Rezension über:

Michael Andre Förster: Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II. (= Mainzer Studien zur Neueren Geschichte; Bd. 25), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, 299 S., ISBN 978-3-631-59105-5, EUR 51,50
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Rezension von:
Tobias Becker
Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Becker: Rezension von: Michael Andre Förster: Kulturpolitik im Dienst der Legitimation. Oper, Theater und Volkslied als Mittel der Politik Kaiser Wilhelms II., Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 [15.09.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/09/17785.html


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Michael Andre Förster: Kulturpolitik im Dienst der Legitimation

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Wilhelm II. war zu seinen Lebzeiten für seine freimütigen Urteile bekannt - nicht nur auf dem Gebiet der Politik, sondern auch auf dem der Kunst. Auch machte er keinen Hehl daraus, dass er selbst malte, dichtete und Bühnenbilder entwarf. In der historiographischen Renaissance, die der letzte deutsche Kaiser seit einigen Jahren erlebt, hat dies bislang kaum eine Rolle gespielt. John Roehl geht im zweiten Band seiner monumentalen Wilhelm-Biographie nur kurz auf dessen Verhältnis zu Kunst im Allgemeinen und zu Architektur, Malerei und Plastik im Besonderen ein. Wolfgang König konstatiert in seinem Buch über Wilhelm II. und die Moderne für dessen Denken, eine "Dominanz von Kunst, Architektur, Stadtplanung über die Technik". [1] Umgekehrt erinnert die Theatergeschichte Wilhelm II., der im Naturalismus "Rinnsteinkunst" sah und wegen der "Weber" seine Loge im Deutschen Theater kündigte, primär als Verkörperung jener Kräfte von Tradition und Beharrung, gegen die die Vertreter der kulturellen Moderne anschrieben, anmalten und anspielten.

Die Mainzer Dissertation von Michael Förster plädiert nun dafür, die Theaterleidenschaft Wilhelms II. ernst zu nehmen und als Teil eines breiter angelegten kulturpolitischen Programms zu verstehen. Nach kurzen Exkursen zu Denkmälern und Schule, untersucht Förster dessen Kulturpolitik im Bereich von Oper, Theater und Liederbüchern, wobei er sich vor allem auf Aufführungstexte stützt, wie das Auftragswerk "Der Roland von Berlin". [2] Aufgrund der Analyse dieser Beispiele kommt er zu dem Ergebnis, Wilhelm II. habe "Kunst und Kultur fast ausschließlich als Möglichkeit" betrachtet, "sie in seinen kulturpolitischen Maßnahmen einzusetzen" (253). Nicht um Mäzenatentum in der Tradition Friedrich Wilhelms IV. sei es ihm gegangen, sondern stets um Politik. Letztes Ziel aller kulturpolitischen Maßnahmen Wilhelms II., der, wie Förster behauptet, "in erster Linie dynastisch, aber nicht national dachte" (14), sei aber stets die Legitimation der Dynastie gewesen.

Die Behauptung, Wilhelm II. habe nicht national - geschweige denn nationalistisch - gedacht, kann in einer Studie, die mit Nicolaus Sombart meint, es gelte "dem Kaiser etwas mehr Wohlwollen entgegenzubringen und ihm vielleicht etwas gerechter zu werden" (9) und die sich selbst zum Ziel setzt zu zeigen, dass Wilhelm II. "mehr war als ein verblendeter, chauvinistischer Gewaltmensch" (8) nicht überraschen. So wird die Rehabilitierung Wilhelms II. zum eigentlichen Erkenntnis leitenden Interesse der Studie und die Kulturpolitik zum Ausweis eines integren Charakters, als gelte noch immer 'böse Menschen haben keine Lieder'.

Überzeugender ist Försters These, Wilhelm II. seien nach dem Scheitern der Versuche, ein 'Persönliches Regiment' durchzusetzen, "nur noch die kulturpolitischen Maßnahmen übrig" (60) geblieben. Ähnlich hat allerdings schon John Roehl in seiner Wilhelm-Biographie argumentiert, die Förster jedoch nicht zitiert. Überhaupt ist es ein Manko der Studie, dass diese weitgehend abgelöst von aktuellen Forschungszusammenhängen und -diskussionen argumentiert. Zwar ist sie meist solide durch zeitgenössische Literatur und Archivquellen abgesichert, zentrale Werke der neueren Forschung lässt sie jedoch vermissen. So fehlen unter der Literatur zu Wilhelm II. neben den Biographien von Roehl und Christopher Clark, die Arbeiten von Martin Kohlrausch, Frank Bösch und Wolfgang König ebenso wie unter der Literatur zum Theater diejenigen von Ute Daniel und Martin Baumeister. Problematisch ist auch, dass Urteile Wolfgang Mommsens über Wilhelm II. übernommen werden, ohne die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. [2]

