Rezension über:

Marc Deramaix / Perrine Galand-Hallyn / Ginette Vagenheim et al. (éds.): Les Académies dans l'Europe humaniste. Idéaux et pratiques (= Travaux d'Humanisme et Renaissance; No. CDXLI), Genève: Droz 2008, 702 S., ISBN 978-2-600-01175-4, EUR 113,85
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Rezension von:
Albert Schirrmeister
SFB 644 "Transformationen der Antike", Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Albert Schirrmeister: Rezension von: Marc Deramaix / Perrine Galand-Hallyn / Ginette Vagenheim et al. (éds.): Les Académies dans l'Europe humaniste. Idéaux et pratiques, Genève: Droz 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/15325.html


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Marc Deramaix / Perrine Galand-Hallyn / Ginette Vagenheim et al. (éds.): Les Académies dans l'Europe humaniste

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Akademien in der Frühen Neuzeit stehen bereits seit längerem im Fokus der Forschung. Der hier zu besprechende Band trägt im Titel den Anspruch, Ideale und Praktiken der Akademien in Europa zu beschreiben. Er tut dies gewissermaßen in Form eines Puzzles: Einschließlich eines Vorwortes von Marc Fumaroli gibt der Band Beiträge einer Pariser Tagung des Jahres 2003 in italienischer, französischer und englischer Sprache wieder. In einem Vorspann beschreibt Carlos Lévy, wie aus der konkreten platonischen Akademie ein lieu de mémoire mit einer dauerhaften Bedeutung über alle tatsächlichen institutionellen Brüche hinweg wurde. Daran schließen sich 28 Beiträge in unterschiedlicher Ausführlichkeit an, die sich, räumlich geordnet, in Fallstudien einzelnen Akademien widmen. Der Band schließt mit einem Namensindex, das mythologische Gestalten ebenso umfasst wie moderne Autoren. Bibliographien sind an die jeweiligen Einzelbeiträge angeschlossen, fast immer getrennt in Quellen und Sekundärliteratur (eine Ausnahme ist die Liste im Anschluss an den Beitrag von Ginette Vagenheim [125-127], die Quellen und Sekundärliteratur nicht unterscheidet). Die Qualität der Illustrationen, die durchweg wichtige Funktionen für den Gang der Argumentation haben, ist eher mangelhaft. Eine zusammenfassende Einleitung oder Schlussbemerkung sucht man vergeblich.

Der Schwerpunkt des Bandes liegt mit 15 Beiträgen und gut der Hälfte des Umfangs auf Beiträgen zu italienischen Akademien (vier Beiträge zu Rom, drei zu Florenz, vier zu Neapel, ein Beitrag zu Bologna und drei Beiträge "auf Wegkreuzungen", wie es im Inhaltsverzeichnis heißt). Der zweite Teil ist im Inhaltsverzeichnis zwar überschrieben mit "Les académies dans l'Europe du Nord", behandelt tatsächlich aber lediglich französische, sogar allein Pariser Akademien - mit einer Ausnahme, nämlich einem Beitrag von Lucia Simonato, die Joachim von Sandrart und dessen "Teutsche Academie der Bau-, Bild-, und Mahlerey-Künste" in den Blick nimmt (427-455).

Dass das Puzzle somit nicht vollständig sein kann und Europa hier allein für Italien und Frankreich steht, ist offensichtlich. Die Verlagswerbung trägt dann auch dicker auf als die Einzelbeiträge, wenn dort behauptet wird: "Les Académies dans l'Europe humaniste is the first work of its kind on the subject, taking a fresh look at the academic movement in Europe until 1600." Schon im Vorwort verweist Marc Fumaroli auf eine Konferenz zu italienischen Akademien im 16. Jahrhundert, deren Ergebnisse auch in den Beiträgen selbstverständlich wahrgenommen werden. [1] In keinem Beitrag rezipiert worden ist dagegen das zweibändige Ergebnis ebenfalls einer Pariser Konferenz, das allerdings in Deutschland und nahezu ausschließlich in deutscher Sprache veröffentlicht wurde: Dass es für den Band insgesamt und spezieller für einige Beiträge von Nutzen gewesen wäre, das tatsächlich ganz Europa umspannende (und ebenfalls geographisch geordnete) Werk über "europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition" [2] wahrzunehmen, wird bei einzelnen Artikeln immer wieder deutlich.

Es ist wohl kein Zufall, dass es besonders Beiträge sind, die auf französischen thèses oder Dissertationen beruhen, die übergreifende Gedanken entwickeln. Am ehesten Aufschlüsse über die Frage, was Akademien sind und wie sie sich untereinander und von anderen "Institutionen der Gelehrsamkeit" [3] unterscheiden, sind in den "römischen" Aufsätzen von Concetta Bianca (Pomponio Leto e l'invenzione dell'Accademia Romana), Paola Farenga (Considerazioni sull'Accademia Romana nel Primo Cinquecento) und Rachel Bindman (A Hitherto Neglected Aspect of the Pedagogical Program of the Accademia dei Lincei [1605-1624 ca.]) zu finden sowie in den Aufsätzen von Anne Rolet (L'Hermathena Bocchiana ou l'idée de la parfaite académie - sehr lesenswert in ihrer Analyse der Zusammenhänge baulicher und literarischer Stilisierung), Stéphane Rolet (Pierio Valeriano et la tentation de l'académie) und dem in einer eigenen Rubrik "L'héritage" eingeordneten Aufsatz von Marie-Elisabeth Boutroue (Paolo Boccone et l'Académie Bourdelot), die die Académie Bourdelot in einem sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Zugriff als Vorläufer der Académie des Sciences betrachtet. Erst in einer durchgehenden Lektüre der verschiedenen Aufsätze aber werden die unterschiedlichen Intentionen, die sich mit Akademie-Vorstellungen verbinden, wirklich deutlich.

