Rezension über:

Anne-Marie Mercier-Faivre / Chantal Thomas (éds.): L'Invention de la Catastrophe au XVIIIe siècle. Du châtiment divin au désastre naturel (= Bibliotheque des Lumières), Genève: Droz 2008, 543 S., ISBN 978-2-600-01204-1, EUR 60,72
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Rezension von:
Christine Vogel
Historisches Institut, Universität Rostock
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Christine Vogel: Rezension von: Anne-Marie Mercier-Faivre / Chantal Thomas (éds.): L'Invention de la Catastrophe au XVIIIe siècle. Du châtiment divin au désastre naturel, Genève: Droz 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/15326.html


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Anne-Marie Mercier-Faivre / Chantal Thomas (éds.): L'Invention de la Catastrophe au XVIIIe siècle

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Die Katastrophe als Gegenstand heterogener gesellschaftlicher Repräsentationen ist eine Erfindung des 18. Jahrhunderts - dies ist die Ausgangsthese des von Anne-Marie Mercier-Faivre und Chantal Thomas herausgegebenen Tagungsbandes, der 27 Beiträge aus unterschiedlichen Fachrichtungen versammelt. Vom Zeichen göttlicher Allmacht und Gegenstand theologischer Interpretation habe sich die Katastrophe im Zeitalter der Aufklärung zu einem für unterschiedliche Reaktionen und Deutungsmuster offenen Analyseobjekt entwickelt. Als solches biete es einen privilegierten Zugang zum Verständnis der gesamten Epoche. Diese These wird anhand diverser Fallbeispiele beleuchtet, wobei die schiere Menge der vorgestellten Studien der Ausgangsthese zweifellos eine große Plausibilität verleiht. Dennoch bleibt eine gewisse Frustration zurück angesichts der Tatsache, dass die Idee einer "Laizisierung des Desasters" (29) im 18. Jahrhundert an sich unhinterfragt bleibt. Thematisch fokussiert auf Katastrophen-Diskurse in Wissenschaft, Kunst und Medien wird hier vielmehr ein weiteres Mal die Meistererzählung von der Emanzipation des wissenschaftlichen Denkens und der ästhetischen Praxis von den Fesseln religiöser Traditionen im Zeitalter der Aufklärung bedient.

Der Band zeichnet diese Bewegung in vier Sektionen nach, die jeweils einen wissens-, einen medien- sowie einen kunst- und literaturgeschichtlichen Zugang dokumentieren. Die dritte Sektion fällt insofern aus der Systematik heraus, als sie eine Reihe von Arbeiten über Texte von Augenzeugen zusammenfasst. Die wohl berühmteste Naturkatastrophe des 18. Jahrhunderts, das Erdbeben von Lissabon (1755), wird weitgehend ausgeklammert zugunsten weniger bekannter oder gar "alltäglicher" (9) Katastrophen - und nicht zuletzt wohl auch, weil es dazu bereits eine Reihe von Studien gibt. Ein Nachwort von J.-P. Dupuy schlägt den Bogen zur Gegenwart und betont die Notwendigkeit, angesichts aktueller menschheitsbedrohender Katastrophenszenarien eine "alternative Metaphysik der Zeitlichkeit" (490) zur Grundlage politischer Entscheidungsprozesse über Präventivmaßnahmen zu machen.

Am Beginn der ersten Sektion ("Pensées de la catastrophe") steht eine begriffsgeschichtliche Einführung von M. O'Dea, der den Bedeutungswandel des ursprünglich aus dem Theater stammenden Begriffs im Französischen nachzeichnet. War die "catastrophe" zunächst auf ein individuelles Schicksal bezogen und bezeichnete dessen plötzliche, entweder glückliche oder unglückliche Wendung, so nahm der Begriff erst seit dem 18. Jahrhundert die heute geläufige Bedeutung eines unheilvollen Ereignisses mit weitreichenden kollektiven Konsequenzen an. In den anderen Aufsätzen dieser Sektion werden zeitgenössische Katastrophen-Diskurse in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaft untersucht. Dass für alle diese Wissensfelder die biblische Erzählung der Sintflut noch lange Zeit von paradigmatischer Bedeutung war, zeigt M. S. Seguin. Die philosophische Auseinandersetzung war indes durch die Abkehr vom theozentrischen Verständnis von Katastrophen gekennzeichnet, was durch eine Serie von Untersuchungen zu einzelnen Autoren abgebildet wird. So erfahren wir, was Diderot (M. Brot), Rousseau (S. Pujol), Sade (C. Thomas) und Montesquieu (C. Volpilhac-Auger) über Katastrophen dachten. Da hier teils rein textimmanente Interpretationen präsentiert werden, sind die Ergebnisse im Einzelnen wenig überraschend. Interessant ist allenfalls, dass sich für Materialisten vom Schlage eines Diderot Katastrophen mit ihren vielen unschuldigen Opfern als ähnlich problematische Phänomene erweisen wie für ihre Theodizee-geplagten Konkurrenten aus der Theologie: Da die Natur als prinzipiell gut und regelhaft gedacht wird, müssen auch Ausnahmephänomene letztlich auf Naturgesetze zurückführbar sein und eine positive Wirkung haben, die sich höchstens im Hinblick auf menschliche Einzelschicksale als katastrophal darstellt (86). Mit der Überwindung des anthropozentrischen Blickwinkels ist schließlich der Weg zur genuin naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Katastrophen frei gemacht, eine Entwicklung, die C. Larrère am Beispiel zeitgenössischer Theoriebildungen zur Erdgeschichte nachzeichnet.

