Rezension über:

Arne Spohr: "How chances it they travel?". Englische Musiker in Dänemark und Norddeutschland 1579-1630 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; Bd. 45), Wiesbaden: Harrassowitz 2009, 435 S., ISBN 978-3-447-06058-5, EUR 98,00
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Rezension von:
Gesa zur Nieden
Deutsches Historisches Institut, Rom
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Gesa zur Nieden: Rezension von: Arne Spohr: "How chances it they travel?". Englische Musiker in Dänemark und Norddeutschland 1579-1630, Wiesbaden: Harrassowitz 2009, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 [15.01.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/01/17918.html


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Arne Spohr: "How chances it they travel?"

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In der Musikwissenschaft stellt die Beschäftigung mit Transfer- und Austauschprozessen auf der Basis von Migrations- und Mobilitätsgeschichte eine noch neue Forschungstendenz dar. Dies trifft vor allem auf die Erforschung der Bezüge zwischen verschiedenen regionalen Stilen Europas außerhalb der italienischen Halbinsel in der Epoche der Frühen Neuzeit zu. [1] Dabei führt das Augenmerk auf kulturelle Transfers und Austauschprozesse, die auf dem dichten Netz aus Migrations- und Reisewegen europäischer Musiker im 16. und 17. Jahrhundert beruhen, vor allem für den nordeuropäischen Raum zu einer Neusicht auf die Musikgeschichte als Kultur-, aber auch als Kompositionsgeschichte, die über lange Zeit hinweg vornehmlich "national" zum Beispiel durch Gesamtausgaben vermeintlich "landeseigener" Komponisten betrieben wurde.

Die vorliegende Arbeit von Arne Spohr greift beide genannten Punkte auf: Zum einen untersucht sie die kulturellen Kontexte der Begegnungen zwischen Musikern aus England, dem Königreich Dänemark und dem norddeutschen Raum (am Beispiel Hamburg) innerhalb der jeweiligen Instrumentalensembles. Hierbei kommen politische, konfessionelle und ökonomische Aspekte zur Sprache. Zum anderen beleuchtet sie anhand des instrumentalen Repertoires und insbesondere anhand der Gattung der Pavane die vielfältigen Ausprägungen musikalisch-kompositorischer Transfers in Dänemark und Norddeutschland um 1600.

Methodisch stützt sich der Autor sowohl auf das Konzept des Kulturtransfers mit einem Schwerpunkt auf seinen rezeptionsgeschichtlichen Ursprüngen, wobei das musikalische Werk als Text betrachtet wird (273), als auch auf den Ansatz des mehr objektbezogenen kulturellen Austausches von Peter Burke. Aus dieser Kombination leitet Arne Spohr eine Vorgehensweise ab, die sich von biographischen Untersuchungen der Migrationsmotive englischer Musiker zwischen dem Königreich Dänemark und Norddeutschland über institutionelle Voraussetzungen kultureller Transfers in den zwei untersuchten Regionen bis zu Adaptations- und Wandlungsprozessen des musikalischen Repertoires in Norddeutschland durch den englischen und dänischen Einfluss erstreckt. Alle Punkte werden im Rahmen von biographischen und institutionellen Fallstudien umgesetzt, wodurch das sich eigentlich auf die Zeit der Nationalstaaten beziehende Konzept des Kulturtransfers an die eher netzwerkdominierte Zeit des ausgehenden 16. und angehenden 17. Jahrhunderts angepasst wird - auch wenn dies methodologisch vom Autor selbst nicht reflektiert wird.

Indem Arne Spohr die Karriere der Komponisten und Musiker John Dowland und William Brade zwischen England, Dänemark und Hamburg nachvollzieht, gelingt es ihm, ein komplexes Geflecht "internationaler" Präsenzen als Basis des anglo-dänischen und dänisch-norddeutschen musikalischen Schaffens aufzudecken. Für diese Dreiecksbeziehung spielte vor allem die dänische Hofkapelle eine herausragende Rolle, bei der seit 1579 mehrere englische Musiker angestellt waren, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht selten auch in Hamburg wirkten oder dorthin gingen, um ihre Werke zu publizieren. Die Achse zwischen dem dänischen Hof und Hamburg sowie der starke Austausch zwischen Musikern englischer und kontinentaler Herkunft überhaupt wurde zudem durch Paradigmen wie der symbolischen Repräsentation auf politischer Ebene sehr gefördert, wie Spohr anhand von Gesandtschaften und der Erbhuldigung des dänischen Königs Christian IV. 1603 in Hamburg nachweisen kann. Aus den biographischen und den institutionellen Fallstudien geht hervor, dass ein musikpraktischer Austausch vor allem auf dem Gebiet der Instrumentalmusik, und hierbei insbesondere im Bereich der Gattungen Pavane und Galliarde, erfolgte, nicht zuletzt, da die englischen Musiker bekannt für ihre Professionalität im Bereich der Streichinstrumente und insbesondere der Gambe waren.