Schon in der Einleitung ist sehr viel mehr von Wilhelm II. als von Kulturpolitik die Rede. Dass zu dieser lediglich ein Artikel aus dem Brockhaus (10) zitiert wird, ist ebenso irritierend wie der Entschluss, statt von Kulturpolitik, einem Begriff, den die Zeitgenossen angeblich nicht verwendet hätten, von "Reklame" (26-31) zu reden. Denn erstens wurde durchaus schon vor dem Ersten Weltkrieg von Kulturpolitik gesprochen, wie beispielsweise von Karl Lamprecht, der bei Öffentlichkeit und Politik fortwährend für eine "auswärtige Kulturpolitik" warb - eine Variante von Kulturpolitik, die im übrigen von Förster nicht angesprochen wird. Und zweitens verwendet nicht nur die vorliegende Studie die Begriffe Kulturpolitik und kulturpolitisch ubiquitär, sie führt auch eine ganze Reihe von Belegen an für die Existenz einer, wie auch immer erratischen und unsystematischen wilhelminischen Kulturpolitik. Der Gedanke, dass Wilhelm II. seinen schwindenden bzw. von vorneherein nur begrenzten politischen Einfluss durch kulturelle Maßnahmen kompensierte und Kultur auf eine - positiv wie negativ - durchaus zukunftsweisende Art und Weise als politisches Instrument einsetzte, wäre der Erörterung Wert gewesen, zumal diese Frage unmittelbar an die aktuelle Forschung zur Geschichte der Kulturpolitik, wie auch zur Debatte um die Modernität des Kaiserreiches anschließt.

Schließlich entwickelt die Studie kaum, wie sich die kaiserliche Kulturpolitik praktisch vollzog. Über das innere Funktionieren der doch mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestatteten Hoftheater oder die zwischen 1896 und 1914 in Wiesbaden abgehaltenen "Kaiserfestspiele", zu denen sogar Enrico Caruso auftrat, erfahren die Leser so gut wie nichts. [3] Eine für den Gegenstand der Arbeit so wichtige Figur wie Georg von Hülsen-Haeseler, Generalintendant der königlichen Schauspiele, wird nur am Rande erwähnt. Dabei zeigt beispielsweise dessen Unterstützung für den von Wilhelm II. abgelehnten Richard Strauß, dass Kulturpolitik keiner militärischen Befehlskette unterworfen war. Doch auf die Auseinandersetzung zwischen Wilhelm II. und den Modernen, wie überhaupt auf die Ausführenden, die Kritiker und die Adressaten seiner Kulturpolitik, geht die Studie kaum ein.

Aufgrund der erwähnten Mängel muss "Kulturpolitik im Dienst der Legitimation" als vertane Chance gewertet werden - anstatt die Frage nach der Modernität des Kaiserreichs um eine neue Facette zu bereichern und die wilhelminische Kulturpolitik erstmals systematisch historisch aufzuarbeiten, perpetuiert die Studie am Ende das Bild des Dilettanten auf dem Thron.


Anmerkungen:

[1] John C. G. Roehl: Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie, 1888-1900, München 2001, 984-1026; Wolfgang König: Wilhelm II. und die Moderne. Der Kaiser und die technisch-industrielle Welt, Paderborn 2007, 137-155; einen sehr gerafften Überblick bietet Martin Stather: Die Kunstpolitik Wilhelms II., Konstanz 1994, empfehlenswert ist Uta Lehnert: Der Kaiser und die Siegesallee. Réclame royale, Berlin 1998; als Einführung brauchbar: Werner Knopp: Kulturpolitik, Kunstförderung und Mäzenatentum im Kaiserreich. Im Spannungsfeld zwischen Staatskonservativismus und bürgerlicher Liberalität, in: Gunter Braun u.a. (Hgg.): Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen, Berlin 1993.

[2] Roehl: Wilhelm II., 989; Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, Berlin 2002.

[3] Stefanie Kleiner: Der Kaiser als Ereignis. Die Wiesbadener Kaiserfestspiele 1896-1914, in: Rudolf Schlögl / Bernhard Giesen / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004, 339-367.

Tobias Becker