Wunsch nach tiefergehender Lektüre bewegt, kann sich über die Paginierung der Jubiläumsausgabe näher an den Originaltext wagen oder den Literaturhinweisen folgen. Das Druckbild ist wunderbar klar; Kolumnentitel mit Werknamen erleichtern die Orientierung. Zwar fehlt ein Sachverzeichnis, das auf die enge Verzahnung einiger zeitlich weit auseinander liegender Werke hinwiese und zu einem synthetischen Lesen anregte - doch für ein studientaugliches Denkmal des großen jüdischen Denkers der Aufklärung kann man sich kaum mehr wünschen als diese handliche wie umfassende Edition.

Anne Pollok