Katastrophen waren aber nicht nur Gegenstand theoretischer Erörterungen, sondern auch Themen der Medienberichterstattung. Obgleich das nicht erst seit dem 18. Jahrhundert der Fall war, zeigt die zweite Sektion ("Information: la naissance du catastrophisme") einen grundlegenden Funktionswandel der periodischen Presse in dieser Zeit. So konstatieren C. Cave in seiner Studie zur Zeitungsberichterstattung und L. Andriès in ihrem Beitrag über Volkskalender die Entstehung eines "Wohltätigkeitsdiskurses". Der Fokus der Berichterstattung verschiebt sich von den Ordnungsinstanzen hin zu den Opfern der Katastrophen, das Modell des heroischen Helfers wird abgelöst durch verschiedenartige Erscheinungsformen von Wohltätigkeit. Damit einher geht eine Tendenz zum Sensationsjournalismus, dessen Mechanismen in den übrigen Beiträgen analysiert werden: mediale Konstruktion der Katastrophe zwischen Verharmlosung und Ausnahmeereignis (D. Reynaud und S. Ben Messaoud über die Presseberichterstattung zur Pest von Marseille 1720), journalistische Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung sowie Rekonstruktionen der Verbreitungswege von Nachrichten (A.-M. Mercier-Faivre über das Erdbeben von Messina 1783 in französischsprachigen Gazetten und A. Saada über das Erdbeben von Lissabon in der deutschsprachigen Presse).

Die Frage nach dem Spannungsverhältnis von (Grenz-) Erfahrung und Repräsentation scheint zumindest implizit der gemeinsame Nenner der Beiträge zur dritten Sektion zu sein ("Le problème du témoignage"). Auf höchst unterschiedlichem Niveau werden dabei lokales Verwaltungsschriftgut, Dichtung, Reiseberichte, Memoiren und medizinische Fachpublikationen daraufhin befragt, wie sie ihren Gegenstand entwerfen. Dabei zeigt sich zum Beispiel in europäischen Reiseberichten aus Istanbul und Kairo, dass die Beschreibung der wiederkehrenden Pestepidemien zu einem Topos von Abgrenzungsdiskursen wurde: Der andersartige Umgang der Türken und Araber mit der (von diesen als solche eben gerade nicht wahrgenommenen) Katastrophe markiert die Alterität des Orients (C. Fernandez-Alamoudi).

Sowohl in den Augenzeugenberichten als auch in der Presse spielt das Problem der Ästhetisierung des Horrors und der geordneten, sinnstiftenden Beschreibung eines an sich chaotischen, sinnlosen Geschehens eine Rolle. Die Nicht-Darstellbarkeit von Katastrophen erweist sich für Literatur und Malerei als zentrale Herausforderung, dies illustrieren die Beiträge der letzten Sektion ("La catastrophe, un sujet pour les arts?"). In ganz praktischer Hinsicht betrifft das Darstellungsproblem auch Theater- und Operninszenierungen, die sich auf der Bühne mit immer spektakuläreren Erdbeben und Vulkanausbrüchen technisch zu überbieten versuchen (C. Ailloud-Nicolas über Naturkatastrophen auf Pariser Theaterbühnen und P. Saby über Exotismus und Naturkatastrophen in französischen Opern).

Für kunsthistorische Laien, zu denen auch die Rezensentin zählt, wird spätestens hier klar, worin das Problem eines Projekts besteht, das seinen breiten interdisziplinären Anspruch durch reine Addition von Spezialstudien einzulösen versucht: Jeder Beitrag ist auf innerfachliche Forschungsdebatten hin zugespitzt, die meisten haben zudem einen sehr beschränkten thematischen Fokus. Der Blick über den Tellerrand wird kaum einmal gewagt, so dass am Ende ein zwar facettenreiches und im Detail informatives, dabei aber vollkommen fragmentiertes Bild der Katastrophe im 18. Jahrhundert entsteht.

Christine Vogel