In einem letzten Teil unter dem Titel "Gattungsgeschichte als Rezeptionsgeschichte" nimmt Spohr dieses Ergebnis zum Anlass, Pavanen aus dem englischen, dänischen und norddeutschen Raum vergleichend einander gegenüberzustellen. Dabei bezieht er sich auf die Gattungsgeschichte der Pavane in England, zwei Handschriften aus dem deutschen Raum und das Hamburger Ensemblerepertoire, das in zwei Anthologien von 1607 und 1609 überliefert ist. Anhand von aus verschiedenen Schlüsselungen hervorgehenden Besetzungen, typisch englischen Kadenzformeln und polyphoner bzw. harmonisierender Anlage analysiert der Autor die überlieferten Pavanen, zu denen Stücke von Brade und Dowland, aber auch von kontinentalen, vom englischen Repertoire beeinflussten Musikern wie Melchior Borchgrewinck, Benedix Greebe und Matthias Mercker gehören. Aus der Analyse geht das kompositorische Innovationspotential hervor, das eine Auseinandersetzung mit Repertoires aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten um 1600 für Musiker verschiedener Herkunft barg. Spohr beleuchtet dabei nicht nur die besetzungstechnischen Neuerungen, die auf typisch englischen Ensembleformen wie des mixed consorts beruhten, sondern lässt auch italienische Einflüsse, welche dieselben Musiker von ihren Aufenthalten in Venedig mitbrachten, nicht außen vor. Anhand einer abschließenden Analyse der Pavanen von Johann Schop aus dem Jahr 1633 kann Spohr zeigen, dass das Interesse für die englische Kompositionsweise seitens der kontinentalen Musiker bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein währte.

Die Arbeit von Arne Spohr zeichnet sich durch sorgfältig recherchierte und differenziert beschriebene Fallstudien aus, bei denen der Autor die einschlägigen Publikationen zum Thema von Werner Braun, Peter Holman und Mara Wade durch eigene Archiv-Recherchen und durch den interdisziplinären Einbezug kunst- und kulturgeschichtlicher Studien ergänzt (vgl. zum Beispiel den Hinweis auf den Manierismus oder Kunstsammlungen). Dabei gelingt es dem Autor, einen Einblick in die vielschichtigen Wirkungsorte und -kreise englischer, dänischer und norddeutscher Musiker im nordeuropäischen Raum zu geben. Nicht gänzlich überzeugend ist die Tatsache, dass die verschiedenen biographischen, institutionellen und musikanalytischen Studien lediglich durch die allgemeine Konzentration auf die in Dänemark und Hamburg beliebte englische Instrumentalmusik verbunden werden. Der auf kulturgeschichtlicher Ebene vorherrschende Detailreichtum jedes Kapitels, bei dem der Einbezug auch außerhöfischer musikalischer Praktiken wie zum Beispiel der englischen Schauspieltruppen hervorzuheben ist, verdeckt oftmals die Bezüge zwischen den Motiven der Migration, der politischen Rezeptionskonjunkturen und des daraus resultierenden kompositorischen Wandels des Repertoires. Diese wären jedoch gerade in Hinsicht auf eine Neubewertung der Herkunft der einzelnen Musiker als Parameter für musikalische Analysen kompositionsgeschichtlicher Transfers interessant gewesen, denn vor dem Hintergrund der mannigfaltigen Austauschprozesse zwischen migrierenden und reisenden Musikern erscheint die Bedeutung des Faktors Herkunft deutlich relativiert. Trotz ihrer mosaikhaften, oftmals sehr beschreibenden Form stellt Arne Spohrs Studie jedoch einen höchst relevanten Vorstoß in die nordeuropäische Musikgeschichte der Frühen Neuzeit dar, der das Potential des Ansatzes des Kulturtransfers und des kulturellen Austausches auch für die Musikwissenschaft offenlegt.


Anmerkung:

[1] Die Aktualität des Themas und die erst beginnende Präsenz kulturgeschichtlicher Konzepte wie Kulturtransfer, kultureller Austausch und histoire croisée in der musikwissenschaftlichen Forschung zeigte sich bei der diesjährigen Jahrestagung "Mobilität und musikalischer Wandel: Musik und Musikforschung im internationalen Kontext" der Gesellschaft für Musikforschung vom 2.-6. November in Rom.

Gesa zur Nieden