So weist Concetta Bianca nach, dass bei Pomponius Laetus und in seinem Umkreis nicht lediglich eine terminologische Differenzierung zwischen der einer universitären Institutionalisierung zustrebenden accademia und der einen informellen Freundeskreis beschreibenden sodalitas gefunden wurde (42), während noch bei Poggio Bracciolini accademia eben genau diesen Freundeskreis und die Gespräche im otium beschrieben hatte (32). Gerade bei dem Nachweis solcher semantischer Verschiebungen wäre es sicherlich aufschlussreich und hilfreich gewesen, die Ergebnisse Laetitia Boehms zur Kenntnis zur nehmen, die bereits 1996 für die mittelalterlichen Gelehrtengemeinschaften Gebrauch und Bedeutungswandel der einschlägigen Begriffe Schule, Akademie, Universität und Studium untersucht hat.[4] In Aufsätzen wie dem von Alfredo Perifano (Académiciens et Barbares dans les Novae Academiae Florentinae Opuscula [1533 et 1534]) wird die konfliktbehaftete Situation im Italien des 16. Jahrhunderts zwischen Akademien und Universitäten sehr plastisch: Perifano weist dabei auf die semantische Nähe von secta und Academia hin und betont den Aspekt der Gruppenidentität, der sich mit der Zugehörigkeit zu Akademie verbinden kann. Stéphane Rolets Beitrag zeichnet im Detail nach, wie Pierio Valeriano in seinen Hieroglyphica in den Widmungen der einzelnen Teile eine Akademie außerhalb der zeitlichen Grenzen konstruiert. Rachel Bindmans Beitrag hingegen beschreibt, wie ein überregionaler Zusammenschluss von Akademien tatsächlich versucht wurde und wie dabei auch zwischen den Akademie-Mitgliedern unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle von Öffentlichkeit, Publizistik und Geheimnis Konflikte befördern.

Der französische Teil des Bandes zeigt eine in doppelter Hinsicht andere Akademienlandschaft: Zum einen wird neben Akademien, die sich eher naturwissenschaftlichen und literarischen Themen widmen, hier auch die Académie de Poésie et de Musique behandelt. Zum anderen aber wird hier eine viel stärkere Bindung der Akademien an politische Macht und eine Verbindung zu politischen Konflikten deutlich. So zum Beispiel explizit in dem Beitrag von Yvonne Roberts, die im Konflikt zwischen König Heinrich III. und den Guises die Rolle der Académie de Poésie et de Musique untersucht. Nicht klar wird aber, ob diese andere Akademienlandschaft der Auswahl der Fallstudien geschuldet ist oder tatsächlich einigermaßen repräsentativ ist.

Insgesamt ist es also auch nicht das Problem des Bandes, dass das Puzzle der europäischen Akademien unvollständig bleibt. Vielmehr ist es eher so, dass gewissermaßen die Verbindungsstücke der einzelnen Puzzleteile entweder nicht zu einander passend gemacht oder gar geradezu abgeschnitten werden. Nur ganz selten einmal finden sich explizite Bezugnahmen auf andere Beiträge im Band. Der durchaus sinnvolle Einstieg mit Lévys Beitrag zur antiken Akademie wird nahezu vollständig verschenkt. Dass die Puzzleteile in einer lokalen Ordnung stehen, führt zudem dazu, dass ähnliche Erkenntnisinteressen unterschiedlicher Beiträge erst bei einer vollständigen Lektüre des ganzen Bandes sichtbar werden.

Diese ärgerlichen Rezeptionshindernisse ändern nichts daran, dass die einzelnen Aufsätze, die alle in großer Quellennähe verfasst sind, nahezu durchweg von hoher Qualität sind und für ihren jeweiligen Fall valide Ergebnisse bereitstellen, die weiteren Arbeiten eine gute Grundlage bereitstellen, um vergleichende Studien durchzuführen.


Anmerkungen:

[1] David S. Chambers / François Quiviger (eds.): Italian Academies of the sixteenth century, London 1995.

[2] Klaus Garber / Heinz Wismann (Hgg.) unter Mitwirkung von Winfried Siebers: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung, 2 Bde., Tübingen 1996.

[3] So der Untertitel eines ebenfalls ignorierten, schon älteren Sammelbandes: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hgg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1987.

[4] Laetitia Boehm: Organisationsformen der Gelehrsamkeit im Mittelalter, in: Garber / Wismann / Siebers: Europäische Sozietätsbewegung (wie Anm. 2), Bd. 1, 65-111, hier 68-88.

Albert Schirrmeister